18. Dezember 2023 Arndt Lümers Uta Fenske
In Absprache mit den anderen Bundesländern hatte das Land Hamburg den Wissenschaftsrat im November 2019 um eine umfassende Evaluation der Geschlechterforschung in Deutschland gebeten. Der Wissenschaftsrat setzte daraufhin zur Durchführung dieser Strukturbegutachtung eine Arbeitsgruppe ein, die ihre Beratungen im Mai 2021 aufnahm. Die „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland“ wurden am 7. Juli 2023 auf den Sitzungen des Wissenschaftsrats in Heidelberg verabschiedet. Die Siegener Historikerin Uta Fenske aus dem Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW sprach mit Arndt Lümers, der als Referent in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates für die Arbeitsgruppe Geschlechterforschung zuständig war.
Uta Fenske: Zunächst eine Frage zur Verortung des Prozesses: Wie wurde die Arbeitsgruppe für die Strukturbegutachtung eingerichtet?
Arndt Lümers: Die Arbeitsgruppe wurde zusammengestellt, nachdem die Strukturbegutachtung in das Arbeitsprogramm des Wissenschaftsrats aufgenommen worden war und Frau Professorin Szöllösi-Janze den Vorsitz übernommen hatte. Solche Arbeitsgruppen folgen einem recht festen Aufbau: Neben Mitgliedern des Wissenschaftsrats und Vertreter:innen von Bund und Ländern wirken weitere Sachverständige mit entsprechender Fachexpertise mit. Weil es sich um ein multi- und interdisziplinäres Forschungsfeld handelt, war es die Absicht, in der Arbeitsgruppe zur Geschlechterforschung eine relativ große Bandbreite an Disziplinen abzubilden, ohne dass die Personen aus dem Kernbereich der Geschlechterforschung stammten. Dazu kamen Sachverständige aus dem Ausland, ebenfalls aus verschiedenen Disziplinen, aber mit einem deutlicheren Schwerpunkt in der Geschlechterforschung.
Der Wissenschaftsrat stellt unmissverständlich fest, dass institutionelle Strukturen nachhaltig finanziert werden müssen, um Geschlechterforschung aufzubauen. Das betrifft auch den Ausbau von Professuren mit Gender-Denominationen – insbesondere in Disziplinen, in denen es sie kaum oder gar nicht gibt. Die Empfehlungen sind hingegen sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, mehr explizite Gender-Denominationen zu fordern. Oder anders gefragt, warum wird die disziplinäre Verankerung als unverzichtbar angesehen?
Wie jede erfolgreiche Forschung bedarf auch die Geschlechterforschung verlässlicher und forschungsförderlicher institutioneller Strukturen. Dabei sind entsprechend denominierte Professuren nur ein mögliches Mittel. Denn genauso wie es sehr viele Wissenschaftler:innen im Forschungsfeld ohne eine entsprechende Denomination gibt, bedeutet eine entsprechende Denomination nicht unbedingt einen Forschungs- oder Lehrschwerpunkt in der Geschlechterforschung. Trotzdem stimmt es natürlich, dass Denominationen für die Sichtbarkeit und Institutionalisierung eines Forschungsfeldes von Bedeutung sind. Es ist jedoch immer schwierig, diesen Bedarf zu quantifizieren. Für einige Bereiche wie MINT, Medizin, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sah der Wissenschaftsrat angesichts augenfällig sehr geringer Zahlen aber dringend die Notwendigkeit eines Ausbaus.
Und welche Rolle spielt die disziplinäre Verankerung?
Für das Forschungsfeld lässt sich eine ‚Doppelstruktur‘ von disziplinähnlicher Geschlechterforschung einerseits und Geschlechterforschung in zahlreichen Disziplinen andererseits feststellen, die der Wissenschaftsrat für angemessen hält. Sie ist von großer Bedeutung für die methodische und thematische Weiterentwicklung des Feldes, da sie immer wieder Impulse aus den und in die Disziplinen ermöglicht. Zudem war es ein großes Anliegen, dass eine methodische Ausbildung in den Disziplinen erfolgt. Aber es steht außer Frage, dass diese Doppelstruktur in einem sehr stark disziplinär organisierten Wissenschaftssystem wie dem deutschen eine große Herausforderung bedeutet. Denn an entscheidenden Punkten der Karriereentwicklung – zum Beispiel bei der Berufung – und oder bei der Drittmitteleinwerbung spielen die Disziplinen in Deutschland immer noch eine überaus wichtige Rolle.
Warum spricht sich der Wissenschaftsrat dann nicht stärker für eine Disziplin „Geschlechterforschung“ aus?
Diese Frage wird ja auch im Feld kontrovers diskutiert. Gegen eine solche ‚Disziplinierung‘ spricht zum Beispiel, dass Geschlechterperspektiven für nahezu alle Disziplinen wichtig sind und es sich um ein multidisziplinäres Forschungsfeld handelt. Daher sollten Geschlechterfragen nicht an eine abgegrenzte Disziplin Gender Studies oder Geschlechterforschung auslagert werden können. Nach dem Motto: ‚Darum müssen wir uns in unserer Disziplin nicht kümmern, das macht ja die Geschlechterforschung‘.
Es fällt auf, dass der Wissenschaftsrat den Unterschied zwischen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung sehr stark betont. Aus meiner Sicht ist diese Unterscheidung selbstverständlich.
Das sehe ich wie Sie: Auch nach meinem Eindruck ist diese Unterscheidung im Forschungsfeld und genauso bei den Akteur:innen im Gleichstellungsbereich tatsächlich weitgehend selbstverständlich. In der Außenwahrnehmung – und damit meine ich nicht nur die allgemein-öffentliche, sondern auch die innerwissenschaftliche – scheint mir das aber keineswegs immer der Fall. Immer wieder haben uns zum Beispiel Geschlechterforscher:innen berichtet, dass sie im Rahmen von Forschungsverbünden von Kolleg:innen automatisch als Ansprechperson für Gleichstellungsfragen wahrgenommen worden seien.
Andererseits gibt es auch Verbindungen zwischen beiden Feldern, zum Beispiel das Professorinnenprogramm, das Maßnahmen aus beiden Bereichen verknüpft. An welche Adressaten richtet sich dieser Appell zur Differenzierung? Was war dem Wissenschaftsrat an diesem Punkt so wichtig?
Das Professorinnenprogramm ist ein besonderer Fall. Mit Geschlechterforschung hat es erst einmal gar nichts zu tun, sondern es ist ein Programm der Gleichstellung. Zugleich lässt sich feststellen, dass Hochschulen die zur Teilnahme qualifizierenden Gleichstellungskonzepte mit Maßnahmen zur Unterstützung der Geschlechterforschung verbunden haben. Davon hat also die Geschlechterforschung profitiert. Dem Wissenschaftsrat war es aber wichtig zu betonen, dass Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik unterschiedlichen Logiken folgen und unterschiedliche Ziele verfolgen. Davon bleibt ja unberührt, dass es zwischen beiden Bereichen einen guten Austausch und wichtige Kooperationen gibt. An einigen Hochschulen sind zum Beispiel die Zertifikatsprogramme an den Gleichstellungsbüros verortet, weil es sonst überhaupt keinen institutionellen Ort für sie gäbe.
Betont der Wissenschaftsrat hier vielleicht noch einmal die Rolle von Geschlechterforschung als Wissenschaft?
Die Geschlechterforschung darf eben nicht auf eine Unterstützungsfunktion für Gleichstellungspolitik verkürzt werden. Das würde die Themen und Methoden der Geschlechterforschung auch erheblich einschränken. Ich selbst komme aus den Geisteswissenschaften und kann mir literaturwissenschaftliche oder auch historische Analysen zu Geschlechterrollen und Mechanismen der Geschlechterkonstruktion vorstellen, die – unabhängig von den Einstellungen der Forschenden – nicht den Anspruch haben, einen Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter in unserer Gesellschaft zu leisten. Das gilt für andere Disziplinen ebenso.
Wie sind die Reaktionen auf die Empfehlungen?
Es gab durchaus eine breite Medienresonanz, die von kritischen bis zu positiven Stimmen reichte. Erfreulich fand ich, dass die Empfehlungen auch in Zeitschriften in den Bereichen Medizin und Pharmazie aufgegriffen wurden. Interessanter und für die Umsetzung relevanter als Medienreaktionen sind aber für uns die Reaktionen aus dem Feld. Von einzelnen Wissenschaftler:innen haben wir gehört, dass sie das Papier als Anlass genutzt haben, um mit ihren Hochschulleitungen über den Status der Geschlechterforschung an ihrer Hochschule zu sprechen. Außerdem erreichten die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats verschiedene Gesprächsanfragen. So habe ich die Empfehlungen bereits in verschiedenen Kontexten, unter anderem eben auch bei einer netzwerköffentlichen Beiratssitzung des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW in Essen, vorgestellt und diskutiert. Dabei zeigen sich überwiegend positive Reaktionen auf die Empfehlungen und auch bereits Überlegungen, wie deren Umsetzung vorangetrieben werden kann. Für die Umsetzung sind neben dem Forschungsfeld aber natürlich auch die Leitungen von Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie Bund und Länder gefordert.
Was hat Sie bei der Arbeit an den Empfehlungen überrascht?
Nicht unbedingt überrascht, aber doch beeindruckt haben mich zum einen der Enthusiasmus und das Engagement der Forschenden im Feld, das ja doch sehr häufig mit prekären Bedingungen und zudem auch noch Delegitimierungsversuchen konfrontiert ist, zum anderen die große Breite und Vielfalt der Forschungsthemen. Zugleich fand ich es erstaunlich, wie unterschiedlich weit fortgeschritten die Integration von Geschlechterperspektiven in den Disziplinen ist und dass eben nicht nur zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften einerseits und beispielsweise dem MINT-Bereich andererseits, sondern auch innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften große Unterschiede bestehen. Diese teilweise geringe Verankerung hat nach meinem Eindruck gar nicht unbedingt immer mit Widerstand oder Ablehnung zu tun, sondern es mangelt zuweilen schlichtweg an einem Bewusstsein für die Bedeutung dieser Perspektiven.
Der Wissenschaftsrat spricht sich dafür aus, dass die Institutionalisierung der Forschung weiter vorangebracht werden soll und bemängelt, dass es kaum genuine Forschungszentren gibt. Wie kann es gelingen, dass in Bälde so etwas wie ein Max-Planck-Institut für Geschlechterforschung eingerichtet wird?
Das ist eine gute Frage! Es ist jedenfalls auffällig, dass die Geschlechterforschung – anders als etwa die Friedens- und Konfliktforschung, die der Wissenschaftsrat vor einigen Jahren begutachtet hat – im außerhochschulischen Bereich kaum institutionell verankert ist. Das hat auch die Arbeitsgruppe immer wieder beschäftigt, da dadurch zum Beispiel ‚Andockstellen‘ für Infrastrukturen nur eingeschränkt vorhanden sind. Zudem können außerhochschulische Einrichtungen eine gewisse, personenunabhängige Kontinuität in der Bearbeitung eines Themenfeldes sicherstellen.
Diese schwache Institutionalisierung im außerhochschulischen Bereich lässt sich wahrscheinlich historisch erklären ...
... einen überzeugenden inhaltlichen Grund scheint es jedenfalls nicht zu geben. Vielleicht könnten aber die vom Wissenschaftsrat empfohlenen Forschungszentren bzw. ‚Forschungsknoten‘ eine solche Entwicklung anstoßen. Da geht es gerade darum, Forschende aus verschiedenen Feldern und institutionellen Zusammenhängen zu einem Thema, etwa „Gesundheit“, zusammenzubringen. Mich würde es jedenfalls freuen, wenn dies auch im außerhochschulischen Bereich als eine Chance gesehen würde, wie ich ohnehin hoffe, dass die Empfehlungen über die kommenden Jahre ihre Wirkung entfalten und immer wieder Anregungen und Unterstützung bieten können.
Literatur
Wissenschaftsrat (2023). Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland. Köln. https://doi.org/10.57674/9z3k-1y81
Zitation: Arndt Lümers im Interview mit Uta Fenske: Zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 18.12.2023, www.gender-blog.de/beitrag/weiterentwicklung-geschlechterforschung-deutschland/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231218
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