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Interview

Wissenschaftspreis für Genderforschung NRW – Interview mit den Preisträgerinnen

28. Januar 2020 Uta C. Schmidt

Das Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW hat im Januar 2020 erstmalig den Wissenschaftspreis für Genderforschung verliehen. Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen betont: „Der neu geschaffene Forschungspreis unterstreicht die Bedeutung der Genderforschung. Der Preis würdigt die wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz von Forschung mit Geschlechterbezug und fördert die Arbeit von leistungsstarken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.“ Prof. Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D., hebt hervor: „Genderforschung räumt auf mit einer Vielzahl von vorherrschenden Stereotypen und hat dabei eine aufklärerische Funktion. Sie bearbeitet Konflikte, die nach wie vor die Geschlechtergerechtigkeit in unserer Gesellschaft hemmen.“ Ausgezeichnet wurde Dr. Anna Sieben von der Ruhr-Universität Bochum für ihre Arbeiten aus dem Bereich der Kulturpsychologie. Die zweite Preisträgerin, Dr. Heike Mauer, kommt von der Universität Duisburg-Essen und forscht im Themenfeld der Politik- und Sozialwissenschaften. Im Interview sprechen die Preisträgerinnen über ihre Forschung.

Als Genderforscherin wird frau ja nicht geboren ... Wie und warum entwickelten Sie ein Interesse an Geschlechterfragen?

Anna Sieben: Während meines Psychologiestudiums bin ich auf viele Aussagen über Männer und Frauen gestoßen. Einige davon haben mich unmittelbar gestört und irritiert. Hierzu zählt beispielsweise die These eines Dozenten in Neuropsychologie, der beschrieb, dass bei Männern in einer bestimmten Hirnregion Sexualität und Aggression lokalisiert seien, und damit erklärte, warum es zu Vergewaltigungen im Krieg kommt. Andere Aussagen waren weniger drastisch und dem Anschein nach „neutraler“. Mich hat die Frage umgetrieben, wie anhand wissenschaftlicher Kriterien gezeigt werden kann, dass und wie psychologische Forschungsarbeiten von stereotypen Vorstellungen geprägt sind. Dieser Frage bin ich dann in meiner Dissertation nachgegangen. Dort habe ich untersucht, wie in klassischen psychologischen Theorien Geschlecht und Sexualität untersucht und thematisiert werden (Sieben 2014).

Heike Mauer: Das Interesse an einer Perspektive, die Geschlechterverhältnisse systematisch in die politik- und sozialwissenschaftliche Forschung integriert, begleitet mich seit dem Beginn meines Studiums. Für mich sind Politik und das Politische von Fragen nach der gesellschaftlichen Geschlechterordnung nicht zu trennen. Mich beschäftigt die Frage, wie eine geschlechtergerechte Demokratie aussehen muss und welche Institutionen hierfür notwendig sind. Wir leben ja in einer demokratischen Gesellschaft, die mal besser und mal schlechter funktioniert. Wie soll also eine Geschlechterdemokratie aussehen? Wie können Geschlechterverhältnisse demokratisiert werden? Hannah Arendt hat davon gesprochen, dass der Begriff des Menschen, um politisch brauchbar zu sein, „die Pluralität der Menschen stets in sich einschließen“ müsse. Die Geschlechterdifferenz war für sie hierfür ein Beispiel. Nun hat Arendt Geschlecht essentialistisch und binär gefasst, heute muss es auch Aufgabe der Politikwissenschaft sein, Geschlecht nicht-binär und intersektional zu denken. Dass Geschlecht nicht losgelöst von Staatsbürgerschaft und sozialer Herkunft gedacht werden kann, hat mich bei der Erarbeitung meiner Dissertation „Intersektionalität und Gouvernementalität. Die Problematisierung der Prostitution in Luxemburg um 1900 bis zum Ende der Zwischenkriegszeit“ geleitet (Mauer 2018).

Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen und Prof. Dr. Rita Süßmuth mit den Preisträgerinnen Dr. Anna Sieben und Dr. Heike Mauer
Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen und Rita Süßmuth mit den
Preisträgerinnen Anna Sieben und Heike Mauer (von rechts nach links).
Zukünftig wird der Genderforschungspreis als
„Rita-Süßmuth-Forschungspreis“ alle zwei Jahre ausgeschrieben. 

 

Welche Impulse gehen von Ihrer Forschung für die Psychologie bzw. Politikwissenschaft aus?

AS: Mir geht es darum zu verstehen, wie die Psychologie, die es ja seit rund 150 Jahren gibt, unser Zusammenleben verändert hat. Psychologisches Wissen und psychologische Praktiken wie die Psychotherapie prägen in entscheidender Weise, was in spätmodernen Gesellschaften als „richtiges“, „gutes“ oder „gesundes“ Leben verstanden wird. Damit gehen häufig Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit einher. Um diesen normativen Gehalt kritisch zu reflektieren, bedarf es der Perspektiven, Methoden und Theorien der Genderforschung. Konkret beschäftige ich mich seit einiger Zeit mit Elternschaft und dem Einfluss psychologischer Theorien auf Vorstellungen „guter“ Elternschaft. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das attachment parenting, das die Erkenntnisse der Bindungstheorie aufgreift. Diese Erziehungsphilosophie untersuche ich in Deutschland und in der Türkei. Nehme ich dabei auch die Perspektive der Genderforschung ein, so lässt sich zeigen, wie psychologische Theorien eingesetzt werden, um Fragen nach bestimmten Geschlechterverhältnissen zu diskutieren – und auch normativ zu klären. So wird die besagte Bindungstheorie in Deutschland immer wieder herangezogen, um die Berufstätigkeit von Müttern zu problematisieren. In der Türkei hingegen spielt diese Diskussion kaum eine Rolle, hier wird die Bindungstheorie jedoch herangezogen, um einen mütterlichen sensiblen von einem väterlichen autoritären Erziehungsstil zu unterscheiden.

HM: Die Politische Theorie und Ideengeschichte beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie eine gerechte Gesellschaft oder eine gute politische Ordnung aussehen kann. Bereits Aristoteles gibt hierauf eine Antwort, die sehr klar zwischen der Begegnung zwischen Freien und Gleichen in der Polis und den Verhältnissen im Oikos, einer Sphäre der Herrschaft des Hausherrn über Frauen, Kinder und Sklaven, unterscheidet – und beide Sphären zugleich in eine Beziehung miteinander stellt. Dass hierbei quasi en passant auch Geschlechterverhältnisse verhandelt werden und das Politische mit (einer bestimmten Form von) Männlichkeit verwoben und die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten vergeschlechtlicht wird, hat vor allem die feministische Politikwissenschaft sichtbar gemacht. Die Konstruktion des Politischen, aber auch politischer Kategorien wie Staatsbürgerschaft, Nation oder Demokratie sind jedoch nicht nur vergeschlechtlicht, sondern auch durch Rassifizierungsprozesse gekennzeichnet. Sichtbar wird dies gegenwärtig auch in der Verschränkung von antifeministischen und rechtspopulistischen Diskursen (Dormal/Mauer 2018).

Die Preisgelder wurden für die Fortführung Ihrer wissenschaftlichen Arbeit verliehen. Welche Forschungsprojekte werden Sie nun realisieren können?

AS: Der erste Teil des Preisgeldes wird für die Organisation und Durchführung der dritten Konferenz „Queere und feministische Perspektiven für die Psychologie“ in Bochum veranschlagt. Hier möchte ich an meine bisherigen Forschungen anknüpfen (Sieben/Scholz 2012). Diese Konferenz bietet erfahrungsgemäß vor allem Studierenden und Promovierenden ein Forum zum Austausch. Die Konferenz soll erstens Psycholog*innen die Möglichkeit bieten, sich in kritischer Perspektive mit der eigenen Disziplin auseinanderzusetzen. Zweitens soll ein Raum entstehen, in dem ausgewählte Ansätze der Psychologie auch für die Geschlechterforschung nutzbar gemacht werden. Ziel der Konferenz ist ein stärkerer Austausch zwischen Psychologie und Genderforschung. Der zweite Teil des Preisgeldes wird zur Entwicklung eines neuen Forschungsprojekts verwendet. Wie bereits erwähnt, habe ich attachment parenting bislang in der Türkei untersucht. Aktuell führe ich Interviews mit Müttern in Deutschland. In meiner eigenen Forschung wie auch in vergleichbaren Studien zu attachment parenting in Großbritannien, Frankreich, Island oder den USA werden fast ausschließlich Mütter befragt und interviewt (Sieben/Pauge/Ruppel 2018). Darüber, welche Rolle Väter beim attachment parenting spielen und wie sie selbst zu dieser Erziehungsphilosophie stehen, ist wenig bekannt. In diesem Feld plane ich erste empirische Erkundungen. Da mit Elternschaft wie auch mit populärwissenschaftlichem psychologischem Wissen in stereotyper Weise eher Frauen als Männer assoziiert werden, erscheint es mir ausgesprochen interessant und vielversprechend, in Zukunft den Blick stärker auf Zusammenhänge zwischen Männlichkeit und der Psychologisierung der Lebenswelt zu richten.

HM: Mit dem Preisgeld möchte ich meine Habilitation vorantreiben. Unter dem Arbeitstitel „Gouvernementalität von Gleichstellung und Geschlechterforschung an der Hochschule“ befasse ich mich mit der Implementierung gesetzlicher Gleichstellungsvorgaben der Geschlechter und der darauf basierenden Gleichstellungspraxis an Hochschulen. Ausgehend von den Veränderungen der Hochschulgovernance und der Einführung politischer Steuerungsinstrumente des New Public Managements stellt sich aus einer Perspektive der Gleichstellungsforschung die Frage, wie diese Transformationen politisch zu bewerten sind. Welche Konzeption von Gleichstellung und von Geschlecht informiert die gleichstellungspolitischen Instrumente und wie wird diese legitimiert? Inwiefern sind sie in der Lage, die Gleichstellung der Geschlechter tatsächlich zu befördern, oder führen sie lediglich zu einer rhetorischen Modernisierung und damit zur aporetischen Position der Non-Performativity von Gleichstellung? Hierbei interessiert auch, inwieweit Geschlechtergleichstellung intersektional gedacht wird und ob Konzeptionen von Gleichstellung das langsame Aufbrechen der Geschlechterbinarität reflektieren. Und es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung an den Hochschulen.

Literatur

Dormal, Michel & Mauer, Heike (2018). Das Politisierungsparadox. Warum der Rechtspopulismus nicht gegen Entpolitisierung und Ungleichheit hilft. Femina Politica, 27(1), 22–34.

Mauer, Heike (2018). Intersektionalität und Gouvernementalität. Die Regierung von Prostitution in Luxemburg (zugl. Bd. 30 Reihe ‚Politik und Geschlecht‘). Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Sieben, Anna & Scholz, Julia (2012). (Queer-)Feministische Psychologien. Eine Einführung. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Sieben, Anna (2014). Geschlecht und Sexualität in klassischen psychologischen Theorien. Eine historisch-systematische Untersuchung. Bochum: Westdeutscher Universitätsverlag.

Sieben, Anna; Pauge, Matthias & Ruppel, Paul Sebastian (2018). Die „richtige“ Nähe und Distanz zum eigenen Kind. Eine Einzelfallanalyse mütterlicher Positionierungen in Zeiten des intensive parenting. Sozialer Sinn, 19(2), 309–332.

Zitation: im Interview mit Uta C. Schmidt: Wissenschaftspreis für Genderforschung NRW – Interview mit den Preisträgerinnen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 28.01.2020, www.gender-blog.de/beitrag/wissenschaftspreis_nrw/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200128

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Dr. Uta C. Schmidt

Historikerin und Kunsthistorikerin; Forschungen an den Schnittstellen von Raum, Wissen, Geschlecht und Macht; Publikationen zu Klöstern, Klanggeschichte und Geschichtskultur; wiss. Mitarbeiterin im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW; Kuratorin im DA. Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Mitherausgeberin von www.frauenruhrgeschichte.de.

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