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Interview

Witwen, Wolfram und die Wissensordnung der Genderlinguistik

12. April 2022 Miriam Lind Uta C. Schmidt

Die Sprachwissenschaftlerin Miriam Lind erklärt im Interview mit Uta C. Schmidt nicht nur kurz und knapp, worum es bei geschlechterinklusiver Sprache geht. Sie lässt uns auch teilhaben an Erkenntnissen, die die Historische Sprachwissenschaft des Deutschen für aktuelle Gespräche über generische Maskulina und das Verhältnis von grammatischem und sozialem Geschlecht bereithält.

Worum geht es eigentlich bei geschlechterinklusiver Sprache?

Ganz grundlegend geht es um die Frage, was grammatisches Geschlecht mit sozialem Geschlecht zu tun hat. Was sagt es über das Geschlecht einer Person aus, wenn ich „der Lehrer“ sage? Folge ich dann nur einer grammatischen Struktur, die aus dem Indogermanischen ererbt ist, aber sonst nichts weiter aussagt? Das ist die sprachsystematische Frage. Warum dies diskutiert wird, liegt auch an der zunehmenden gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen, dazu an der zunehmenden Sichtbarkeit von Feminismus und daran, dass Frauen zunehmend gefragt haben: Moment mal, wo sind wir eigentlich in der Sprache? Alle Studien, die dazu gemacht werden – vorwiegend aus psycholinguistischer Sicht –, zeigen: Wenn wir maskuline Personenbezeichnungen hören – wie „der Spaziergänger“–, denken Menschen deutlich häufiger an Männer als an Frauen. Auch bei dem Satz: „Die Kunden des Supermarkts kaufen Organgensaft …“, stellen sich die Testpersonen zumeist Männer vor. Das ist das, was uns bei unserer Forschung interessiert. 

Haben denn andere Sprachsysteme dieses Problem angemessener gelöst als das unsrige?

Diese Fragen treten überall dort auf, wo wir eine starke feministische Bewegung und eine Sprache mit grammatischem Geschlecht haben. Auch in vielen europäischen Ländern wird dieses Thema verhandelt, zum Beispiel in Frankreich. Dort, wo das Staatswesen zentralisierter organisiert ist – wie in Frankreich – oder die Regierungsform autokratischer ist, da wird schon einmal von oben geschlechterinklusive Sprache verboten.

Das Englische hat ja kein Genus …

Wir können zum Beispiel im Englischen, das seit 700, 800 Jahren kein Genus mehr kennt, diese Effekte sehr viel weniger belegen. Hier organisiert die soziale Stereotypie die Vorstellung: Wenn die Rede auf den „Professor“ kommt, stellen sich native speaker eher Männer vor, anders dagegen, wenn es um den „kindergarden teacher“ geht. In Deutschland würden wir aufgrund des sprachlichen Systems bei „Kindergärtner“ immer mehr an Männer denken, trotzdem Frauen das Berufsbild prägen.

Ist es dann vielleicht sogar positiv, wenn sich Institutionen wie „Der Duden“ noch nicht bei der geschlechterinklusiven Sprache festlegen?

„Der Duden“ – das heißt die Redaktion des Dudens – hat gar nicht den Auftrag, vorzuschreiben, wie Sprache zu sein hat, sondern sie setzt sich das Ziel, abzubilden, wie Sprache ‚ist‘. Sie fragt: Wie nutzen Menschen gerade jetzt in Deutschland Sprache? Wenn politisch ein Thema so hochkocht wie geschlechtergerechte Sprache, dann trifft die Duden-Redaktion aufgrund ihrer korpusbasierten Erkenntnisse eine redaktionelle Entscheidung, wie vor nicht allzu langer Zeit. Aber dies ist weniger sprachpolitisch motiviert, als dass sie Sprachwandel in ihrem Textkorpus nachweisen.

Hat es mit der Frauenbewegung und dem Feminismus zu tun, dass selbst Heimatvereine die Frage nach der Sprache umtreibt?

Ja, da wurde ganz viel aus der feministischen Bewegung der 1970er-Jahre angestoßen. Die großen Sprachkritikerinnen dieser Zeit – ich erinnere an Senta Trömel-Plötz oder an Luise Pusch – haben sich da eingebracht. Es hieß damals feministische Sprachkritik. Die hat die Linguistik später dann zur Genderlinguistik weiterentwickelt. Dies bedeutete, zu fragen, was Sprache mit Geschlecht zu tun hat, ohne von vornherein eine feministische Agenda zu setzen.

Diese Änderung der Bezeichnung ist auch dem Prozess der Verwissenschaftlichung geschuldet. Senta Trömel-Plötz oder Luise Pusch konnten mit feministischer Sprachkritik in unserem Wissenschaftssystem keinen Fuß fassen.

Es ist bis heute sichtbar, dass es diesen Pionierinnen sehr, sehr schwer gemacht wurde, so haben wir bis heute keinen einzigen Lehrstuhl mit einer expliziten Denominierung für Genderlinguistik in Deutschland. Dass die öffentliche Debatte in Deutschland zur geschlechterinklusiven Sprache heute so hochkocht, hat mit konservativen, genderkritischen Lagern zu tun, allen voran dem Verein für deutsche Sprache, auch die AfD mischt da mit. Das Ziel dieser sprachkonservativen oder rechtspopulistischen Kreise ist es, zu zeigen, dass es keinen Zusammenhang zwischen grammatischem Geschlecht und dem sozialen Geschlecht gibt. Und das wird dann veranschaulicht mit Beispielen wie „der Löffel“, „die Gabel“, „das Messer“ oder auch häufig anhand von Tierbezeichnungen, heißt es doch „das Pferd“, „der Löwe“, „die Giraffe“.

Natürlich wissen wir alle, dass sich hinter diesen Bezeichnungen sowohl männliche als auch weibliche Tiere verbergen …

Hier wird mit einer Übergeneralisierung gearbeitet, denn die Genderlinguistik behauptet ja gar nicht, dass jede Form des grammatischen Geschlechts etwas mit einem sozialen Geschlecht zu tun hat. Wir stellen dies nur für Personenbezeichnungen heraus. Unsere Forschung der letzten zehn, 15 Jahre zeigt: Es gibt Zusammenhänge zwischen dem grammatischen Geschlecht und dem sozialen Geschlecht. Zum Beispiel, wenn wir über Tiere in ihrem Fortpflanzungsverhalten sprechen, bei dem es also um Themen geht wie „trächtig sein“, „Nachwuchs stillen“ usw. Wir greifen dann bei Begriffen, die grammatisch männlich sind wie „der Löwe“, häufiger zu Formulierungen, die explizit das weibliche Geschlecht markieren, also „die Löwin“, die „Löwenmutter“. Wir denken dies klar im Zusammenhang mit einem biologischen Geschlecht. Diese Sprachpraxis lässt sich bei „die Giraffe“ deutlich weniger belegen.  

Wie kommen Sie zu diesen Erkenntnissen über die Sprachpraxis?

Wir analysieren ganz viele Textkorpora, da stecken zum Beispiel viele Presseerzeugnisse drin. Diese empirischen Seiten der Sprachpraxis wurden in den älteren Traditionen der Germanistik nicht verfolgt. Sie interessierten sich für das Sprachsystem als abstrakte Größe und aus diesem disziplinären Fundus stammen auch noch viele Argumente, die die Kritiker:innen der Genderlinguistik vortragen. Doch das Fach hat sich in den letzten 20, 30 Jahren extrem weiterentwickelt, nicht zuletzt durch die Computertechnologie, die uns ermöglicht, riesige Korpora zu analysieren. Es war ja zuvor nicht möglich, mal so eben 50.000.000 Textwörter zu durchsuchen oder Gespräche aufzuzeichnen und zu analysieren. Heute können wir Sprache ganz anders erforschen.

Die heilige Kuh scheint das generische Maskulinum zu sein.

Wir können bereits für das Althochdeutsche nachweisen, wie grammatisches und soziales Geschlecht zusammenfielen. Germanische Rufnamen, die in der Regel zweigliedrige Komposita waren (heute noch sichtbar in Namen wie Gertrud, entstanden aus gēr ‚Speer‘ + trut ‚Stärke‘ oder Wolfram, aus wolf ‚Wolf‘ + raban ‚Rabe‘), wurden nicht etwa semantisch, also aufgrund ihrer Bedeutung, geschlechtssegregiert, sondern auf der Basis ihres Zweitglieds, das das Genus des gesamten Worts bestimmt. War dieses zweite Substantiv im Namen ein Femininum (wie -trut in Gertrud), so wurde der Name für Frauen gebraucht, war es ein Maskulinum (wie -raban in Wolfram), handelte es sich um einen Jungennamen.

Welche Rolle spielt die historische Sprachforschung für die Genderlinguistik?

Sie kann zeigen, dass es immer Sprachwandel gegeben hat und gibt. Althochdeutsch können Sie heute nicht mehr lesen. Sprache hat sich seitdem gewandelt. Und das ist nichts inhärent Gutes oder inhärent Schlechtes: Es passiert einfach, weil wir Sprache nutzen. Was wir jedoch auch sehen, ist, dass wir dadurch, dass wir Sprache nutzen, unsere Vorstellungen von Welt und auch unsere Vorstellungen von Geschlechterordnung setzen. So haben wir Frauen lange Zeit danach klassifiziert, ob sie verheiratet waren oder nicht, Frau oder Fräulein. Für Männer hatten wir diese sprachliche Differenzierung nie, weil es für Männer und ihren Sozialstatus nicht so wichtig war, ob sie verheiratet waren oder nicht, während es für eine Frau elementar war. Die Beziehung der Frau zum Mann hat sich vielfältig in der Sprache niedergeschlagen: Es gilt im Allgemeinen bei jeder Personenbeschreibung im Deutschen die maskuline Grundform. Es gibt nur drei Wörter, bei denen dies nicht so ist: Das ist „die Hexe“, die ganz stark inhärent vergeschlechtlicht war als Frau. Das ist zudem „die Braut“ und das ist „die Witwe“.

Grammatisches und soziales Geschlecht sind hier zusammengefallen, weil die feminine Bezeichnung für die Frau wichtiger war als für den Mann?

Ganz häufig sind die Argumente, die für das generische Maskulinum vorgetragen werden, unhistorisch. Sie reflektieren nicht, dass wir lange in einer extrem patriarchalen Gesellschaft gelebt haben – noch leben. Da mussten wir eben keine femininen Bezeichnungen bilden, weil wir sie im Alltag gar nicht benötigten, zum Beispiel, weil es Politikerinnen in Analogie zum Politiker realweltlich lange Zeit als bedeutende Gruppe gar nicht gab.

Das heißt, diese ganze Frage nach geschlechterinklusiver Sprache kommt aus der Angst um unsere tradierte Geschlechterordnung? Ich hatte eigentlich gedacht, die Tatsache, dass das Thema so heiß auf der Agenda steht, hätte etwas mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht für einen dritten Geschlechtseintrag zu tun.

Nun, da wir eine Gesellschaft bilden, in der Menschen vielfältiger leben und sichtbar werden, stehen wir vor der Herausforderung: Wie entwickeln wir uns weiter? Denn unsere Sprache ist zunächst darauf nicht ausgelegt. Sprache wird zu einem Ersatzschauplatz für die Verhandlung soziokulturellen Wandels. Es ist wahrscheinlich einfacher, zu sagen, ich mache mir Sorgen um den Untergang unserer Sprache, als zu betonen, ich möchte nicht, dass die Zweigeschlechtlichkeit unter Druck gerät.

Zitation: Miriam Lind im Interview mit Uta C. Schmidt: Witwen, Wolfram und die Wissensordnung der Genderlinguistik, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 12.04.2022, www.gender-blog.de/beitrag/witwen-wolfram-genderlinguistik/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220412

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Dr. Miriam Lind

Miriam Lind arbeitet in der historischen Linguistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 1482 „Humandifferenzierung“. Sie forscht zu sprachlichen Praktiken sozialer Unterscheidung, z.B. wie wir über Sprache Differenzen wie Geschlecht, Ethnizität oder Alter markieren und unterstreichen oder aber wieder in den Hintergrund verschwinden lassen.

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Dr. Uta C. Schmidt

Historikerin und Kunsthistorikerin; Forschungen an den Schnittstellen von Raum, Wissen, Geschlecht und Macht; Publikationen zu Klöstern, Klanggeschichte und Geschichtskultur; wiss. Mitarbeiterin im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW; Kuratorin im DA. Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Mitherausgeberin von www.frauenruhrgeschichte.de.

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