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Headergrafik: Coverbild Ausstellungskatalog der Wanderausstellung „Was ich anhatte...“ (https://wasichanhatte.de)

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Was ich anhatte – Schuld ist nicht das Opfer

27. September 2022 Pauline Woersdoerfer

In der Diskussion um sexualisierte Gewalt rückt häufig die Kleidung in den Vordergrund und sucht damit die Schuld beim Opfer. Die Wanderausstellung Was ich anhatte möchte mit dieser Verantwortungsübertragung an die Opfer brechen. Die Ausstellung bewegt, wühlt auf und gibt zu Denken.

Was ist Victim Blaming?

Sie hatte eben ein kurzes Kleid an, wollte es so, hat es provoziert: Bei sexuellem Missbrauch passiert es oft, dass die Rollen der Täter:innen und die der Opfer umgekehrt werden. Diesen Vorgang nennt man Victim Blaming – das Opfer wird für die Tat beschuldigt. Bei sexuellen Übergriffen sind die Opfer zumeist Frauen und Mädchen. In den wissenschaftlichen Blick geriet diese Verantwortungsübertragung an die Opfer durch den Psychologen William Ryan, der mit seinem 1971 erschienenen Buch Blaming the Victim auch zugleich den Begriff für diese Logik setzte (Ryan 1971).

Ryan ging es in seinem Buch zunächst nicht um sexuelle Übergriffe, sondern um eine in der amerikanischen Mittelschicht – "well-meaning middle-class humanitarians" – der 1970er-Jahre verbreitete Haltung, die grundlegenden Ursachen der Armut in den Eigenschaften der Armen selbst zu suchen (Ryan 1971, Klappentext). Um das eigene Gefühl für Sicherheit und Ordnung in der Welt zu sichern, weisen deutungsmächtige gesellschaftliche Schichten, gestützt durch Wissenschaften, die Schuld an gesellschaftlicher Unsicherheit den Opfern von Rassismus in der Klassengesellschaft selbst zu. Ryan beschreibt dies als „distorting the harsh truth about the causes of their unequal condition“ (ebd.). Gestützt werden diese Rationalisierungsstrategien durch einen „Gerechte-Welt-Glauben“, der davon ausgeht, dass jeder kriegt, was er verdient. Es schwingt auch die Vorstellung mit, dass jeder Mensch selbst für sein Schicksal verantwortlich sei. Und hinzu kommen gesellschaftliche Mythen über Arme, Schwarze, Männer und Frauen.

Opfer sind Täter

Auch im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt hat Victim Blaming als „Taktik von Verteidiger:innen in Vergewaltigungsprozessen“ eine lange Geschichte. Dabei wird das Verhältnis von Täter:innen und Opfer umgekehrt, indem die Kleidung der Opfer als Einladung für Missbrauch dargestellt und ihr Verhalten als „provokant“ ausgelegt wird. Alles lässt sich beim Victim Blaming hinterfragen: „Was hattest du an?“, „Hast du ihn geküsst?“, „Warst du betrunken?“. Dies sind typische Fragen, die Opfer von sexueller Gewalt im privaten Umfeld, aber auch von der Polizei gestellt werden: Victim Blaming durchleuchtet die Opfer, statt die Täter:innen.

Die Opfer sexueller Gewalt müssen sich beim Victim Blaming erklären und beweisen. Letzteres ist im Umgang mit sexuellem Missbrauch nicht einfach. Die Beweise sind in vielen Fällen gering und so steht Aussage gegen Aussage. Eine Studie der Europäischen Kommission von 2016 zeigt, dass jede fünfte in der EU befragte Person der Aussage zustimmt, dass Frauen oftmals Missbrauchs- oder Vergewaltigungsvorwürfe erfinden oder übertreiben. Aussagen von Frauen besitzen im Zusammenhang mit Missbrauchs- oder Vergewaltigungsvorwürfen für die Öffentlichkeit eine geringe Glaubwürdigkeit. Eine repräsentative Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung zeigt dagegen, dass drei von vier Frauen in ihrem Leben bereits Erfahrungen mit sexueller Belästigung und sexueller Gewalt gemacht haben. So stellt sich im Umgang mit sexueller Gewalt eine große Diskrepanz zwischen der öffentlichen Glaubwürdigkeit und den tatsächlichen Angaben von Frauen heraus. Und auch die polizeilich erfassten Angaben sind auffallend gering. In Deutschland wurden 2021 9.903 Fälle von sexueller Nötigung polizeilich erfasst, die Dunkelziffer soll laut Statista deutlich höher sein. Diese Dunkelziffer ist Teil eines strukturellen Geflechts: Schuld, Scham und Angst der Betroffenen überlagern den Wunsch nach Gerechtigkeit.

Kleidung als Manifestationen persönlicher Erfahrungen

Was ich anhatte möchte den Opfern sexueller Gewalt Mut machen, laut zu werden. Seit Monaten tourt die Wanderausstellung bereits durch Deutschland. Sie zeigt die Kleidung von zwölf Menschen, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden. In Bochum wurde neben der Kleidung von elf Frauen, auch die eines trans Mannes ausgestellt.

Im Raum verteilt hängen ein Schlafanzug, Kleider oder Jeans. Neben jedem Outfit hängen QR-Codes, über die man zu den Geschichten der Opfer gelangt. Besonders wichtig war es für die Kuratorin Beatrix Wilmes, viele und unterschiedliche Geschichten zu präsentieren und damit zu unterstreichen, dass sexualisierte Gewalt allen passieren kann. Die jüngste Betroffene war sechs Jahre alt, die älteste über 80. Auch die Tatorte unterscheiden sich stark: vom Arbeitsplatz, über den Club mit K.O.-Tropfen, bis hin zum eigenen Zuhause und dem engen Freundeskreis. Gerade dieser vertraute Bereich soll oftmals Ausgang für sexuelle Übergriffe sein. Wilmes betont, dass es vielfältige Formen der sexualisierten Gewalt gibt und möchte mit ihrer Ausstellung das klare Zeichen setzen, dass die Opfer niemals die Schuld tragen.

Kuratieren mit emotionaler Betroffenheit

Beatrix Wilmes arbeitet seit Jahren in den Medien, vorwiegend für den WDR in der Redaktion von Frau tv. Ihre Schwerpunkte sind dort soziale und psychologische Themen, darunter eben auch immer wieder „Gewalt gegen Frauen“. Die Idee für die Ausstellung, so sagt sie, hätte sie schon länger im Hinterkopf gehabt, aber es hätte immer etwas anderes zu tun gegeben. Doch dann kam Corona und es tat sich Zeit für die Realisation ihrer Idee auf. Unterstützt von einer Corona-Soforthilfe für Künstler:innen, konnte die Ausstellung in die Wirklichkeit umgesetzt werden.

Die Entstehung war für Beatrix Wilmes jedoch härter als gedacht. Die ständige Auseinandersetzung mit Vergewaltigungen und Missbrauch war aufwühlend und doch jede Arbeit wert. 2020 startete sie auf Instagram einen Aufruf an Menschen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben. Es meldeten sich 40 Betroffene. Die Hauptaufgabe bestand dann darin, Vertrauen zu den Menschen aufzubauen. Diese sensible Vorarbeit dauerte Monate. Viele Teilnehmende sprangen spontan ab und machten doch einen Rückzieher, bis dann final zwölf Menschen bereit waren, ihr Schicksal emotional zu teilen und ihre Kleidung zur Ausstellung beizusteuern.

Resonanz der Besucher:innen

Die Ausstellung ist performativ angelegt und wandelt sich von Stadt zu Stadt: Es kommen neue Leihgeber:innen mit ihren Geschichten dazu und Teilnehmer:innen erhalten ihre Kleidung zurück.  Beatrix Wilmes berichtet von großem Interesse an der Ausstellung und ganz unterschiedlichen Reaktionen des Publikums. Einige Besucher:innen wollen durch Was ich anhatte erstmalig ihre Erfahrungen teilen und werden ermutigt, sich Hilfe zu suchen. Dafür liegen in der Wanderausstellung Flyer von jeweils örtlichen Frauenberatungsstellen aus. Beatrix Wilmes erzählt, dass z. B. während der Ausstellungszeit in Solingen die Zahl an Hilfesuchenden in den Beratungsstellen stark angestiegen sei. Andere Besucher:innen bringen nach den Ausstellungen eine Tüte ihrer Anziehsachen vorbei und wollen das Projekt mit ihrer eigenen Geschichte unterstützen.

Gerade diese Resonanz treibt die Ausstellungsmacher:innen an, die Ausstellung weiter durch die Lande wandern zu lassen. Sie ist weiterhin stark nachgefragt. Denn sexueller Missbrauch bleibt ein großes gesellschaftliches Thema, das polarisiert. Die Ausstellung Was ich anhatte scheint es für die Betroffenen einfacher zu machen, die eigene Geschichte zu teilen. Sie hält der Gesellschaft einen Spiegel vor und fordert heraus, nicht nur über Sexismus und Misogynie, sondern auch über die Mechanismen des Victim Blaming als tief internalisierte Opferbeschuldigung nachzudenken.

Mehr zu den Stationen der Ausstellung und ihren Ausleihbedingungen unter https://wasichanhatte.de. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

Mittlerweile arbeitet das Ausstellungsteam an einem neuen Projekt: Was ich anhabe. Es nimmt strukturelle Diskriminierung im Feld von Beruf und Karriere in den Blick.

Literatur

Ryan, William (1971), Blaming the Victim, New York: Pantheon Books.

Zitation: Pauline Woersdoerfer: Was ich anhatte – Schuld ist nicht das Opfer, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 27.09.2022, www.gender-blog.de/beitrag/wasichanhatte/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220927

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Coverbild Ausstellungskatalog der Wanderausstellung „Was ich anhatte...“ (https://wasichanhatte.de)

Pauline Woersdoerfer

Pauline Wörsdörfer studiert Journalistik mit dem Kernfach Politikwissenschaften an der TU Dortmund. Derzeit arbeitet sie freiberuflich als Journalistin mit besonderem Interesse für kulturelle Themen sowie strukturelle Geschlechterunterschiede in der Musikbranche.

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Kommentare

Christoph | 23.04.2023

Also habe ich (als Mann) nach Ihrer Logik nach zu urteilen zu 0,0% eine Mitschuld, wenn ich zB morgen nach Freital/Sachsen fahre und dort durch die Straßen laufend „Nazis raus“ rufe bzw. etwas lauter vor mir her sage und ich anschließend zusammengeschlagen oder gar getötet werde?

Sandra | 24.04.2023

Lieber Chistoph,

zielt deine Frage darauf, ob Antifa-Arbeit besser unterbleiben sollte, weil dann Gefahr besteht, tätlich angegriffen zu werden? Oder sollen sich Frauen* besser verhüllen? Oder geht es dir darum, zu betonen, dass Cis-Männer potentiell gewalttätig und übergriffig sind und frau* sie besser nicht provozieren sollte?

Wie auch immer, der Vergleich ist jedenfalls mehr als schief.

Beste Grüße aus der Redaktion

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