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Headergrafik: photogolfer/Adobe-Stock (Interiors of the royal opera, Versailles, France).

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Eine Phönix. Christine Wunnickes fulminante Wiederentdeckung Margherita Costas

04. April 2023 Tina Hartmann

Wer war Margherita Costa? Opernsängerin, Kurtisane – vor allem aber eine Dichterin, die schon zeitgenössisch aus allen Rahmen fiel. Doch wie lässt sich eine Autorin präsentieren, deren Werk seit über 300 Jahren vergessen ist? Christine Wunnikes Porträt, Werkauswahl und erste deutschsprachige Teilübersetzung Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht ist ein Glücksfall für Margherita Costa – und für ihre Leser:innen.

Zwischen Biografie und Textauslegung

Eigentlich sind es zwei Bücher in einem Band. Der zweisprachigen Werkauswahl ist ein Autorinnenporträt Costas vorgeschaltet über ihr wildes und unwahrscheinliches Leben zwischen den Betten hochrangiger Kleriker, Opernbühnen und Schreibtisch. Der ein knappes Drittel des Bandes umfassende Essay ist nicht nur im Umfang der zweisprachigen Werkauswahl ebenbürtig. Keine andere, mindestens keine deutschsprachige Autorin vermag derart auf Messers Schneide zwischen Biografie und Textauslegung zu tanzen wie Wunnicke bereits 2001 in ihrem Buch über den Kastraten Filippo Balatri.

Mit stupender universeller Kenntnis der Literatur-, Sozial-, Kirchen- und Operngeschichte des 17. Jahrhunderts werden so komplexe Vorgänge wie das intrigenreiche Gastspiel der italienischen Oper in Versailles 1647, vor allem aber die aus heutiger Sicht oft irrwitzigen Lebenssituationen Costas in wenigen Sätzen pointiert. Alles vor dem Hintergrund der italienischen Dichtung des 17. Jahrhunderts und ihrer Poetik, mit der hierzulande nur Expert:innen vertraut sein dürften. Mitunter wird vielleicht ein wenig zu sehr auf erotische Pointe geschrieben (etwa S. 21), wenngleich das natürlich naheliegt bei einer Autorin, die nicht nur ihren Lebensunterhalt vornehmlich im System sexueller Ausbeutung verdiente, sondern darüber auch noch schrieb.

Wenn Literatur zu Leben wird

Das Cover zeigt ein Phantom aus weißem Damastdekolleté unter rotem Umhang. Wunnickes bewundernswert umfassende Recherche greift angesichts ihres schattenhaften Gegenstands auch auf zahlreiche zeitgenössische Gemälde und Stiche zurück. Dass der Verlag diese bis auf einen aber nicht abbildet, ist sehr ärgerlich. Dennoch gelingt es der Autorin, die dürftigen Lebensdaten und Aktenvermerke in eine fulminante Geschichte zu verwandeln, die ihr pralles Leben zum guten Teil aus Costas Literatur saugt. Für den Zugang zu Costas Werk ist diese Vorinterpretation extrem hilfreich, wenngleich natürlich eine Perspektive vorgegeben wird.

Costas Geburtsjahr 1600 ist zugleich das der Oper. Wunnickes Essay und Auswahl zeigen eindrücklich, wie die Gedichte der Opernsängerin förmlich dem Resonanzraum der Oper entwachsen und dieser einen Spiegel vorhalten. Auch wenn in Venedig Frauen die Oper besuchen konnten (was durchaus nicht überall der Fall war), war sie ein Spiel nach patriarchal-misogynen Regeln. Die anarchischen, sexuell aktiven weiblichen Figuren in den Opern Francesco Cavallis, teilweise Claudio Monteverdis und anderer Wiederentdeckungen aus der Zeit bis 1700 sind dem Umstand geschuldet, dass die Opern im Karneval stattfanden. Sie bilden damit gerade die Verkehrung der tatsächlichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse, sind quasi ‚auf dem Kopf‘ und – wo sie Realität abbilden – als satirische Kritik zu lesen. Als solche entstammen sie praktisch ausschließlich den Federn von Männern.

In Costas Gedichten preisen weibliche Stimmen, effeminierte (wie der „Zerbino“) oder versehrte Männer Sexualität als Mittel zu ihrem Ziel, zu Täuschung und Vortäuschung. Das klingt nicht zufällig wie die Opernarien junger Nymphen oder Dienstmädchen, alternder Ammen und geiler Faune. Doch statt aus dem Spiegelkabinett des Karnevals blicken uns diese Figuren nun direkt ins Gesicht. Die Brüche zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ansprüchen an das Verhalten von Frauen, vor allem aber das permanente Changieren zwischen deren rigider Durchsetzung und ganz- oder teilweisen Aufhebung machen das Leben selbst zum Theater. Eindrucksvoll zeigen die Gedichte, wie die weibliche Stimme dieses permanente Spiel so verinnerlicht hat, dass sie selbst nicht weiß, was sie ist, und „hier erleben wir Margherita Costa in ihren feministischsten – und zugleich frauenfeindlichsten – Momenten“ (S. 37).

Stimmen der Ohnmacht

Costas Stimmen sind überwiegend Stimmen der Ohnmacht und zugleich Triumph derer, die auch daraus noch etwas machen. Der Briefwechsel einer (mutmaßlich über das geltende Schönheitsmaß) großen Frau und eines kleinwüchsigen Mannes gehört nicht nur zu den originellsten literarischen Liebeserklärungen, sondern verdient überdies einen Ehrenplatz in Texten zu gelingender Sexualität jenseits des patriarchal-phallischen Paradigmas. Ähnlich spektakulär, wenn auch auf einen anderen Ton gestimmt, ist der Blick einer Mutter auf ihre Tochter, die unter ihren Augen das Geschlecht wechselt, um einem glücklicheren Schicksal als gesellschaftlich privilegierter Junge entgegenzugehen. Ein skurriler Scherz? Oder Hinweis auf die gar nicht so seltene zeitgenössische Finte, ein Mädchen als Jungen zu erziehen, um beispielsweise Erbproblemen aus dem Weg zu gehen?

Ein Gedicht fällt aus dem Feuerwerk dieser ernsten Scherze heraus. In „Madre ad una sua Bambina inferma/Eine Mutter an eine ihrer Töchter, die krank ist“ sind gesellschaftliches Außen und Zukunftskalkül gleichermaßen ausgeblendet. Die Stimme Costas kommt zu sich mit einer Apotheose der buchstäblich ‚reinen‘ Liebe, in einem sich immer wieder arios verdichtenden (Opern-)Lamento. Die von Costa vielfältig variierten Themen von der Schönheit im Blick der Liebe und der Schönheit des Hässlichen werden im Angesicht des sterbenden Mädchens vom virtuosen Spiel zum authentischen Ausdruck. Formeln, die dem Liebesschmachten eines Operngalans entstammen könnten, wie „Idol del’Annima mia,/Scopo de‘ miei pensieri,/Vita della mia vita,/Luce Degl’ochi miei“ (S. 138/140), formen sich zu einem im besten Sinne zeitlosen Gedicht, das über die Kluft der Jahrhunderte hinweg zu zeitloser Gegenwart wird, „denn wenn sie stirbt, so sterbe ich mit ihr“ (S. 143). Authentische Erfahrung oder virtuoses Spiel? Jedenfalls kontrastiert das Gedicht aufs Schönste mit den von Wunnicke erschlossenen Fakten, nach denen Costa so unsentimental mit ihren zahlreichen Töchtern umging, wie es die Zeit einer Mutter gebot.

Wunnickes Übersetzung, ihre Einleitung und Anmerkungen zeugen von einer geradezu schwindelerregenden Sprachkompetenz (exemplarisch S. 61). Die Übersetzungen selbst orientieren sich erklärtermaßen am Sinn, was nicht einfach ist angesichts der metaphern- und anspielungsreichen Sprache (obgleich Costas Dichtung diesbezüglich schlanker und moderner ist als die vieler Zeitgenossen), und ist besonders heutig in den drastischen Schilderungen der Sexualität. An manchen Stellen erklingt aber auch das Echo deutscher Übersetzungen italienischer Libretti des 17. und 18. Jahrhunderts, wenn etwa aus „Vita dell’Anima mia“ überraschenderweise wird: „Mein Liebstes, meines Herzens Schatz“ (S. 138/139). Costas Gedichte sind mal metrisch streng und systematisch gereimt, mal variabel. Die Übersetzung greift die metrische und Reimgestalt der Gedichte genau, jedoch nicht sklavisch auf und bietet damit Übersetzungen von eigener literarischer Qualität, die besonders in Verbindung mit den Originaltexten kaum Wünsche übriglassen. Absolute Lektüreempfehlung!

Das Buch Margherita Costa. Die schöne Frau bedarf der Zügel nicht. Porträt, Werkauswahl und Übersetzung aus dem Italienischen von Christine Wunnicke ist 2023 bei Berenberg erschienen.

Zitation: Tina Hartmann: Eine Phönix. Christine Wunnickes fulminante Wiederentdeckung Margherita Costas, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 04.04.2023, www.gender-blog.de/beitrag/wunnicke-margherita-costas/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230404

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© Headergrafik: photogolfer/Adobe-Stock (Interiors of the royal opera, Versailles, France).

Prof. Dr. Tina Hartmann

Tina Hartmann ist Professorin an der Universität Bayreuth. Die Literaturwissenschaftlerin und Opernlibrettistin arbeitet u.a. zu Literatur des 18. Jahrhunderts, Librettologie, Gender und Diversity, kritische Kanonforschung, Literatur und Architektur, Literatur multilingualer Autor*innen. Publikationen u.a. Goethes Musiktheater (Niemeyer 2004) und Grundlegung einer Librettologie (De Gruyter 2017). Sie ist Herausgeberin der Singspiele und Abhandlungen für die Oßmannstedter C.M. Wieland-Ausgabe.

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