09. November 2023 Uta C. Schmidt
Ist es wirklich so, dass sich die Moderne durch ein lineares Zeitverständnis auszeichnet, während sich die Vormoderne zyklisch organisierte? Oder verdankt sich diese Trennung vielleicht nur Wissensordnungen, in denen einer zyklischen Zeit mit der daraus resultierenden Zeitlosigkeit in der immerwährenden Wiederholung die Rolle eines fiktiven Gegensatzes zugewiesen wird, um eine westliche lineare Zeit mit Entwicklung und Fortschritt umso überzeugender kreieren zu können?
Multiple Zeiten
Im Blick auf mittelalterliche Frauenklöster werden eher multiple Zeiten im Spannungsverhältnis zu heutigen, auf die moderne Uhrenzeit ausgerichteten Zeitvorstellungen deutlich (Adam 2005, S. 61). Klöster sind komplexe Organismen, die unterschiedliche soziale Schichten und eine Vielzahl von Personen umfassen (Lähnemann/Schlotheuber 2023, S. 28). Sie bestehen zudem aus einer unkündbaren Gemeinschaft von Lebenden und Toten. Alle haben spezifische Aufgaben mit eigenen Zeitlichkeiten, Rhythmen und Geschwindigkeiten. Das soziale Leben der Gemeinschaft konstituiert Zeit, die es bedingt und die sich in ihm abspielt. Diese Zeit ist weder linear oder zyklisch, sondern wird „als Abfolge, Dauer, Intensität, Vergehen und unumkehrbare Gerichtetheit“ gelebt (Adam 2005, S. 62). Klöster gelten seit Max Weber als Ursprungsorte eines getakteten Alltags und als Vorläufer kapitalistischer Arbeitsethik (Weber 1982, S. 315), Michel Foucault hat sie als „Meister der Disziplin“ beschrieben (Foucault 1977, S. 192). Doch abgesehen davon, dass Max Weber über Männerklöster und zudem über die Jesuiten spricht und damit die Lebensform mittelalterlicher Frauenklöster nicht zu greifen vermag, nehmen Klöster in der Gesellschaft des Mittelalters mit ihrem für uns heute fremden, religiösen Selbst- und Weltverständnis zentrale gesellschaftliche Funktionen wahr, die nicht in Zeitökonomie, Effizienz, Disziplinierung und Warencharakter aufgehen. Die Erfahrung von Zeit ist ein „integraler Bestandteil menschlicher Existenz“ (Adam 2005, 48), doch unterscheidet sie sich je nach historischer, sozialer wie kultureller Figuration (Elias 1984).
Das Kloster Gravenhorst
Beispielhaft werden die Überlegungen am Zisterzienserinnenkloster Gravenhorst entwickelt (Schmidt 2004, 2020). Im Jahre 1256 gründeten der Ministeriale Konrad von Brochterbeck und seine Frau Amalgardis von Budde in „Grauenhorst“ in der Diözese Osnabrück ein Zisterzienserinnenkloster zu Ehren der Jungfrau Maria (Wolf 1994, Nr. 3). Sie wurden dabei vom westfälischen Adel unterstützt, der das Kloster mit Eigentumsrechten an Gütern und Menschen sowie mit Privilegien ausstattete. Zehn bis vierzehn Konventualinnen lebten hier jeweils in Klausur. 542 Jahre existierte das Zisterzienserinnenkloster, bis es 1808 die Franzosen bei ihrer Machtübernahme in Westfalen auflösten: Im politischen Akt der Auflösung kommt die unumkehrbare Gerichtetheit der Zeit in ihrer sozialen Dimension besonders schlagend zum Ausdruck.
Mit zunehmender Macht wuchs das Bedürfnis der Ministerialenfamilien nach Repräsentation. Sie schufen sich mit der Gründung von Klöstern einen Ort des Gedenkens und eine Grablege. Gerade wenn kein männlicher Stammeshalter die Generationenfolge ihres Geschlechts auf Dauer stellte wie bei Konrad von Brochterbeck und Amalgardis von Budde, die Eltern zweier Töchter waren, bewahrte eine Klostergründung den Namen der Familie vor dem Vergessen in der Zeit (Hock 1994, S. 562, FN 17), er materialisierte sich in repräsentativer Architektur und wurde in der Geschichtsschreibung weitergetragen.
Frauenklöster als Signum der Zeit
Im 13. Jahrhundert entstanden in Westfalen 22 Zisterzienserinnenklöster (Muschiol 2002, S. 8). Das Zisterziensertum, 1098 als dissidente Gemeinschaft gegründet, entwickelte sich quer durch Europa zu einem äußerst erfolgreichen Ordensnetzwerk, da es als neuer Orden für ‚religiöse Avantgarde‘ stand, diese jedoch mit Ordnungsprinzipien verband, die seit Benedict von Nursia (480–547) das abendländische Mönchtum auszeichneten (Melville 2018, S. 34). Töchter des westfälischen Adels verlangten verstärkt nach Ermöglichungsräumen für ein spirituelles Leben (Muschiol 2002, S. 8). In der Klostergemeinschaft konnten sie Selbstheiligung, Gotteslob, Memoria pflegen und die Klosterökonomie managen. Durch die traditionsreiche Benediktregel mitsamt dem hohen symbolischen Kapital der modernen Klosteridee wurden Zisterzienserinnenklöster für adelige Führungsschichten attraktiv. Sie statteten Klöster mit Einkommen aus, im Gegenzug hatten die Gemeinschaften immerwährend gemäß des Apostelwortes „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess 5,17) für das Seelenheil ihrer Stifter:innen zu beten. In der Vorstellungswelt der Gesellschaft kam Gebeten von Jungfrauen, die in klösterlicher Klausur abgeschieden von der Welt lebten, eine besonders hohe Wirkkraft zu – und wenn diese dann noch aus der eigenen Familie stammten, waren die Gebete besonders zielführend. Damit ist eine der wichtigsten Zeitdimension des Klosters angesprochen: das Gebet, das das soziale Leben der Gemeinschaft und seine Zeiten bestimmt.
Das Fegefeuer
Mitte des 13. Jahrhunderts, in einer Zeit großer gesellschaftlicher Transformationsprozesse, hatte sich zwischen Himmel und Hölle ein 'dritter Ort' ausgedehnt: das Fegefeuer (Le Goff 1990, S. 10). Zeitlich lag es zwischen dem individuellen Tod und dem Jüngsten Gericht und wurde als eine Art Vorhölle vorgestellt, „in der man nicht ewig, sondern nur für einen begrenzten Zeitraum gemartert wurde“ (Le Goff 1990, S. 250). Das Verhältnis von irdischer, geschichtlicher Zeit und prophetischer Zeit der Vollendung des Einzelnen wird neu ausgerichtet. Es bestand jedoch die Möglichkeit, bereits zu Lebzeiten für die Zeit im Fegefeuer vorzusorgen und die Verweildauer dort zu verkürzen. Fürbittende Gebete durch klausurierte Jungfrauen konnten ein gutes Wort im Himmel und bei der Gottesmutter einlegen. Hier liegt einer der Anlässe für die Klostergründungen, denn die Bedürfnisse nach Fürbitte für die Zeit im Fegefeuer setzten „langanhaltende Solidargemeinschaften auf beiden Seiten des Todes, enge Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten und die Existenz von Institutionen, die beide miteinander verbinden“ voraus (Le Goff 1990, S. 22). Diese Ewigkeitsaufgabe übernahmen die Konventualinnen durch ihr gottesfürchtiges Leben im Gebet.
Horae regulares – Stundengebete
Dazu orientierte sich ihr Alltag am Psalmwort „Siebenmal am Tag singe ich dein Lob und nachts stehe ich auf, um dich zu preisen“ (Ps 119,62.164 EU). So wurde der Tag, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang reichte, in zwölf gleich lange Stunden eingeteilt. Dies bedeutete, dass die Stunden je nach Jahreszeit und regionaler Lage des Klosters unterschiedlich lang waren. Die Stundengebete begannen mit der Matutina, der Frühmette, gegen drei Uhr morgens; es folgt die Prima gegen fünf, sechs Uhr; die Tertia gegen acht, neun Uhr; die Sexta gegen elf, zwöf Uhr mittags; die Nona gegen zwei, drei Uhr nachmittags; die Vesper gegen vier, fünf Uhr und die Komplet gleich nach Sonnenuntergang. In der Nacht wurde die Virgil begangen. Zu jeder dieser Zeiten gab es eine dem Jahresverlauf angepasste Liturgie, die aus dem Lesen von Psalmen, dem Anstimmen von Antiphonen, aus Lobgesängen, Oratorien, Fürbitten, Kurzlesungen bestand, aus Verlesungen geistlicher Gedanken, aus Gebeten für die Mutter Gottes, für die Heiligen, für die Memoria und das Totengedenken der Stifter:innen. Zu allen hohen Festtagen – doch mindestens einmal im Monat – feierten die Zisterzienserinnen zudem das Hochamt, um „allen Nachstellungen des höllischen Feindes“ standhaft begegnen zu können (Visitation 1602). Indem diese Gebetszeiten gemeinsam gestaltet, gebetet, gemurmelt, gesungen werden, entsteht in dieser sozialen Praxis eine kollektive Temporalität, die sich nicht nach der Dauer bemisst, die die Klosterschwestern jeweils in der Gestaltung der horae regulares aufbringen, sondern die sie mit allen jemals in Gravenhorst gesprochenen Gebeten, gesungenen Liedern und gemurmelten Worten und allen zukünftig zu artikulierenden verbindet. Sie gestalten so Ewigkeit und sichern im Moment ihrer Artikulationen immerwährendes Gedenken.
Die Eigenhörigen in der Klosterwirtschaft
Das immerwährende Gebet im kontemplativen Leben konnte der Konvent nur realisieren, weil Eigenhörige die Klosterländereien für die Nonnen bewirtschaften. Das Überleben aller hing von auskömmlichen landwirtschaftlichen Erträgen und einer gut organisierten Klosterökonomie ab. Auch die Leibeigenen leisteten Zeitdienstleistungen, in diesem Falle durch die Bewirtschaftung des Landes, durch Hand- und Spanndienste also dadurch, dass sie, ihre Kinder und Kindeskinder für die Klosterschwestern arbeiten mussten. Ihre Tätigkeiten lassen sich kaum in Bildern des Zyklischen angemessen beschreiben, eher als Aufgaben, die sie in Interaktion mit nichtmenschlichen Organismen und den Rhythmen ihrer Umwelt erledigen mussten. Die Agrargesellschaft des Mittelalters stellt sich alles andere als zyklisch dar, denn es lauerte Unbill durch Witterung, Fäule und Schädlingsbefall sowie Not durch Seuchen, Gewalt und Krieg.
Wenn Krieg und Gewalt eruptiv als Ereignis in diese sozialen Vergemeinschaftungen mit ihren Rhythmen und Routinen einbrachen, war an einen Tagesablauf mit seinen verkörperten Zeitlichkeiten nicht mehr zu denken (Lähnemann/Schlotheuber 2023, S. 17ff.). Besonders schwer fiel es, bei Gefahr für Leib und Leben das Kloster zu verlassen: Dies kam einem Bruch der gelobten "stabilitas" gleich.
Literatur
Adam, Barbara (2005), Das Diktat der Uhr, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Elias, Norbert (1984), Über die Zeit, hg. v. Michael Schröter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1977), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hock, Gabriele Maria (1994), Die westfälischen Zisterzienserinnenklöster im 13. Jahrhundert. Gründungsumstände und frühe Entwicklung. Diss. Münster, veröffentlicht 2004 unter https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6-89649371873 (abgerufen am 23.10.2023).
Lähnemann, Henrike/ Schlotheuber, Eva (2023), Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter, Berlin: Propyläen.
Le Goff, Jacques (1990), Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbilds im Mittelalter, München: Klett-Cotta im Dt. Taschenbuch-Verl.
Melville, Gerd (2018), Warum waren die Zisterzienser so erfolgreich? Eine Analyse der Anfänge. In: Die Zisterzienser. Das Europa der Klöster. Begleitbuch zur Ausstellung – Die Zisterzienser – Das Europa der Klöster, 29. Juni 2017 bis 28 Januar 2018, hg. LVR-LandesMuseum Bonn, Darmstadt: Theiss, S. 21-37.
Muschiol, Gisela (2002), „Versorgungsfälle“ oder selbstbewusste Frauenfrömmigkeit? Die Frauenklöster Westfalens im Mittelalter. In: Paschert-Engelke, Christa (Hg.), Zwischen Himmel und Erde. Weibliche Lebensentwürfe und Lebensrealitäten in Westfalen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Münster: Ardey-Verlag, S. 7-16.
Schmidt, Uta C. (2006), „Der Ort: 750 Jahre Kloster Gravenhorst" und "Memoria! - 7 Positionen": zwei Ausstellungen zum 750. Gründungsjubiläum des Klosters Gravenhorst, Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung zum 750. Gründungsjubiläum des Klosters Gravenhorst, hg. v. Kreis Steinfurt, DA, Kunsthaus Kloster Gravenhorst, Steinfurt.
Schmidt, Uta C. (2020), 1270: Kloster Gravenhorst und das Riesenbecker Patronat. In: Heimatverein Riesenbeck (Hg.), Reinhildis. Miterbin Christi. Der Grabstein und seine Geschichte in der St. Kalixtus Kirche Riesenbeck, [Riesenbeck]: Heimatverein Riesenbeck, S. 92-106.
Visitation 1602, LA NRW Abt. Münster B 214, Kloster Marienfeld/ Akten Nr. 13-17.
Weber, Max (1982), Antikritisches Schlusswort zum „Geist des Kapitalismus“. In: Winckelmann, Johannes (Hg.): Die Protestantische Ethik Band 11. Kritiken und Antikritiken. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 283-345.
Wolf, Manfred (1994), Die Urkunden des Klosters Gravenhorst, Münster: Aschendorff.
Zitation: Uta C. Schmidt: Zeit in mittelalterlichen Frauenklöstern, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 09.11.2023, www.gender-blog.de/beitrag/zeit-frauenkloester/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231109
Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz