15. November 2024 Gesine Born Julia Wustmann
Die Ausstellung Versäumte Bilder – Frauen in der Wissenschaft sichtbar machen, die Gesine Born in Zusammenarbeit mit der Schader Stiftung entwickelt hat, rückt vergessene Wissenschaftlerinnen ins Rampenlicht, deren bahnbrechende Beiträge oft im Schatten ihrer männlichen Kollegen blieben. Mithilfe von fotorealistischen, durch Künstliche Intelligenz generierten Porträts beleuchtet sie die Geschichten von siebzehn Wissenschaftlerinnen und gibt ihnen damit eine Form der Anerkennung, die ihnen zu Lebzeiten oft verwehrt blieb. Die KI-generierten Bilder holen die fehlende visuelle Würdigung nach und machen zugleich auf die weiterhin bestehende Geschlechterdiskrepanz in der Wissenschaft aufmerksam. Das Projekt reflektiert somit nicht nur historische Ungerechtigkeiten, sondern steht auch im aktuellen Diskurs um Geschlechtergerechtigkeit. Im Interview mit Julia Wustmann gibt Gesine Born Einblicke in die Entstehung und Hintergründe der Ausstellung.
Was war der Anstoß für das Projekt Versäumte Bilder?
Der Anstoß für das Projekt war eigentlich ganz klar: Ich habe diese Ahnengalerien des Wissens gesehen – die Schwarz-Weiß-Porträts von Männern, die in den Fluren der wissenschaftlichen Institute hängen. Mir wurde bewusst, dass die Frauen in diesen Galerien fehlen. Dieses Bewusstsein hat mich dann zu der Frage gebracht: Wie kann man das aufbrechen? Wie kann man diese Ahnengalerien sinnvoll ergänzen? Ich habe mir ein Fotokonzept überlegt, bei dem die Frauen im gleichen Stil wie die Männer fotografiert werden sollten – mit hartem Licht, starken Posen, verschränkten Armen und nicht unbedingt lächelnd. Es sollten starke, selbstbewusste Porträts entstehen, die dann in die Reihen der bestehenden Porträts eingefügt werden könnten.
Später habe ich dann ein Stipendium vom Kiel Science Communication Network (SCN) erhalten. Dieses Stipendium ermöglichte es mir, ein halbes Jahr lang visuelle Möglichkeiten zu erforschen, um Frauen sichtbar zu machen. Im Zuge des Fellowships kam dann auch die Frage auf, ob KI für das Projekt geeignet wäre. Das erste Bild, das ich mit KI erstellt habe, war von Rosalind Franklin. Die Geschichte von Rosalind Franklin habe ich durch einen Podcast gehört. Sie hatte das erste Foto der DNA gemacht, aber ihre Kollegen stahlen ihr dieses Foto aus der Schublade. Sie bauten ein 3D-Modell der DNA und erhielten dafür später den Nobelpreis, während Rosalind Franklin bereits gestorben war. Diese Geschichte hat mich so wütend gemacht, weil sie die Blaupause für viele Geschichten von Frauen in der Wissenschaft ist. Da dachte ich mir: „Jetzt verleihe ich Rosalind Franklin den Nobelpreis – im Möglichkeitsraum der KI“. So entstand das erste Bild. Es war für mich etwas Heilsames, sie stolz mit dem Nobelpreis zu sehen. Das war der Anfang des Projekts Versäumte Bilder.
Wie hast du entschieden, welche Wissenschaftlerinnen du in das Projekt aufnimmst?
Im Rahmen des Fellowships hatte ich die Zeit, intensiv zu recherchieren. Ich habe im Internet geschaut, welche Frauen in der Wissenschaft übergangen wurden. Die nächste Frau, die ich nach Rosalind Franklin generiert habe, war Lise Meitner. Sie habe ich ausgewählt, weil mir der Hype um den Oppenheimer-Film so auf den Keks ging. Es wird ein wahnsinnig teurer Film über Oppenheimer produziert, aber Lise Meitner, die ebenfalls eine entscheidende Rolle in der Atomforschung gespielt hat, wird nicht einmal erwähnt. Das fand ich ungerecht.
Ein Wendepunkt in dem Projekt war dann, als die Schader Stiftung auf mich zukam, um eine Ausstellung zu machen. Die Zusammenarbeit war großartig. Besonders wichtig war die Rolle von Stella Lorenz, die die gesamte Recherche und Kommunikation übernommen hat. Ohne ihre Unterstützung hätte ich das Projekt nicht allein stemmen können. Wir haben zunächst überlegt, ob wir Fotografie mit einbeziehen, aber am Ende beschlossen wir, die Ausstellung komplett mit KI-generierten Bildern zu gestalten. Die Schader Stiftung hat einen Open Call gestartet und wissenschaftliche Institute in der Umgebung eingeladen, eigene Frauen vorzuschlagen, die sie für übergangen hielten. Ab diesem Moment wurde das Projekt partizipativ, was ein wichtiger Schritt war. Ich habe nicht mehr allein entschieden, welche Frauen ausgewählt werden, sondern die Institute selbst mussten überlegen, welche Frauen in ihrer Geschichte nicht ausreichend sichtbar gemacht wurden und warum. Die Recherchearbeit der Institute war der eigentlich wertvolle Teil des Projekts, während die Bilder, die ich dann erstellt habe, fast zweitrangig waren.
Kannst du uns durch den kreativen Prozess der KI-Bildgenerierung führen?
Ich würde den kreativen Prozess in zwei Phasen unterteilen: Vor der Ausstellung mit der Schader Stiftung und danach. In der ersten Phase, bevor die Schader Stiftung involviert war, habe ich die Wissenschaftlerinnen selbst ausgewählt, ohne reale Fotografien hochzuladen. Die KI hat auf öffentliche Fotos im Internet zurückgegriffen, die nicht immer genau waren. Die Ergebnisse basierten eher auf meiner Vorstellung von den Frauen Was die Wahl der visuellen Stile betrifft, habe ich mich immer am zeitlichen Kontext orientiert. Wenn eine Wissenschaftlerin in den 1970er-Jahren aktiv war, habe ich mich von den Filmen und Kameratechniken dieser Zeit inspirieren lassen. So haben die Bilder auch einen nostalgischen Touch bekommen, passend zu der Epoche, in der die Frauen tätig waren. Dann habe ich überlegt, wie ich die jeweilige Wissenschaftlerin am besten inszeniere – ob ich sie zum Beispiel auf einer Bühne ehre, wie bei Rosalind Franklin, oder in einem Labor zeige, je nachdem, woran sie geforscht hat. Nach der Zusammenarbeit mit der Schader Stiftung hat sich der Prozess stark verändert. Ich hatte nun reale Fotografien der Wissenschaftlerinnen zur Verfügung, mit denen ich arbeiten konnte, und musste mich eng mit den Instituten abstimmen.
Es gab eine Wissenschaftlerin, bei der ich wirklich nach einer halben Stunde mit dem Bild fertig war. Bei einer anderen, Erika Spiegel, habe ich hingegen drei oder vier Monate an dem Bild gearbeitet. Zunächst hatte ich überlegt, sie als Preisträgerin des ersten Schader-Preises darzustellen, da es kein Bild von der Preisverleihung gab – das war einfach vergessen worden. Also dachte ich, ich stelle sie auf eine Bühne und generiere das Bild so. Doch im Laufe der Arbeit entwickelte sich das Konzept weiter, und ich entschied, sie stattdessen in einer Bibliothek zu zeigen, da sie Soziologin war. Dann erfuhr ich, dass ihre Nichte noch lebt. Mir war es wichtig, empathisch mit solchen Bildern umzugehen, da sie auch verstörend wirken könnten. Ich habe ihre Nichte angerufen, ihr erklärt, was KI ist, und ihr gesagt, dass ich gespannt auf ihre Rückmeldung sei. Nach unserem Gespräch habe ich das Bild nochmals überarbeitet. Ich habe gemerkt, dass die Bilder, die ich zuvor ohne diesen Austausch gemacht hatte, mehr meiner eigenen Vorstellung entsprachen. Ich entschied allein, wann ein Bild „stimmte“. Mit dem Austausch und dem Verständnis, dass es sich um einen partizipativen Prozess handelt, hat sich das verändert. Die Rückmeldungen von Institutionen und teilweise von Menschen, die die dargestellten Personen kannten, haben die Bilder verbessert, auch wenn es deutlich länger gedauert hat.
Wie fielen die Reaktionen auf die Ausstellung aus?
Erstaunlicherweise gab es wenig Gegenwind zu den Bildern. Viele Menschen stolpern darüber und beginnen nachzudenken – genau das war auch mein Ziel. Ein Professor stieß beispielsweise auf eines der Bilder von Rosalind Franklin und kritisierte, dass sie ja eigentlich gar keinen Nobelpreis erhalten habe. Er fragte mich dann, ob ich ähnliche Bilder für einen Hörsaal seiner Universität generieren könnte. Zwei Wochen später rief mich der Professor erneut an und sagte: „Wir haben doch echte Chemie-Nobelpreisträgerinnen“. Jetzt hängen dort Fotografien von echten Nobelpreisträgerinnen, und die Ahnengalerie des Wissens ist damit mit echten Porträts aufgefüllt. Und genau das war das ursprüngliche Ziel des Projekts: Diese Ahnengalerien des Wissens aufzufüllen und durch die KI einen „gedanklichen Möglichkeitsraum“ zu schaffen, der die Menschen dazu anregt, über die Sichtbarkeit von Frauen in der Wissenschaft nachzudenken. Das ist der Kern des Projekts Versäumte Bilder.
Wo siehst du die zukünftige Rolle von KI und Kunst?
KI ist für mich ein ganz eigenes Medium, das in viele Bereiche einfließen wird. Aber KI per se ist keine Kunst. Kunst entsteht nur durch Menschen. KI kann unterstützen und inspirieren, aber die kreative Arbeit bleibt menschlich. Die Bilder, die ich mit der KI erstelle, sind keine Kunst – es ist das Projekt Versäumte Bilder, das vielleicht Kunst ist, aber die Bilder selbst nicht. KI kann dabei helfen, Ideen umzusetzen oder Prozesse zu vereinfachen, aber sie wird das kreative Denken nicht ersetzen. Besonders bei der Malerei oder Fotografie zeigt sich das – KI kann keine Malerei kopieren, da fehlt ihr die echte kreative Leistung. Ich hoffe, dass traditionelle Medien wie Malerei und journalistische und künstlerische Fotografie dadurch wieder an Bedeutung gewinnen, weil sie Dinge können, die KI nicht leisten kann.
Gibt es bestimmte „Versäumte Bilder“, die du in Zukunft gerne noch schaffen würdest?
Ich liebe die Zusammenarbeit mit anderen Menschen und freue mich besonders über das Sichtbarmachen von Wissenschaftlerinnen, die vielleicht nicht so bekannt sind. Je unbekannter, desto besser. Ich finde es schön, wenn diese Bilder ausgedruckt werden und in Dörfern oder kleinen Städten an die Wände kommen. Es müssen nicht immer die großen Namen sein. Es gibt viele weitere Bereiche, in denen Frauen und andere marginalisierte Gruppen übersehen wurden. Ein Beispiel wäre Alan Turing, dessen immense Bedeutung für die Weltgeschichte lange nicht gewürdigt wurde. Auch solche Menschen nachträglich zu ehren, wäre ein wertvolles Ziel für dieses Projekt. Es gibt also noch viele „versäumte Bilder“, die darauf warten, entdeckt zu werden.
Literatur
Abbildungen im Beitrag (von links nach rechts):
Bild 1: Eingaben (prompts) in die KI (midjourney): Portraitfoto von Erika Spiegel als 65-jährige Wissenschaftlerin, lächelnd in einem hellen Wohnzimmer vor Büchern stehend, helles Sonnenlicht kommt von links aus einem Fenster, natürliches weiches Licht, warme Farben, hält ein Buch in der Hand. Hasselblad 50 mm, Blende 2,8, Kodak Portra Farben: 1 (
Gesine Born).Bild 2: Eingaben (prompts) in die KI (midjourney): Erika Spiegel als 80-jährige Wissenschaftlerin, trägt ein Hermes-Kostüm und einen Schal um den Hals, Porsche fahrend in einer deutschen Stadt, aus dem Jahr 1990 (
Gesine Born).Bild 3: Eingaben (prompts) in die KI (midjourney): Erika Spiegel als 60-jährige Frau in einem Damenkostüm von Hermes auf der Bühne in einer hellen Stadthalle, erhält einen Preis für ihre Forschung, Pressefoto aus dem Jahr 1990 (
Gesine Born).Zitation: Gesine Born, Julia Wustmann: „Versäumte Bilder“ von Frauen in der Wissenschaft. Ein Interview mit Gesine Born, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 15.11.2024, www.gender-blog.de/beitrag/versaeumte-bilder-frauen-wissenschaft/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20241115
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Kommentare
Petra Nabinger | 18.11.2024
Vielen Dank für dieses interessante Interview. Ich verfolge die Arbeit von Gesine Born schon seit längerer Zeit und finde die Sichtbarmachung der zahlreichen "vergessenen" Wissenschaftlerinnen äußerst bedeutsam. Diese klugen Frauen wurden auch bei den Straßennamen nicht berücksichtigt. Es ist aber schön, zu lesen, dass sie nun dank Gesine Born in Hörsälen zu finden sind und dort für Nachwuchswissenschaftlerinnen als Vorbilder dienen. Ein großartiges Projekt!
Vielen Dank dafür.
Herzliche Grüße von
Petra Nabinger