30. September 2025 Jenny Bünnig
Wer kennt Grace O’Malley? Wem sagen Mary Lacy etwas, Mary Read oder Anne Bonny? Sie alle sind Frauen, die (belegt oder unbelegt) zur See gefahren sind, deren Namen aber von den Wellen der sieben Weltmeere verschluckt wurden und wahrscheinlich für immer auf dem Grund des Ozeans geblieben wären, wenn nicht hin und wieder engagierte Menschen, meist ebenfalls Frauen, sie an die Wasseroberfläche gezogen hätten.
Viele Vorbilder haben Frauen, die sich auf einem Schiff hinaus auf die offene See wagen, also nicht. Das hat aber zumindest 47 von ihnen nicht davon abgehalten, sich an Bord der Roald Amundsen auf große Fahrt zu machen – 24 Tage, 3167 Seemeilen über den Atlantik, von Teneriffa bis nach Martinique. Über den Verein „LebenLernen auf Segelschiffen e. V.“, der das Projekt organisiert hat, sind sie zusammengekommen, eine bunte Truppe unterschiedlichen Alters von der erfahrenen Seglerin bis zur Anfängerin. Mit dabei war auch die Fotografin Verena Brüning, die mit ihrer Kamera die kleinen und großen Momente der Reise festgehalten und im Bildband Windsbraut veröffentlicht hat. Es ist die erste Atlantiküberquerung einer so großen rein weiblichen Crew, und die Fotos davon sind – um es gleich vorwegzunehmen – großartig.
Bilder vom Seefahren
Zunächst die Fakten zum Buch: Es handelt sich um einen 136 Seiten starken, vierfarbig bedruckten Bildband mit 119 Fotografien. Die Aufnahmen stammen von der in Berlin lebenden Künstlerin Verena Brüning, die für das Projekt mit an Bord gegangen ist. Es sind Abbildungen von der harten Arbeit auf einem Schiff, dem Navigieren und der Versorgung der Teilnehmerinnen, vom Nacktbaden unter dem Wasserschlauch oder dem Ausruhen auf den Festmacherleinen. Vor allem aber werden immer wieder intime Einblicke in die Nähe der Frauen untereinander gegeben, wie sie sich festhalten, füreinander klatschen, gemeinsam weinen oder sich freuen.
Die Farbfotografien sind in unterschiedlichen Größen abgedruckt, mal füllen sie eine ganze Seite oder sogar zwei, mal sind sie zu zweit, zu dritt oder mit viel Freifläche gesetzt. Zu jedem Foto gibt es am Ende des Buches eine einordnende Beschreibung, was darauf zu sehen ist. Außerdem findet sich etwa in der Mitte des Bands eine Bilderstrecke, die je eine Fotografie vom Atlantik von jedem Tag auf See zeigt – zwischen dem 29.12.2022 und dem 21.01.2023. Abgerundet wird der Band durch zwei Wortbeiträge von Mitreisenden: „Und auf den Holzplanken die nassen Fußabdrücke“ von Klara Marquardt und „Weil wir es konnten“ von Alicia Hellerstedt. In einem beiliegenden Tagebuch haben einige der Frauen auf zwölf Seiten Eindrücke und Erinnerungswürdiges festgehalten.
Bilder von Kraft
Die Roald Amundsen ist eine Brigg, ein zweimastiges Segelschiff, das sich durch den Wind und ein nicht zu unterschätzendes Maß an Muskelkraft fortbewegt. Diese harte körperliche Arbeit wird immer wieder auf besondere Weise in Szene gesetzt, wenn nach dem Ablegemanöver die Festmacherleinen aufgeschlossen werden müssen (S. 4–5), die Crew gemeinsam an der Backbordschot holt, um die Fock zu setzen (S. 45), wenn in Teamarbeit das Bramsegel ausgepackt wird (S. 16), die Frauen im strömenden Regen den Innenklüver beifangen (S. 114), Kapitänin Conni in die Wanten klettert, um einen Riss im Segel zu begutachten (S. 92), oder die Besatzung gemeinsam das Gangspill bedient (S. 118 oben).
Doch auch unter Deck brauchen die Frauen viel Stärke, Ausdauer und Mut, wenn Wandergesellin und Bootsfrau Anna nach Wandergesell*innentradition Ohrlöcher nagelt (S. 34–35), in großen Mengen und bei Seegang gekocht wird (S. 51) oder Maggie so lange seekrank bleibt, dass ihr eine Infusion gelegt werden muss (S. 18 unten).
Bilder von Nähe
24 Tage lang auf hoher See zu sein, bedeuten nicht nur physische Anstrengungen und psychische Herausforderungen. Gemeinsam mit mehr als 40 Frauen den Atlantik zu überqueren, heißt auch, über drei Wochen lang 24 Stunden am Tag mit teilweise vollkommen Fremden zu verbringen, ob beim Essen, Schlafen oder Duschen, und mit ihnen Augenblicke und Gefühle zu teilen. Das erzeugt eine einzigartige Nähe, die von Fotografin Verena Brüning ebenfalls eingefangen wurde. So erhalten wir als Betrachter*innen Einblicke in das gemeinsame Frühstücken (S. 17) oder das ausgelassene Anstoßen zu Neujahr (S. 22–23), das traditionelle Taufen der gesamten Crew auf einen neuen Namen (S. 49) oder das Baden im Meer (S. 27 unten).
Darüber hinaus können wir immer wieder vor allem Anteil nehmen an den sehr privaten Momenten der Frauen, wenn sich Anna und Irma am Strecktau in den Armen halten (S. 30), drei Frauen lachend am Boden liegen (S. 50), zusammen gesungen und Musik gemacht wird (S. 81), man morgens beim ersten Kaffee in kleinem Kreis den Sonnenaufgang bestaunt (S. 90–91) oder vier der Reisenden am Ende der 24 Tage und nach 3167 Seemeilen fest umschlungen Tränen der Freude und des Abschieds vergießen (S. 124–125). Diese Aufnahmen sind es, die nachhaltig berühren.
Bilder von besonderen Blicken
Die Intensität der verschiedenen Fotografien, auf denen die sehr unterschiedlichen Momente dieser Reise zwischen Teneriffa und Martinique festgehalten werden, ist sehr unmittelbar und wird nicht zuletzt durch die oftmals spannungsreiche Perspektive, die genaue Komposition und den bewusst gesetzten Bildausschnitt erzeugt – mal von weiter weg, mal ganz nah dran. Der Blick vom Tigergang (in dem das Ölzeug hängt) in die Messe auf Seite 28 wird zum Beispiel durch die prominent gesetzte Tür gerahmt, die nur einen kleinen Bereich freigibt, in dem einige der Frauen sitzen. Durch diese Bildstrategie werden jedoch ein Außen vor und ein Innen hinter der Öffnung betont und dadurch die Gemeinschaftlichkeit beim Essen im Bildmittelgrund hervorgehoben.
Auf der gegenüberliegenden Doppelseite sehen wir zwei Frauen im Klüvernetz, die sich gemeinsam den Sonnenaufgang ansehen (S. 29). Sie sitzen hintereinander, Seile, Netz, Mast und Segel laufen von beiden Bildrändern auf sie zu und mit ihnen die Blicke der Betrachter*innen, während die Abgebildeten selbst die Augen nach oben in den Himmel gerichtet haben. Dadurch wird ihre Nähe in diesem besonderen Moment des Tagesanbruchs hervorgehoben. Ähnlich verhält es sich, wenn Kapitänin Conni erklärt, wie Passatwolken entstehen (S. 83). Hier sitzen und stehen die Frauen in einem Kreis an Deck. Die Kamera ist so platziert, als wäre sie ein Teil der Gruppe, unter sich ein Fuß und eventuell der Teil eines Beins, neben sich ein Rücken, den Mittelpunkt bildet beinahe exakt der Punkt, auf den die Kapitänin bei ihren Erklärungen zeigt. Dadurch wirkt es, als würden wir als Betrachter*innen einbezogen in die Runde. Die Distanz zwischen Bild und Betrachtung wird ein stückweit aufgehoben und wir gehören beinahe zu dieser Gemeinschaft aus Frauen, Seefahrerinnen, Abenteurerinnen.
Bei einzelnen Bildern fragt man sich als Betrachter*in nicht selten, wo die Fotografin gestanden, gehockt oder wohin sie geklettert sein muss, um diese Aufnahme machen zu können. Sie hat also selbst keine Mühen und vor allem Höhen gescheut, um dieses außergewöhnliche Abenteuer in intensiven und teilweise sehr intimen Fotos zu dokumentieren. Dass ihr das gelungen ist, beweist der Band Windsbraut auf nachdrückliche Weise.
Der Bildband "Windsbraut" von Verena Brüning ist 2024 im März Verlag erschienen.
Zitation: Jenny Bünnig: Über Windsbräute und Seefahrerinnen. Ein Bildband von Verena Brüning, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 30.09.2025, www.gender-blog.de/beitrag/women-water/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250930
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