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Themenwochen , Utopien

Reagenzglaskinder für die Gleichberechtigung?

07. Juni 2019 Mareike Müller

Überall ist es zu lesen: Unsere Gesellschaft will eine gleichberechtigte Teilhabe am Berufsleben von Mann und Frau sowie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Kita-Ausbau wird vorangetrieben, staatliche Familienleistungen werden erhöht und Geschlechterquoten eingeführt (BMFSFJ 2017a). Auch die Unternehmen versuchen ihre Arbeitgeber-Attraktivität zu erhöhen und werben mit betriebseigenen Kindergärten, flexiblen Arbeitszeiten und der ausdrücklichen Ansprache von Frauen für die MINT-Berufe. Doch trotz der scheinbar gegebenen Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Teilhabe zeigen die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes nach wie vor Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern.

Elternzeit → Teilzeitstelle → [Karriere]

Frauen sind zwar zunehmend erwerbstätig, besetzen allerdings überwiegend Teilzeitstellen (BA 2018: 9). Besonders häufig sind es Frauen mit Kindern, im Jahr 2017 waren 69 % der erwerbstätigen Mütter und 6 % der erwerbstätigen Väter in Teilzeit beschäftigt (StBA 2018). Als Hauptgrund gaben die Frauen familiäre Pflichten an (WSI 2018). Überdies zeigen die Erhebungen aus dem gleichen Jahr, dass Frauen insgesamt 46,5 % aller Erwerbstätigen ausmachen, ihr Anteil an Führungspositionen jedoch nur bei 29,2 % liegt (StBA 2017). Dass die im Mai 2015 eingeführte „Frauenquote“ nur einen geringen Effekt erzielt hat, ist aufgrund des definierten Wirkungskreises wenig verwunderlich. Zum einen bezieht sich die Quote auf beide Geschlechter: So heißt es auf der Seite des BMFSFJ, die feste Quote bestehe für „das jeweils unterrepräsentierte Geschlecht“ (BMFSFJ 2017b). In Unternehmen in denen Frauen überrepräsentiert sind, sollen folglich Männer bei der Neubesetzung eines Aufsichtsratspostens bevorzugt eingestellt werden. Zum anderen gilt die verpflichtende Quote von 30 % lediglich für mitbestimmungspflichtige und börsennotierte Unternehmen – das trifft in Deutschland auf gerade einmal rund 100 Unternehmen zu. Großunternehmen dürfen sich ihre Quote selbst festlegen. Da jedoch die Mehrheit der erwerbstätigen Personen in kleinen bis mittelständischen Unternehmen tätig ist, betrifft die Quote nur einen vergleichsweise kleinen Teil unserer Gesellschaft. Die allerdings deutlich stärkere Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass Frauen hauptsächlich in Teilzeit tätig sind und aufgrund der geringeren Stundenanzahl bei Beförderungen seltener berücksichtigt werden.

Das biologische Geschlecht lässt sich nicht wegzaubern

An dieser Stelle offenbart sich das eigentliche Problem, welches sich im Zusammenspiel aus Geschlecht, Arbeit und Familie ergibt. Eine der Hauptursachen für das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt scheint in der Familienplanung und der anschließenden Betreuung zu liegen. Denn das gegebene Geschlecht sorgt dafür, dass viele Frauen in ihren Dreißigern dem Ticken der biologischen Uhr nachgehen (Statista 2017a), eine Familie gründen und für mindestens zwei Monate bis hin zu mehreren Jahren aus dem Beruf aussetzen. Ein Unternehmen geht bei der Einstellung einer Frau somit ein grundsätzlich höheres Risiko für einen Personalausfall ein, als mit einem Mann. Artikel mit den Titeln „Job-Absage wegen nicht abgeschlossener Familienplanung“  oder „Mit 30 zu schwanger“ zeigen, dass Geschlecht und Alter durchaus relevante Faktoren bei der Personalauswahl sind – auch wenn darüber natürlich nicht offen gesprochen wird.

In-vitro-Schwangerschaften als Problemlöser

Stellen wir uns nun eine Welt vor, in der es diesen Unterschied nicht mehr gäbe. Eine Welt, in der unsere biologischen Geschlechter zwar nach wie vor vorhanden sind, die Gebärfähigkeit jedoch nicht mehr an den weiblichen Körper gebunden wäre. Entscheidet sich in dieser Welt ein Paar oder eine einzelne Person dazu, ein Kind großzuziehen, dann findet die Befruchtung und die embryonale/fetale Entwicklungsphase von neun Monaten bis hin zu einem lebensfähigen Baby nicht mehr „in utero“, sondern „in vitro“, also außerhalb des weiblichen Körpers statt. Um das Baby dennoch auf die zukünftigen Eltern zu prägen, können diese die Entwicklung jederzeit in den Laboren miterleben und mit dem Fötus kommunizieren. Wenn die Eltern nicht vor Ort sind, werden dem Fötus Sprachaufzeichnungen der Stimmen sowie ausgewählte Musikstücke und Sprachtrainings vorgespielt, um die sprachlichen und kreativen Fähigkeiten frühzeitig zu fördern. Durch die Abschirmung in den Laboren wird der Fötus außerdem vor unnötigem Lärm, Stresshormonen, Viren und einer fehlerhaften Ernährung durch die Mutter geschützt. Frauen jeder Berufsgruppe könnten somit während des Heranreifens ihres Kindes weiterhin in Vollzeit arbeiten und müssten auch ihre Ernährungs- und Lebensgewohnheiten nicht anpassen.

Generalverdacht adé

Frauen könnten sich unabhängig von den Gegebenheiten ihres Körpers oder ihres Gesundheitszustandes ihren Kinderwunsch erfüllen. Auch der Druck der biologischen Uhr würde genommen, Frauen könnten sich nach Abschluss ihres Ausbildungsweges somit zunächst in Ruhe beruflich verwirklichen und finanziell absichern, bevor sie sich dazu entscheiden, Mutter zu werden. Gleichzeitig würden sie in Bewerbungsprozessen nicht mehr unter den Generalverdacht einer baldigen Schwangerschaft gestellt und würden bei Beförderungen und Karriereplanungen genauso berücksichtigt werden, wie ihre männlichen Mitstreiter. Dadurch, dass die Schwangerschaft nun unabhängig vom weiblichen Körper stattfindet, fallen auch die damit zusammenhängenden Attribute und die an die Frau gestellten Erwartungen hinsichtlich der Kinderbetreuung weg. Männer und Frauen befinden sich bei einer In-vitro-Schwangerschaft somit in der gleichen Ausgangsposition und werden von der Gesellschaft zu gleichen Teilen sowohl als zuständig für die finanzielle Versorgung der Familie, als auch für die Sorgearbeit wie die Kinderbetreuung und Hausarbeit angesehen.

Geteilte Erwerbs- und Sorgearbeit

In der utopischen Welt arbeiten die Elternpaare beide in Teilzeit. Mithilfe flexibler Arbeitszeitmodelle können die Paare in Abstimmung mit den Kolleg_innen ihre Arbeitszeiten beispielsweise so legen, dass eine_r morgens und ein_e andere_r nachmittags arbeiten geht. Dadurch würde das Kind ganztägig von einem Elternteil betreut. In der utopischen Welt gibt es jedoch kein ideales Leitbild. Entscheidet sich ein Paar also lieber dazu, ihr Kind frühzeitig in eine Betreuung zu geben, sodass sie beide gleichzeitig arbeiten können und sich anschließend gemeinsam um das Kind und den Haushalt kümmern, so wird dieses Modell von der Gesellschaft gleichermaßen anerkannt und akzeptiert. Mit diesem Arbeits- und Sorgekonzept würde sichergestellt, dass beide Partner weiterhin für ihren eigenen Lebensunterhalt zuständig sind und für ihr Alter vorsorgen. Denn auch wenn die Wunschvorstellung einer lebenslangen glücklichen Ehe noch in vielen Köpfen vorherrscht, wird in Deutschland durchschnittlich jede dritte Ehe wieder geschieden (Statista 2017b). Wir müssen der Realität ins Auge blicken, dass jede Partnerschaft aus zwei Individuen besteht, deren Veranlagung und Sozialisation grundverschieden sind. Im Grunde ist eine Partnerschaft ein Langzeitexperiment, dessen Ausgang insbesondere auch aufgrund weiterer Persönlichkeitsentwicklungen grundsätzlich ungewiss ist. Durch die geteilte Verantwortung, sowohl für das Finanzielle als auch für die Kindererziehung, würde die Unabhängigkeit und somit auch die Individualität beider Partner gewahrt bleiben.

Was wollen wir wirklich?

Die Utopie zeigt, dass mithilfe von In-vitro-Schwangerschaften und dem damit verbundenen Abbau von Geschlechterzuschreibungen und Unterstellungen ein entscheidender Schritt in Richtung gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben gemacht werden könnte. Aber ist es das, was wir wirklich wollen? Entstanden ist dieser utopische Gedanke vor dem Hintergrund, dass in den aktuellen Debatten um Gleichberechtigung häufig die Erwerbsarbeit im Fokus steht und eine höhere Wertigkeit erfährt als die Sorgearbeit. Vieles scheint sich nur darum zu drehen, dass Frauen gleichberechtigt am Erwerbsleben teilnehmen können und die gleichen Karrierechancen wie Männer haben. Die Schwangerschaft einer Frau sowie die anschließende Kinderbetreuung sind somit eher ein Störfaktor für unsere Gesellschaft.

Aber sollten wir der Erzeugung und Betreuung unserer Nachkommen nicht mindestens die gleiche Wertigkeit zuschreiben wie der Erwerbsarbeit? Zusätzlich sollten wir akzeptieren, dass unsere Gesellschaft immer divers bleiben wird. Während sich die einen in der Erwerbsarbeit selbst verwirklichen, tun es die anderen in der Kindererziehung oder auch durch Einsätze für das Allgemeinwohl. Wir müssen dafür sorgen, dass geschlechterbezogene Vorurteile abgebaut werden gegenüber jenen, die sich in ihrem jeweils unterrepräsentierten Bereich verwirklichen wollen, und dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen bereitstellen. Nur so können wir dazu beitragen, dass sich die etablierten Rollenzuschreibungen endlich auflösen und alle die Möglichkeit haben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten – auch dann, wenn sie damit (nicht) dem traditionellen Rollenverständnis entsprechen.

Literatur

BMFSFJ (2017a). Gesetzliche Änderungen. Das ändert sich 2018. URL: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/das-aendert-sich-2018/120510 (zul. abg. 01.03.2019).

BMFSFJ (2017b). Frauen und Arbeitswelt. Quote für mehr Frauen in Führungspositionen: Privatwirtschaft. URL: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-und-arbeitswelt/quote-privatwitschaft/quote-fuer-mehr-frauen-in-fuehrungspositionen--privatwirtschaft/78562 (zul. abg. 16.05.2019).

Bundesagentur für Arbeit (BA) (2018). Die Arbeitsmarktsituation von Frauen und Männern 2017. URL: https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generische-Publikationen/Frauen-Maenner-Arbeitsmarkt.pdf (zul. abg. 20.05.2019).

Die Presse (2013). Job-Absage wegen nicht „abgeschlossener Familienplanung“. URL: https://diepresse.com/home/karriere/karrierenews/1377342/JobAbsage-wegen-nicht-abgeschlossener-Familienplanungxd (zul. abg. 04.04.2019).

Statista (2017a). Anzahl der Geburten nach dem Alter der Mutter in Deutschland im Jahr 2017. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/161856/umfrage/geburten-nach-dem-alter-der-mutter-in-deutschland/ (zul. abg. 04.04.2019).

Statista (2017b). Statistiken zum Thema Scheidung. URL: https://de.statista.com/themen/134/scheidung/ (zul. abg. 10.03.2019).

Statistisches Bundesamt (2017). Pressemitteilung Nr. 362 vom 24.09.2018: 2017: 29 % der Führungskräfte in Deutschland waren Frauen. URL: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2018/09/PD18_362_122.html (zul. abg. 10.03.2019).

Statistisches Bundesamt (2018). Pressemitteilung Nr. 345 vom 14.09.2018: 69 % der Mütter und 6 % der Väter sind in Teilzeit tätig. URL: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2018/09/PD18_345_12211.html (zul. abg. 20.05.2019).

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) (2018). Gründe für Teilzeittätigkeit nach Elternschaft 2017. URL: https://www.boeckler.de/51973.htm# (zul. abg. 10.03.2019).

Wöhrmann, Silke (2018). Mit 20 zu jung, mit 30 zu schwanger, mit 40 zu teuer, mit 50 zu alt – Personaler müssen endlich umdenken! URL: https://editionf.com/Mit-20-zu-jung-mit-30-zu-schwanger-mit-40-zu-teuer-mit-50-zu-alt-Die-Qualen-der-Personalentscheider (zul. abg. 04.04.2019).

Zitation: Mareike Müller: Reagenzglaskinder für die Gleichberechtigung?, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 07.06.2019, www.gender-blog.de/beitrag/utopien-reagenzglaskinder-gleichberechtigung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20190607

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Mareike Müller

Mareike Müller studiert an der Universität Bielefeld. Im Rahmen des Seminars "Geschlecht. Arbeit. Herrschaft" von Prof.in Diana Lengersdorf hat sie sich mit anderen Kommiliton_innen im Wintersemester 2018/2019 intensiv mit der Frage von Utopie aus arbeitssoziologischer, geschlechtertheoretischer und herrschaftskritischer Perspektive auseinandergesetzt.

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