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Debatte

Racial Profiling betrifft auch Mädchen

21. Januar 2020 Markus Textor

Anders als in den USA wird in Deutschland erst seit ca. 2010 vereinzelt über Racial Profiling gesprochen. In der Polizeipraxis werden bspw. Kontrollen und Durchsuchungen von Personen auch ohne ein konkretes Verdächtigungsmoment, sondern überwiegend aufgrund von rassistischen Zuschreibungen durchgeführt. Neben der häufigen Annahme, es seien überwiegend Männer von Racial Profiling betroffen, entsteht der Eindruck, dass sich die Praxis lediglich auf der Ebene der Kontrollen und Durchsuchungen abspielt, womit vollkommen außer Acht gelassen wird, dass Racial Profiling in vielen Fällen auch mit körperlicher Polizeigewalt einhergehen kann.

In meinem Dissertationsprojekt gehe ich der Frage nach, welche Erfahrungen Jugendliche und Heranwachsende mit Racial Profiling – auch in seiner gewalttätigen Form – machen. Obwohl in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen diesbezüglich fast ausschließlich männliche Personen sichtbar sind, lässt sich mit meinem Datenmaterial zeigen, dass Mädchen ebenfalls vielschichtige Erfahrungen mit der Polizeipraxis machen.

Racial Profiling in der deutschsprachigen Forschung

In der deutschsprachigen Forschung ist die Polizeipraxis samt ihrer Folgen – anders als bspw. in den Vereinigten Staaten, wo einige umfangreiche Studien zum Thema erschienen sind (vgl. z. B. Harris 1999; Harris 2012; Epp/ Maynard-Moody/Haider-Markel 2014) –, bis auf ein paar wenige Aufsätze und Kommentare kaum thematisiert worden. Eine große Ausnahme stellt die jüngst erschienene qualitative Studie einer Schweizer Forschungsgruppe dar, die die Erfahrung von Betroffenen untersucht (vgl. Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling 2019). Neben den zahlreichen Erkenntnissen zu den teils sehr gewaltvollen Formen der Polizeipraxis, werden dort auch Möglichkeiten des individuellen und kollektiven Widerstandes vorgestellt.

Obwohl in dieser Studie deutlich wird, dass Frauen Erfahrungen mit Racial Profiling machen, entsteht der Eindruck, dass überwiegend Männer von körperlichen Gewalterfahrungen, also von Polizeigewalt im Kontext von Racial Profiling, betroffen sind. So bringen die Autor*innen zum Ausdruck, dass in ihrem Sample vor allem junge Männer häufigere und intensivere Kontakte zur Polizei haben als bspw. ältere Männer oder Frauen (vgl. ebd. 72ff.). Die Studie zeigt allerdings, dass Frauen im Kontext von Sexarbeit öfter durch die Polizei benachteiligt werden. Sowohl Sexarbeiterinnen als auch Frauen, von denen die Polizei annimmt, es seien Sexarbeiterinnen, machen vielschichtige Erfahrungen mit Racial Profiling. Während letztere vor allem unangenehmen Kontrollen im öffentlichen Raum ausgesetzt sind, erleben Frauen, die tatsächlich in diesem Gewerbe arbeiten, neben den alltäglichen Kontrollen auch Razzien an ihrem Arbeitsplatz. Diesbezüglich machen die Frauen auch Gewalterfahrungen mit der Polizei (vgl. ebd. 74f.).

Die Schweizer Veröffentlichung kann als erste qualitative Forschungsarbeit, die ausschließlich Racial Profiling zum Gegenstand hat, bezeichnet werden. Quantitative Studien zum Thema sind bisher nicht erschienen und es liegt auch keine Statistik von der Polizei oder anderen Behörden vor, auf die zurückgegriffen werden könnte.

Ein genaueres Verständnis von Racial Profiling

Wie eingangs bereits dargelegt, liegt meinem Dissertationsprojekt ein Verständnis von Racial Profiling zugrunde, dass sich nicht ausschließlich auf das Phänomen rassistischer Kontroll- und Durchsuchungsmomente beschränkt, sondern auch die oftmals sehr gewaltvollen Konsequenzen von Racial Profiling thematisiert. Sowohl die Initiative KOP als auch die kollaborative Forschungsgruppe weisen darauf hin, dass Racial Profiling in vielen Fällen weit über Polizeikontrollen hinausgeht und immer auch im Zusammenhang mit Polizeigewalt betrachtet werden muss (vgl. KOP 2014, 12; Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling 2019, 30ff.).

Aus der US-amerikanischen Forschung ist bekannt, dass beim Racial Profiling die Kategorie race – diese kann im deutschsprachigen Kontext etwa mit ‚rassistischer Diskriminierung‘ übersetzt werden – zwar eine dominante Funktion hat, diese jedoch nicht zwangsläufig das alleinige Merkmal von Racial Profiling darstellen muss (vgl. bspw. Harris 2012; Hutchins 2017). Diese Erkenntnis ermöglicht ein genaueres Verständnis der Fälle, indem bspw. berücksichtigt wird, wie bedeutsam bestimmte Orte, Zeiten oder auch Attribute, wie z. B. ein spezielles Fahrzeug oder ein spezieller Kleidungsstil für Racial Profiling sind. Ferner kann durch die Anerkennung, dass race nicht das einzige Merkmal bei Racial Profiling ist, die Analyse hinsichtlich einer intersektionalen Betrachtungsweise geöffnet werden. Mit dieser ist es möglich, Marginalisierungen entgegenzuwirken und Diskriminierungsverhältnisse zu benennen, die bisweilen keinen oder nur wenig Einzug in den Diskurs um Racial Profiling genommen haben.

Die Erfahrungen von Mädchen

Mithilfe von Gruppengesprächen und biografisch-narrativen Einzelinterviews rekonstruiere ich sowohl die Erfahrungen von männlichen als auch von weiblichen Jugendlichen mit Racial Profiling. Dabei kristallisiert sich heraus, dass Mädchen vielschichtige Erfahrungen mit dieser Praxis machen. Ihre Darstellungen decken ein Spektrum ab, das von rassistischen Polizeikontrollen bis hin zu schwerer körperlicher Misshandlung durch Polizist*innen reicht. Während an einer Stelle von einer Interviewpartnerin dargestellt wird, wie erniedrigend sie eine Polizeikontrolle am Bahnhof wahrnimmt, berichtet eine andere Teilnehmerin, dass sie von einem Polizisten, der sie aufgrund einer Schlägerei nach Hause bringt, im Flur der Wohnung brutal an den Haaren gezogen wird. Als sie und ihre Mutter sich bei der Dienststelle beschweren, wird die Beschwerde durch den Beamten und seine Kollegen entkräftet, indem diese behaupten, der Vorfall habe sich nie ereignet. Dieses Verhalten wird in der Polizeiforschung unter dem Themenkomplex „Korpsgeist“ diskutiert: Eine wesentliche Funktion ist, dass sich die Polizist*innen untereinander auch bei groben Fehlern schützen, um ihre Organisation nach außen hin nicht angreifbar zu machen (vgl. Behr 2006, 91 ff.). Dieselbe Interviewpartnerin berichtet von einer beobachteten Gewalterfahrung, in der ein Polizist so lange auf ihre Freundin einschlägt, bis diese bewusstlos wird. Eine andere Interviewpartnerin erzählt, dass sie eine körperliche Misshandlung durch ihren Bruder erfährt, als sie von der Polizei aufgrund eines Diebstahls nach Hause gebracht wird, da dieser es für nötig erachtet, sie für den Regelverstoß zusätzlich zu bestrafen. Letzteres kann als gewalttätige Folge von polizeilichem Handeln betrachtet werden. Anders als in der Schweizer Studie, kann bei keiner der Interviewten ein Bezug zur Sexarbeit hergestellt werden.

Anstoß zu neuem Diskurs geben

Erfahrungen wie diese haben bisher keinerlei Einzug in öffentliche und wissenschaftliche Diskurse um Racial Profiling oder rassistische Polizeigewalt gefunden. Anhand der Darstellungen aus meinem Material lässt sich zeigen, dass Mädchen keineswegs vor Polizeigewalt im Kontext von Racial Profiling geschützt sind, sondern sehr drastische Erfahrungen diesbezüglich machen. Ferner zeigt sich, inwiefern die Polizei die Möglichkeit hat, Widerstandsversuche zu verhindern. Dies zementiert die von den Betroffenen ohnehin schon wahrgenommene Übermacht der Polizei, indem deutlich wird, dass sowohl während der Übergriffe als auch danach relativ wenig Handlungsmacht besteht. Es ist anzunehmen, dass es sich bei den Ausführungen um keine Einzelfälle handelt, sondern dass diese Erfahrungen von einigen Mädchen und jungen Frauen geteilt werden. Und dies auch vollkommen unabhängig davon, ob ein Kontext zur Sexarbeit hergestellt wird oder nicht.

Da ich mich noch in der Auswertung des Datenmaterials befinde, lassen sich sicherlich noch weitere Hinweise auf Racial Profiling und rassistische Polizeigewalt aus den Erfahrungsberichten der Jugendlichen rekonstruieren. Im Anschluss an meine Ausführungen scheint es aber bereits jetzt sinnvoll einen Anstoß zu einem Diskurs zu geben, der bisher in dieser Form nicht geführt worden ist: Denn, dass Racial Profiling – auch in seiner gewalttätigen Form – ebenfalls Mädchen betrifft, spricht dafür, das Phänomen intersektional zu untersuchen. Dies ist in den deutschsprachigen Forschungen zum Thema bisher nicht hinreichend bearbeitet worden.

Literatur

Behr, Rafael (2006). Polizeikultur. Routinen – Rituale – Reflexionen. Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Epp, Charles R.; Maynard-Moody, Steven & Haider-Markel, Donald P. (2014). Pulled over. How police stops define race and citizenship. Chicago, London: The University of Chicago Press.

Harris, David A. (1999). The Stories, the Statistics, and the Law: Why “Driving While Black Matters”. Minnesota Law Review, 84, S. 265-326. http://academic.udayton.edu/race/03justice/dwb01.htm#Introduction (Zugriff am 03.12.2019).

Harris, David A. (2012). Hearing on “Ending Racial Profiling in America”. [Zeugnis vorgelegt dem] Subcomittee on the Constitution, Civil Rights and Human Rights Senator Richard Durbin, Chair. http://www.aila.org/File/Related/12041748B.pdf (Zugriff am 03.12.2019).

Hutchins, Renée McDonald (2016). Racial Profiling: The Law, the Policy, and the Practise. In: Davis, Angela J. (Hg.): Policing the black man. Arrest, prosecution, and imprisonment. New York: Pantheon, S. 95–134.

KOP – Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (2014). “If you see something - say something”. Racial Profiling als Prinzip rassistischer Polizeigewalt. In: Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V.. Leben nach Migration – Newsletter Nr. 1, 2014, S. 11–14.

Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling (2019). Racial Profiling. Erfahrung, Wirkung, Widerstand. Unter Mitarbeit von Katharina Pühl. Berlin, Bern: Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Zitation: Markus Textor: Racial Profiling betrifft auch Mädchen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 21.01.2020, www.gender-blog.de/beitrag/racial-profiling-maedchen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200121

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Markus Textor

Markus Textor promoviert an der PH Freiburg zu den Erfahrungen Jugendlicher mit Racial Profiling. Darüber hinaus arbeitet er als Sozialpädagoge und ist in der Antidiskriminierungsarbeit tätig. Arbeitsschwerpunkte: Racial Profiling und Rassismus, Geschlechterverhältnisse und kritische Männlichkeit, Antidiskriminierungspolitik und -beratung.

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