06. Juni 2023 Uta C. Schmidt
Die Ruhruniversität Bochum zeigt unter dem Titel „Bachmut in Bochum“ Fotos und Reportagen der russischen Fotografin Victoria Ivleva, die diese im Februar des Jahres 2023 in der völlig zerstörten ukrainischen Stadt Bachmut machen konnte: „Alles ist vom Krieg durchdrungen und riecht danach, alles atmet den Krieg, hängt von ihm ab und ist ihm unterworfen – als gäbe es kein normales menschliches Leben mehr irgendwo auf der Welt“ (Ivleva in Ivleva et al. 2023, 8). „Bachmut in Bochum“ – dieser Titel rückt das Schlachtfeld unmittelbar vor unsere Haustür.
Victoria Ivleva
Victoria Ivleva, verheiratete York, wurde 1956 in Leningrad (St. Petersburg) geboren. Sie absolvierte nach der Schule eine Ausbildung zur Fotografin und studierte Journalistik an der Staatlichen Universität in Moskau. Schon zur Zeit der Sowjetunion begann sie als freie Journalistin und Fotografin zu arbeiten. Mit der ab 1986 von Michael Gorbatschow eingeleiteten Reform des Staats- und Wirtschaftssystems der UdSSR eröffneten sich für sie Möglichkeiten in der ganzen Welt. 1987 wurde sie einem deutschsprachigen Publikum mit Fotografien über den sowjetischen „Underground“ in der Zeitschrift Stern bekannt (Ivleva in Ginter/Telegina 2009).
1991 machte Victoria Ivleva Fotos vom Inneren des havarierten Atomkraftwerks in Chernobyl. Bis heute ist sie die einzige Journalistin, die dort war. Für diese Fotoreportage erhielt sie 2012 den Golden Eye des World Press Photo Award. 1994 fotografierte sie als einzige russische Journalistin in Ruanda. In einem Porträt heißt es, sie habe dort den Widerspruch nicht mehr ausgehalten, Bilder von menschlichen Tragödien anzufertigen, um damit Geld zu verdienen. So kümmerte sie sich weniger um Fotos, sondern um Menschen und leistete aktive Hilfe, brachte Menschen in Krankenhäuser oder half einem Kindersoldaten, zur Schule zu gehen und seinen Berufstraum Arzt zu verwirklichen (Ivleva in Osipova 2015). In Ruanda wurden ihr die Mechanismen der Informationsgesellschaft bewusst, die finanziellen Gewinn aus menschlichen Schicksalen zieht. Sie nahm eine zehnjährige Auszeit vom Fotojournalismus. In dieser Zeit zog sie zwei Söhne groß. Doch dann kehrte sie zurück und wurde Redaktionsmitglied sowie Sonderkorrespondentin der kreml-kritischen Novaja Gazeta – als politische Aktivistin und als Fotojournalistin (Ivleva in Ginter/Telegina 2009). Mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zog sie nach Kiev, ihr jüngerer Sohn Ignat begleitete sie, der ältere Philip wohnt bereits seit 2018 in der Ukraine: „Mir schien es die einzig richtige und vernünftige Entscheidung zu sein, in die Ukraine zu gehen. Wenn es einem Menschen schlecht geht, lässt du ihn nicht allein. Und hier ist es genauso. Du musst da sein, wenn du ein Mensch bist“, erklärte Victoria Ivleva in einem Radiofeature (Solovieva 2023).
Ikonen für Frieden und Freiheit
Victoria Ivleva erinnert die zerfallende Sowjetunion geprägt durch gewaltvolle regionale Konflikte. Sie interessierte sich nicht für das waffenstrotzende Militär, sondern war neugierig, was mit den Menschen passierte, wenn die Soldaten abgezogen waren, wie sie dann Alltag und Zusammenleben reorganisierten. In dieser Zeit entstand eine Farbfotografie, die eine junge Frau in einer Blutlache zeigt, die bei der Flucht vor dem Krieg erschossen wurde. In der Eile zu fliehen, hat sie zwei verschiedene Schuhe angezogen. Für Viktoria Ivleva ist dieses Bild zu einer Antikriegs-Ikone geworden (Ivleva in Osipova 2015).
Ein überzeitliches Bild für Freiheit hat Victoria Ivleva 1990 am Beginn ihrer Langzeitreportage über Frauen und Kinder in Haftanstalten geschaffen: Eine Mutter hält auf Zehenspitzen stehend ihr kleines Kind über einen mit Stacheldraht gesicherten Holzzaun. Anders als sie selber, kann das Kind die Welt jenseits des Zaunes sehen. Es ist Winter. Auf einer an den Zaun gelehnten einfachen Holzbank sitzt eine Puppe und schaut mit großen runden Augen auf das, was diesseits des Zaunes zu sehen ist – was sieht sie, was sieht das Kind, was sehen die Betrachtenden? (Schpak/Ivleva 2015)
Ethos
Victoria Ivleva hat fünf Maximen formuliert, die sie als Aktivistin und Fotojournalistin leiten: 1) Die Komfortzone verlassen – man weiß nicht, wo man die Nacht verbringt, was passiert; 2) Dem Gegenüber auf Augenhöhe begegnen; 3) Die eigene Positionierung und die damit verbundenen Vorteile – zum Beispiel als Geschlecht – mitbedenken; 4) Niemals hetzen; 5) Als Mensch mit Menschen kommunizieren – sie sind niemals Mittel für die eigenen oder die Zwecke anderer (Ivleva in Stankevich 2015).
Diese Prinzipien prägen auch die Arbeiten, die in der Ausstellung „Bachmut in Bochum“ gezeigt werden – 25 großformatige Schwarzweißfotografien. Die dazugehörigen Texte stellen uns die Menschen mit ihrer je speziellen Geschichte an diesem „gefährlichsten Ort der Welt“ (Ivleva et al. 2023, 5) vor, sie kontextualisieren die Fotografien in bildstarken Formulierungen: „Zungen aus kohlschwarzem Ruß, die von den jüngsten Bränden stammen, lecken an den Wänden der Hochhäuser hoch“ (Ivleva in Ivleva et al. 2023, 19.)
Ein unvollstellbar geschundener Ort und seine Menschen
Drei Fotografien seien exemplarisch angesprochen, weil sie mich besonders berühren: Auf einem Bild scheinen Männer mit Kopflampen und Handwerkszeug über die Straße zu eilen – einer hat ein Grundschulkind an der Hand, das eine Mütze mit hellen Punkten und Bommel trägt (Ivleva in Ivleva et al. 2023, 26) – ein unerwartetes Motiv in einer ansonsten von zerstörter Architektur und trostloser Landschaft bestimmten Bildwelt, das sofort die Frage aufwirft: Wieso leben in dieser zerstörten Stadt noch immer Kinder? Warum sind sie nicht an einen sicheren Ort gebracht worden? (Vgl. Ivleva in Ivleva et al. 2023, 36) Eine andere Fotografie zeigt Großmutter Soja Hryhoriwna, 89 Jahre alt, die von freiwilligen Evakuierungshelfern aus dem Haus herausgetragen wird, mit mehreren übereinanderliegenden Kleidungsschichten angezogen. Die Komposition des Bildes lenkt den Blick auf ihre Hand, in der sie ein Schlüsseletui festhält – ein Zeichen für die nichtauszulöschende Hoffnung, zurückzukehren und alles wieder vorzufinden (Ivleva in Ivleva et al 2023, 30f.). Bei der Fotografie mit der alten Baba Manja, die direkt in die Kamera Victoria Ivlevas schaut, weiß ich nicht, ob ihre furchtbare Verzweiflung mehr berührt oder der mit ihr abgebildete Hund und sein unglaublich trauriger Blick. „Ich wünschte mir so sehr, dass alle überleben. Aber mir ist klar, dass das nicht passieren wird,“ schrieb Victoria Ivleva im März 2023 (Ivleva in Ivleva et al. 2023, 55).
Aktivistin und Fotojournalistin
Die Reportagen von Victoria Ivleva gelten den Menschen und ihren jeweiligen Lebensbedingungen. Sie sind immanent von einem Gespür der Fotografin für die jeweiligen Geschlechterordnungen in ihren Überlagerungen mit anderen Erschwernissen wie Armut, Alter, Lokalität, Ressourcen geprägt, in denen sie agiert und die sie zugleich abbildet: So reflektiert sie bewusst ihre Position als Fotografin und kommt zu dem Schluss: „I think that a woman journalist has less difficulties in wartime than a man does. People tend to be less scared of women. A woman, by default, is less dangerous than a man — hence, it’s easier for her to gain trust, and that’s really essential in a war” (Ivleva in Stankevich 2015). Als Victoria Ivleva 2021 auf dem Puschkin Platz in Moskau für die russische Menschenrechtsorganisation Memorial protestierte, hat ihr das allerdings nicht geholfen – sie wurde von der Polizei festgenommen, angeklagt, gegen das Versammlungsverbot verstoßen zu haben und zu einer Geldstrafe verurteilt.
Die Ausstellung wird unterstützt von der Boris Nemtsov Foundation for Freedom (Bonn) sowie der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität. Sie wird vom Osteuropa-Kolleg NRW in Kooperation mit dem Seminar für Slavistik/Lotman-Institut der Ruhr-Universität und der Universitätsbibliothek veranstaltet. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der im Sinne der Open Science-Strategie der Universitätsbibliothek Bochum im Open Acces erscheint (Ivleva et al. 2023) und so über die aktuellen Ereigisse hinaus erhalten bleibt, um das unvorstellbare Ausmaß von Leid und Zerstörung in der Ukranie, aber auch das Engagement Victoria Ivlevas und anderer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Die Ausstellung „Bachmut in Bochum“ ist vom 16. Mai bis 16. Juli 2023 in den Räumen der Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum zu sehen.
Literatur
Ginter, Justine/Telegina, Zhanna (2009), Ein Interview mit der russischen Fotografin Victoria IVLEVA. Zugriff am 06.06.2023 unter https://www.anstageslicht.de/themen/mutige-journalisten-russland/victoria-ivelva/interview-mit-victoria-ivleva/.
Ivleva, Victoria/Plotnikov, Nikolaj/Sosnov, Oleh/Albrecht, Jörg/Hartmann, Anne/Khrushcheva, Daria/Olshevska, Anna (2023), Bachmut in Bochum: Katalog zur Ausstellung. Universitätsbibliothek Bochum 16.5.–31.7.2023. https://doi.org/10.46586/rub.270
Osipova, Olga (2015), 10 Favorite Photographs of Victoria Ivleva. Zugriff am 06.06.2023 unter https://birdinflight.com/en/inspiration/experience/10-favorite-photographs-of-victoria-ivleva.html.
Schpak, Aljona/Ivleva, Victoria (2015), „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder“. Ein Interview mit Maria Noel. Zugriff am 06.06.2023 unter https://www.dekoder.org/de/article/geburt-gefaengnis-russland-schwanger-frauen.
Solovieva, Julia (2023), Victoria Ivleva – eine russische Fotografin in der Ukraine, Sendung vom Montag, 2. Januar 2023, Redaktion: Karin Hutzler, Regie: Nicole Paulsen, Produktion SWR 2022. https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/victoria-ivleva-eine-russische-fotografin-in-der-ukraine-swr2-leben-2023-01-02-102.pdf.
Stankevich, Yulia (2015), Beyond the Comfort Zone: 5 Rules of Victoria Ivleva. Zugriff am 06.06.2023 unter https://birdinflight.com/en/plitka/beyond-the-comfort-zone-5-rules-of-viktoria-ivleva.html.
Zitation: Uta C. Schmidt: Victoria Ivleva mit Fotografien und Texten: „Bachmut in Bochum“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 06.06.2023, www.gender-blog.de/beitrag/victoria-ivleva/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230606
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