Skip to main content
Headergrafik: Africa Studio/Adobe Stock

Forschung

„Wann ist man ein Mann?“ Wandel männlicher Lebenslagen und Transformation von Männlichkeit

10. September 2019 Diana Baumgarten

„Was bedeutet es für euch, ein Mann zu sein?“ – Diese Frage haben wir für unser DFG-Forschungsprojekt „Neujustierungen von Männlichkeiten“ verschiedenen Männergruppen in unterschiedlichem Alter und in verschiedenen Städten in Deutschland gestellt. Sie scheint heute nicht mehr so einfach und vor allem nicht eindeutig zu beantworten. Im Gegenteil, oft löst die Frage zögerliches Suchen nach einer passenden Antwort aus. Diese Reaktion verstehen wir als deutliches Zeichen der Reflexivierung und Flexibilisierung von Männlichkeiten. Routinierte Erzählungen à la ‚Ein richtiger Mann ist …‘, die für alle befragten Männer gleichermaßen gelten, sind nicht mehr verfügbar.

Bürgerliche Männlichkeit bröckelt

Die Vorstellung von Männlichkeit, wie sie mit der bürgerlichen Moderne entstanden ist, erodiert. Das Idealbild des beruflich erfolgreichen Mannes, der im Rahmen eines Normallebenslaufs in einem Normalarbeitsverhältnis erwerbstätig ist, ist zunehmend in Auflösung begriffen. Existenzsicherndes Einkommen, langfristige Anstellung, arbeitsvertragliche Stabilität und sozialrechtliche Absicherung stellen keine Selbstverständlichkeiten mehr dar, an die Männer so ohne weiteres anknüpfen können. Die tradierte Männlichkeitskonstruktion wird durch den Rückgang männlich-dominierter Arbeitsplätze in den Großindustrien, eine zunehmende Unsicherheit von Beschäftigungsverhältnissen und eine gestiegene Konkurrenz – nicht nur durch andere Männer, sondern auch durch sehr gut qualifizierte Frauen – herausgefordert. Dadurch erleben Männer einen Verlust des männlich-homosozialen Charakters vieler Arbeitsplätze. Die Entwicklung einer ‚berufszentrierten Männlichkeit‘, für viele immer noch wesentlicher Bestandteil männlicher Identität, wird somit immer schwieriger (Lengersdorf/Meuser 2010). Mit dem sich gegenwärtig vollziehenden strukturellen Wandel von Erwerbsarbeit verändern sich also auch die Bedingungen, unter denen eine berufszentrierte Männlichkeit hergestellt werden kann (Heilmann/Scholz 2017).

(Neue) Väter sind auch Männer

Wie Männlichkeit konstruiert wird, hängt in zunehmendem Maß auch mit Vaterschaft zusammen, denn es lassen sich Veränderungen hinsichtlich des Orientierungsmusters von Vaterschaft feststellen. Vielen Männern ist es heute ein großes Bedürfnis, anders in der Familie ‚präsent‘ zu sein, als dies in früheren Generationen der Fall war. Emotionale Zugewandtheit zur Familie und die Möglichkeit, sich mehr an der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder zu beteiligen sowie eine tragfähige Beziehung zu ihnen aufzubauen, ist ihnen wichtig (Baumgarten et al. 2017). Diese veränderten Ansprüche an Vaterschaft wirken auf die berufliche Sphäre zurück und evozieren ebenfalls Veränderungen der Erwerbsarbeit. Hinzu kommen vermehrt Fragen der Work-Life-Balance sowie der Gesundheits- und Selbstsorge. Damit wird auch die geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit reorganisiert. Wenn auch derzeit (noch) mit der Konsequenz, dass Frauen mehrheitlich berufstätig sind, jedoch weiterhin den Löwenanteil an unbezahlter Haus- und Familienarbeit leisten (Lenz et al. 2017).

Veränderte Männlichkeiten – Wie geht das?

Die Transformationen und Reorganisationen dessen, was Männlichkeit bislang ausmacht, und die damit verbundenen vielfältigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen werden durchaus ambivalent erlebt. In den Gruppendiskussionen finden wir einerseits Versatzstücke einer traditionellen, selbstgewissen Männlichkeit, etwa dann, wenn behauptet wird, als Mann die Verantwortung für die Firma oder die Familie zu tragen oder als Mann besser für einen bestimmten Beruf geeignet zu sein. Herkömmliche Formen und Vorstellungen von Männlichkeit haben wir in allen von uns untersuchten Altersgruppen und auch in allen Milieus gefunden. Andererseits wird in unserem Material deutlich, wie diese traditionellen Selbstgewissheiten mittlerweile sogar in männertypischen Berufsfeldern irritiert und damit diskursiviert werden. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die oben erwähnte Verantwortung als ‚Bürde‘ und (fremdbestimmte) gesellschaftliche Erwartung beschrieben wird, oder wenn Verantwortung für die Familie nicht mehr auf die Aufgabe des Ernährers begrenzt ist, sondern um Elemente von Care erweitert wird. Verschiedene Anforderungen und Wünsche geraten da schnell einmal in Widerspruch zueinander.

Versuchen, ein anderer Mann zu sein

Diese Widersprüche lassen nicht wenige Männer nach neuen Formen von Männlichkeit und nach alternativen Lebensformen von Familie suchen. Sie diskutieren Lebensentwürfe, in denen es mehr geben soll als Lohnarbeit und Familie und in denen mit Familie nicht Blutsverwandte gemeint sind, sondern auch Freunde mit eingeschlossen werden. In diesen Perspektiven wird zunehmend die gesellschaftliche Macht von Männern selbst grundlegend infrage gestellt (Demirović/Maihofer 2013). Statt Formen der bürgerlichen Männlichkeit einzuüben, wählen sie beispielsweise einen Beruf wie Sozialarbeiter. Und sie machen sich „viele Gedanken“ über ihr Verhalten, versuchen, „sensibel damit umzugehen“ und überhaupt für andere da zu sein und sich für deren Wohlbefinden verantwortlich zu fühlen (Maihofer 2019). Sie entziehen damit ihre Zustimmung zum bisherigen Geschlechterverhältnis. Der Wunsch, andere – Männer wie Frauen – zu dominieren verliert sich zugunsten eines gleichwertigen Verhältnisses.

Weniger Mann-Frau-Dualismus

Mit dem Nachdenken darüber, was ein Mann, was eine Frau ist – findet auch eine Diversifizierung statt. Oder anders gesagt, es findet eine Wertschätzung von Vielfalt statt. Geschlecht wird nicht mehr ausschließlich als Schicksal verstanden, sondern als hinterfrag- und damit gestaltbar (Lenz et al. 2017). Wobei das Hinterfragen insbesondere biologistischer Definitionen aus dem 19. Jahrhundert bereits in den 1970er-Jahren begonnen hat. Dass wir heutzutage versuchen, uns von einem starren Mann-Frau-Dualismus zu lösen und vermehrt von einer flexibilisierten Geschlechterordnung sprechen, in der Homosexualität zunehmend anerkannt ist und auch Trans- und Intersexualität entstigmatisiert werden, geht auf gesellschaftliche Transformationsprozesse zurück, die bereits vor mehr als 50 Jahren patchworkartig begonnen haben und sich nun verdichten. Dabei ist die wachsende Flexibilität und Reflexivität von Männlichkeiten weniger eine intentionelle Errungenschaft veränderungswilliger Männer, denn eine unintendierte Konsequenz der „Erschöpfung“ (Völker 2006) der industriegesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse und Männlichkeitskonstruktionen (Lengersdorf/Meuser 2017). In diesem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ist eine emanzipatorische Dynamik festzustellen: Für die Menschen eröffnen sich Freiräume und Chancen, ihre eigenen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie überhaupt von Geschlechtlichkeit zu leben.

Literatur

Baumgarten, Diana; Wehner, Nina; Maihofer, Andrea & Schwiter, Karin (2017). „Wenn Vater, dann will ich Teilzeit arbeiten“. Die Verknüpfungen von Berufs- und Familienvorstellungen bei 30jährigen Männern aus der deutschsprachigen Schweiz. In Alemann, Annette von; Beaufaÿs, Sandra & Kortendiek, Beate (Hrsg.): Alte neue Ungleichheiten? Auflösungen und Neukonfigurationen von Erwerbs- und Familiensphäre (S. 76–91). GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, Sonderheft 4, abrufbar unter https://genderstudies.philhist.unibas.ch/fileadmin/user_upload/genderstudies/Publikationen/Baumgarten_etal_Teilzeit_bei_Maenner_Gender_Sonderheft4.pdf.

Demirović, Alex & Maihofer, Andrea (2013). Vielfachkrise und die Krise der Geschlechterverhältnisse. In Nickel, Hildegard M. & Heilmann, Andreas (Hrsg.): Krise, Kritik, Allianzen. Arbeits- und geschlechtersoziologische Perspektiven (S. 30–48). Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Heilmann, Andreas & Scholz, Sylka (2017). Caring Masculinities – gesellschaftliche Transformationspotentiale fürsorglicher Männlichkeiten. Feministische Studien, Bd. 35, H. 2, 345—353. https://doi.org/10.1515/fs-2017-0036

Lengersdorf , Diana & Meuser, Michael (2017). Flexibilität und Reflexivität. Männlichkeiten im globalisierten Kapitalismus. In Lenz, Ilse; Evertz, Sabine & Ressel, Saida (Hrsg.): Geschlecht im flexibilisierten Kapitalismus? Neue UnGleichheiten (S. 31–48). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15348-9_3

Lengersdorf , Diana & Meuser, Michael (2010). Wandel von Arbeit – Wandel von Männlichkeiten. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Jg. 35, H. 2, 89–103. https://doi.org/10.1007/s11614-010-0056-x

Lenz, Ilse; Evertz, Sabine & Ressel, Saida (Hrsg.). (2017). Geschlecht im flexibilisierten Kapitalismus? Neue UnGleichheiten. Wiesbaden: Springer VS https://doi.org/10.1007/978-3-658-15348-9_1

Maihofer, Andrea (2019). Caring Masculinities. In Scholz, Sylka & Heilmann, Andreas (Hrsg.): Caring Masculinities? Männlichkeiten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften (S. 63–78). München: oekom Verlag.

Völker, Susanne (2006). Praktiken der Instabilität. Eine empirische Untersuchung zu Prekarisierungsprozessen. In Aulenbacher, Brigitte (Hrsg.): FrauenMännerGeschlechterforschung. State of the Art (S. 140–154). Münster: Westfälisches Dampfboot.

Zitation: Diana Baumgarten: „Wann ist man ein Mann?“ Wandel männlicher Lebenslagen und Transformation von Männlichkeit, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.09.2019, www.gender-blog.de/beitrag/wandel-maennlicher-lebenslagen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20190910

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Africa Studio/Adobe Stock

Dr. Diana Baumgarten

Dr. Diana Baumgarten ist Lehrbeauftragte im Bereich Gender Studies an den Universitäten Basel und St. Gallen (beide CH). Ihre Forschungsgebiete sind Familie, Mutterschaft und Vaterschaft, Konstruktionen von Geschlecht; insbesondere von Männlichkeit.

Zeige alle Beiträge
Profilseite Dr. Diana Baumgarten

Kommentare

Uta C. Schmidt | 11.09.2019

Herzlichen Dank für diesen anregenden Beitrag. Ihr Hinweis auf die zeitliche Dimension von Veränderung finde ich immens wichtig. In diesem Kontext sei darauf hingewiesen, dass der Song „Männer“ von Herbert Grönemeyer mit seiner aufwühlenden Frage „Wann ist ein Mann ein Mann?" im Refrain bereits 1984 erschienen ist – seit 35 Jahren stellt er seine Fragen nach Männlichkeit. Für mich stellt sich hingegen die Frage, ob man die Veränderungen mit dem Bild der „Erschöpfung“ der industriegesellschaftlichen Geschlechterordnung und Männlichkeitskonstruktionen beschreiben sollte, oder aber als diskursive Aktualisierung und lebensweltliche Erfahrungen im Rahmen permanenter Justierung des Geschlechterverhältnisses als grundlegender gesellschaftlicher Organisationsstuktur. Und zu guter Letzt: Gibt es auch Forschungen, die sich mit Männern befassen, wie ich sie Woche für Woche in Pflegeeinrichtungen treffe: großgeworden im Rahmen unhinterfragter hegemonialer Männlichkeiten einer Arbeitsgesellschaft (des Ruhrgebiets), die sich plötzlich als Ehemann oder Sohn in einem sorgenden Verhältnis wiederfinden, ohne sich reflexiv je damit auseinandergesetzt zu haben? Hier trifft die „Erschöpfung“ industriegesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse zwar zu, aber eher als individueller Zustand.