05. Juni 2019 Anna-Lina Bentrup
Ich bin mittlerweile 15 Monate lang die Mutter eines Kindes. Schon während der Schwangerschaft wurde ich wiederholt mit der Frage konfrontiert, „was es denn wird“. Eine Ultraschalluntersuchung sollte die Gewissheit geben.
„Möchten Sie wissen, was es wird?“
Mir war es egal, also konnte ich es auch erfahren.
„Sie bekommen einen Jungen.“
Und schon am selben Tag ist das Kind in meinem Bauch zu etwas gemacht worden, was es noch gar nicht sein konnte. Seit diesem Moment war es ein Er, was zunächst bedeutet, dass es auf keinen Fall mehr eine Sie sein kann.
Das fremdbestimmte Geschlecht
Mit der Geburt und der Sichtbarkeit der primären Geschlechtsorgane meines Kindes war unumkehrbar festgelegt, dass dieses Baby männlich ist. Als ich seine Männlichkeit beim Standesamt beurkunden musste, überkam mich ein Gefühl wie Ekel. Wie kann ich das Recht haben zu entscheiden, wer dieses Kind ist, bevor es selber darüber entscheiden kann? Wie kann er herausfinden, wer er ist, wenn das gesellschaftlich konstruierte Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit schon fest vorgefertigt darauf wartet, von ihm erfüllt zu werden? Was ist, wenn er sich dem ihm zugeschriebenen Geschlecht und den damit einhergehenden Zuschreibungen nicht zugehörig fühlen wird?
Die von mir präsentierte Utopie behandelt eine Gesellschaftsordnung, die das Verständnis von Geschlecht zu reformieren versucht. Ein Mittel dazu soll es sein, dass der Mensch (zu einem angebrachten Zeitpunkt) selber entscheiden kann, welches Geschlecht in den Ausweis eingetragen werden soll und nicht die Eltern. Kinder hätten somit erstmal kein Geschlecht. Sie sollen die Möglichkeit bekommen, sich frei zu fühlen und zu lernen, wer sie sein wollen. Inter- und transgeschlechtliche Personen sollen sein können ohne „anders“ oder „divers“ genannt zu werden. Eine Vielfalt von Geschlechtern soll möglich sein.
Ungleich schon im Kindesalter
Diese Utopie sucht den Ansatz im Kindesalter, da ich die Ungleichbehandlung im Kindesalter als die Wurzel der Ungleichheit im Erwachsenenalter verstehe. So werden Jungen beispielsweise im Verhältnis zu Mädchen zu weniger Zurückhaltung erzogen, was sich dann im Erwachsenenalter auswirkt.
„Ein großer Teil der [...] Gehirnentwicklung bei Kindern besteht [...] darin, die für ihre Lebenswelt nicht relevanten Synapsen abzubauen und die benötigten Bahnen zwischen Neuronen zu intensivieren. So bestimmt letztlich die Umwelt – das in ihr Erfahrene, Gelernte, Erlebte, Aufgenommene – zu einem großen Teil die Struktur des Gehirns.“ (Textor 2011: 18)
Die im Kindesalter erlernten und durch reproduzierte soziale Konstruktionen entwickelten Stereotypisierungen verfestigen sich.
Gender und Sex sind sozial konstruiert
Vermutlich lautet in unserer Gesellschaft die gängigste Vorstellung von Geschlecht, dass körperliche Merkmale, vor allem die Geschlechtsorgane, entscheiden, ob ein Mensch Frau oder Mann ist. Die binäre Ordnung unserer Gesellschaft wird dadurch reproduziert. Jenes Wissen wird zudem weiterhin im Biologie Unterricht vermittelt. Den ersten Versuchen, Bildung für Toleranz und Akzeptanz von sexueller Vielfalt in den baden-württembergischen Lehrplan von 2014 aufzunehmen, wurde mit großem Protest begegnet. Leitsatz der Bildungsplanreform sollte es sein, sexuelle Vielfalt als Querschnittsthema des Curriculums zu betrachten, um Kindern und Jugendlichen Raum für eine freie Identitätsentwicklung zu ermöglichen. Die Bildungsplanreform ist von Kritiker_innen als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung verstanden worden. Die Neugestaltung ist deswegen in der ursprünglich angesetzten Form nicht realisiert worden (vgl. Ketelhut 2018).
„Geschlecht [muss] insgesamt als gesellschaftliches Phänomen begriffen werden“, so Andrea Maihofer (1995: 79). Das bedeutet, dass auch das, was als biologisches Geschlecht oder ‚sex' verstanden wird, gesellschaftlicher Konstruktion unterliegt. Nicht nur das soziale Geschlecht (‚gender‘), ist konstruiert.
Vorurteile zu kommunizieren ist erlaubt
Der zu Beginn geschilderte Moment, in dem ich Außenstehenden auf Nachfrage erzählte, dass mein ungeborenes Kind ein Junge wird, hat häufig Reaktionen hervorgerufen, die sich durch Stereotypisierungen erklären lassen. Zuckte er bei Ultraschalluntersuchungen mit seinem Bein, nannte ihn das medizinische Personal einen zukünftigen Fußballstar. Dass er in dem Moment Ballett tanzte oder etwas anderes tat, was für Mädchen als typisch gilt, war nie die Option. Reaktionen wie diese sind in unserer Gesellschaft verbreitet. Es ist sogar akzeptiert, solche Vorurteile zu kommunizieren. Sogenannte Baby X-Experimente erforschen den Umgang Erwachsener mit Babys. Dazu werden Babys beispielsweise konträr ihres Geschlechts gekleidet (Jungen tragen Kleider oder Rosa und Mädchen werden in Blau eingekleidet). Dann sollen Erwachsene mit ihnen spielen. Ergebnis ist, dass sich die Erwachsenen durch ihre visuell vermittelten Vorurteile leiten lassen und dem vermeintlichen Jungen häufiger ein Auto und Mädchen häufiger eine Puppe zum Spielen anbieten (Sidorowicz & Lunney 1980 67ff.; auch: Quarks 2018 ). Das Geschlecht wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, ohne dass das Kind bis zu dem Zeitpunkt etwas dazu beitragen konnte.
Gender Marketing von Beginn an
„Wie schade, für Mädchen gibt es so viel süßere Kleidung“, war ebenfalls eine der ersten Reaktionen. Mädchen und Jungs tragen vermeintlich Kleidung, die sich so sehr voneinander unterscheidet, dass sie nur für ein Geschlecht geeignet scheint. Diese Erfahrung begegnet einem spätestens bei dem Versuch, Kinderkleidung zu kaufen, die weder blau und mit Baggern bedruckt noch rosa und mit Blumen geziert ist. Ähnliche Beobachtungen lassen sich beim Kauf von Spielsachen machen. Mädchen- und Jungenspielzeug ist durch Gender-Marketing stark spezifiziert und erscheint daher auch nur für ein Geschlecht tauglich. Motiv des Gender Marketings scheint es, Gegenstände und Kleidung so stark zu spezifizieren, dass sie auf ein Geschlecht zugeschnitten sind. Dieser Vorgehensweise könnte man im Hinblick auf die kapitalistische Marktwirtschaft, in der wir leben, die Absicht vorwerfen, dass die starke Spezifikation dazu dient, mehr zu verkaufen. So werden beispielsweise für Geschwister Dinge nur wiederverwertbar, wenn sie das gleiche Geschlecht haben. Gender-Marketing suggeriert die Notwendigkeit bestimmter Kleidungsstücke und Spielsachen für Mädchen und Jungs. So scheint jedes Mädchen eine Puppe und jeder Junge ein Feuerwehrauto besitzen zu müssen. Der Twitter Hashtag #RosaHellbauFalle sammelt diesbezüglich besonders auffällig vermarktete Produkte.
Wie Vorurteilen entgegengewirkt werden kann
Der Ansatz des Gender Creative Parentings möchte Kinder vor gesellschaftlichen Vorurteilen bewahren, um ihnen den maximalen Freiraum der persönlichen Entfaltung – auf ihre geschlechtliche Identität bezogen – einzuräumen. Die Idee ist, niemandem das Geschlecht des Kindes mitzuteilen, um dadurch die Schubladen, in die es ab diesem Moment gesteckt würde, geschlossen zu halten. Gender Creative erzogene Kinder sollen fernab der binären Geschlechterordnung aufwachsen können. Sie sollen die Möglichkeit haben, mit jedem Spielzeug zu spielen und jede Kleidung zu tragen. Eine Möglichkeit ist dann, dass sich das Kind, wenn es soweit ist, für ein Geschlecht entscheiden kann. Die Tücke dieses Ansatzes liegt darin, dass Geschlecht in unserer Gesellschaft die Eigenschaft eines leitenden Vorzeichens für ihre Mitglieder hat. Es ist vorerst nicht absehbar, ob die Vorurteile für „geschlechtslose“ Kinder nicht ebenfalls einschneidende Folgen haben können.
Eine Kluft, die geschlossen werden kann
Die von mir vorgestellte utopische Gesellschaft hat das Ziel, das Verständnis von Geschlecht, wie es heute noch gilt, umzubilden. Das soll nicht bedeuten, dass es keine Geschlechter mehr geben soll. Es wäre aber befreiend, wenn die bloße Existenz der Geschlechtsorgane keine Rückschlüsse auf die Person und seine Identität mehr zuließe. Zudem ist es wichtig, anzuerkennen, dass mehr als zwei Geschlechter existieren. Schweden hat zum Beispiel im Jahr 2015 das geschlechtsneutrale Personalpronomen hen in das Wörterbuch der Schwedischen Akademie aufgenommen. Der Begriff wurde aus den Begriffen hon für sie und han für er entwickelt. Hen soll Menschen, die sich weder weiblich noch männlich zuordnen können oder wollen, die Möglichkeit geben, sich zu beschreiben. Autor_innen nutzen hen ebenfalls, um möglichst vielen Kindern Identifikationspotential mit ihren Geschichten zu bieten.
Die Möglichkeit, schon als Kind empfinden zu können, wie man sich wirklich fühlt und nicht, wie man sich fühlen soll, weil man als Mädchen/Junge bezeichnet wird, würde den Nuancenreichtum der geschlechtlichen Sichtweisen erweitern. Die Kluft zwischen normativen Verhaltensauflagen der Makroebene und den subjektiven Empfindungen der Mikroebene könnte damit geschlossen werden.
Literatur
Ketelhut, Klemens (2018). „Bildungsplan und Gender-Wahn“? Die Debatte um den Bildungsplan in Baden-Württemberg und ihre Folgen. www.gwi- boell.de/de/2018/02/23/bildungsplan-und-gender-wahn-die-debatte-um-den-bildungs-plan-baden-wuerttemberg-und-ihre. Zuletzt abgerufen am: 23.03.2019.
Maihofer, Andrea (1995). Geschlecht als Existenzweise: Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz. Frankfurt am Main: Helmer Verlag.
Quarks (2018). Das Baby X-Experiment. www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTE1YmE3MWNjLTVjNTEtNDY1MS1iNTY3LTZhOWZlYTExMzM4MA/. Zuletzt abgerufen am: 08.05.2019.
Sidorowicz, Laura S. & Lunney, G. Sparks (1980). Baby X Revisited. Sex Roles, 6(1), 67–73. https://doi.org/10.1007/BF00288362
Textor, Martin R. (2011). Bildung im Kindergarten: Zur Förderung kognitiver Kompetenzen. Norderstedt: Books on Demand.
Zitation: Anna-Lina Bentrup: Geboren ohne Geschlecht?, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 05.06.2019, www.gender-blog.de/beitrag/utopien-geboren-ohne-geschlecht/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20190605
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Kommentare
Mareike Müller | 06.06.2019
Ich bin ebenfalls der festen Überzeugung, dass so wie die Umwelt das Baby/Kind als ein bestimmtes Geschlecht behandelt, es das Geschlecht auch entsprechend „anerzogen“ bekommt und es tatsächlich auch Auswirkungen auf das spätere Verhalten hat. Es fängt schon damit an, dass Mädchen abends häufig früher zu Hause sein müssen; kein Bobby Car sondern eine Baby Born geschenkt bekommen oder der Vater dem Sohn zeigt, wie man die Reifen wechselt und die Mutter der Tochter das Backen beibringt - mit jedem Mal wird das Kind ein Stückchen mehr seines/ihres Geschlechtes entsprechend erzogen (bzw. dem vorherrschenden Rollenverständnis davon).
Das Argument ist ja häufig, dass die Geschlechterbinarität Komplexität reduzieren und Sicherheiten aufbauen soll. Wenn man weiß, was man ist, dann kann man in vielen Bereichen seines Lebens schneller Entscheidungen treffen und weiß wo man sich und andere platziert. Doch genau diese vermeintlichen Sicherheiten führen auch wieder zu Unsicherheiten. Ich gehe als Frau beim Schuhkauf manchmal z.B. auch in die Männerabteilung. Der Grund? Versucht als Frau mal Sport- oder Wanderschuhe zu finden, die keinen pink-, rosa- oder lilafarbenen Streifen haben. Bin ich, weil ich diese Farben absolut nicht leiden kann, deshalb keine „normale“ Frau? Besonders wohl fühle ich mich auf jeden Fall nicht, wenn ich stundenlang nach Größe 40 in der Männerabteilung stöbere.
Allerdings muss man auch sagen, dass in unserer Gesellschaft in einigen Aspekten schon auch ein gewisser Wandel zu erkennen ist. In der Generation meiner Großeltern war es beispielsweise noch undenkbar als Frau Hosen zu tragen, selbst beim Ski-Fahren trugen die Frauen Röcke. Und insbesondere bei Sneakern stößt man heutzutage vermehrt auf die schöne Beschreibung „unisex“.
Doch in der mit am wichtigsten und prägendsten Phase unseres Lebens ist keinerlei Wandel zu erkennen. Wenn man sich mal den Spaß macht auf MyToys die Spielzeuge nach dem Geschlecht zu filtern, erkennt man das traditionelle Rollenbild. Bei Mädchen werden als erstes Küchen, Kaufläden, Puppen und Bastelsachen vorgeschlagen. Bei Jungs hingegen Actionfiguren, Werkbänke sowie Spielzeuge zum Bauen und Konstruieren.
Und da wundert man sich, dass es nach wie vor weniger Frauen gibt, die sich für die MINT-Fächer interessieren und Männer unter dem Druck stehen, dass sie aufgrund ihres Geschlechtes handwerklich begabt sein müssten…