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Gerechtigkeit und Transformation. Eine Tagung in Tutzing

19. Februar 2019 Andrea Baier Adelheid Biesecker Sabine Hofmeister

Die sich zuspitzenden sozialen und ökologischen Problemlagen in Folge eines neoliberalen Wirtschafts- und Politikmodells machen es immer dringlicher, feministische Perspektiven für grundlegende gesellschaftliche Transformationen zu entwickeln. Unter der Fragestellung „Was heißt hier gerecht?“ trafen sich deshalb Anfang November 2018 ca. 80 Frauen und einige Männer in der Evangelischen Akademie Tutzing, um theoretische und praktische Ansätze Vorsorgenden Wirtschaftens im Hinblick auf ihren Beitrag zu (mehr) Gerechtigkeit und Transformation zu diskutieren. Eingeladen hatten neben der Akademie das Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften, die anstiftung und das Wuppertal Institut für Umwelt, Klima, Energie. Die Tagung begann mit einem Kaleidoskop von Kurzbeiträgen unter Publikumsbeteiligung, die deutlich machten, dass Gerechtigkeitskonzepte selbst stets kritisch zu befragen sind: Welche (Wert-)Maßstäbe und Vorannahmen werden geltend gemacht? Welche Interessen und Machtgefüge stehen dahinter?

Fokus auf Geschlechtergerechtigkeit

Im Anschluss erläuterten zwei Mitglieder des Netzwerks – Sabine Hofmeister und Barbara Adam – unter dem Titel „Vorsorgende Perspektiven zu Gerechtigkeit in Zeit und Raum“ wesentliche Kernpunkte des Konzepts des Vorsorgenden Wirtschaftens, das kapitalistische ökonomische Rationalitäten auf die Trennungsstruktur zurückführt, durch die alles Nicht-Marktliche – unbezahlte Versorgungsarbeit, größtenteils Frauenarbeit, und „Natur“ – aus der Ökonomie ausgegrenzt und ausgebeutet wird. Damit erweiterte dieses Konzept das Nachhaltigkeitsparadigma der intra- und intergenerationellen Gerechtigkeit um Geschlechtergerechtigkeit. Indem das Netzwerk in der Tradition feministischer Ökonomiekritik Natur- und Geschlechterverhältnisse kritisch in den Blick nimmt, verweist es auf die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Wandels in Ökonomie und Politik.

Vorsorge, Kooperation und Gutes Leben

Die (Handlungs-)Prinzipien Vorsorge, Kooperation, Orientierung am für ein Gutes Leben Notwendigen werden im Vorsorgenden Wirtschaften als Voraussetzung für eine sozial-ökologische Transformation betrachtet; und (Re-)Produktivität wird als ein Konzept zur Aufhebung der Trennungen und zur Bestimmung einer neuen Rationalität – Erhalten/Erneuern im Gestalten – verstanden. Im Rahmen der Tagung sollte „Gerechtigkeit“ auf diese Prinzipien bezogen und untersucht werden, wie der im Konzept Vorsorgendes Wirtschaften angelegte Perspektivenwechsel – der Blick auf die (re)produktiven Elemente des Wirtschaftens – genutzt werden kann, um die „Zwischenräume“ in den Trennungsverhältnissen (Nord/Süd, Männer/Frauen, Natur/Gesellschaft etc.) aufzusuchen und als mögliche (re)produktive Räume sichtbar zu machen. Dabei wurde insbesondere in den Arbeitsgruppen (zu Digitalisierung, Steuer- und Finanzsystem, Care und gesellschaftlichen Naturverhältnissen) und in den Podiumsdiskussionen mit Politikerinnen deutlich, dass „affirmativ“ und „transformativ“ im Sinne Nancy Frasers nicht als Gegensätze zu verstehen sind, vielmehr können auch auf „affirmative“ Gerechtigkeit zielende Strategien den Übergang zu transformativer Gerechtigkeit vorbereiten. Die sowohl theorie- als auch praxisorientierten Fragen wurden auf der Tagung in Vorträgen, Workshops und Diskussionen behandelt und weiterentwickelt. Wissenschaftlerinnen, Praktiker_innen, Aktivist_innen waren gleichermaßen eingeladen, Gerechtigkeit im Kontext von Natur- und Geschlechterverhältnissen in den Dimensionen von Zeit und Raum sowie in ethischer Perspektive auszubuchstabieren. Vorsorgende Perspektiven auf Gerechtigkeit betonen den Prozesscharakter notwendiger Transformationen und den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Barbara Adam): Und sie bestimmen Daseinsvorsorge und Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Raum neu (Sabine Hofmeister). Maren A. Jochimsen und Birgit Erbe loteten Gerechtigkeit im Umgang mit Sorge/Care aus. Ulrike Knobloch unterstrich das Erfordernis gerechter Versorgungsstrukturen. Die Philosophin Tanja von Egan-Krieger erläuterte Gerechtigkeit im Umgang mit Natur im Hinblick auf zukünftige Generationen.  

Nord-Süd-Verhältnisse und offene Fragen

Das Konzept Vorsorgendes Wirtschaften konzentriert sich auf die widersprüchliche Ausgrenzung und Einbindung von „Natur“ und unbezahlter (Frauen-)Arbeit. Im Rahmen der Tagung gerieten auch Fragen der Gerechtigkeit gegenüber dem globalen Süden in den Blick. Dass Gerechtigkeit und das Recht auf Subsistenz – das Recht, sich selber versorgen zu können, – zusammenhängen, wurde in zwei Beiträgen eindrucksvoll deutlich: durch die Darstellung der Überlebensstrategien indigener Frauen in Mittelamerika (Cornelia Marschall), die zunächst auf Ernährungssicherheit setzen, bevor sie sich um Geldeinkommen bemühen, und durch einen Bericht über Aktivist_innen in Ecuador (Christa Müller), die für den Erhalt lokalökonomischer Strukturen kämpfen. Der Beitrag von Abdou Rahime Diallo schließlich zeigte die Genese der Disparitäten in der Gerechtigkeitsfrage im Vergleich von Nord und Süd auf: Die Entstehung der „Dritten Welt“ ist eine Folge des (fortgesetzten) Kolonialismus. Nicht alle Fragen wurden abschließend geklärt, aber immerhin aufgeworfen und andiskutiert, z. B. ob es im Sinne nachhaltigen Wirtschaftens sinnvoll wäre, „Natur“ als Subjekt zu konstituieren und Gerechtigkeit für Natur/en einzufordern, und ob eine solche Position möglich, zielführend oder essentialistisch sei. Neben allem Nachdenken und Diskutieren genossen die Teilnehmer_innen am Abend sowohl eine von Klaviermusik begleitete Lesung von Briefen an Karl Marx, die drei Frauen des Netzwerks Vorsorgendes Wirtschaften aus Anlass seines 200. Geburtstags geschrieben hatten, als auch die meist vergnüglichen „Salongespräche“ im Schloss.

Die im Anschluss an die Tagung formulierten „Thesen zur Gerechtigkeit aus vorsorgend-transformativer Perspektive“ können hier heruntergeladen werden.

Zitation: Andrea Baier, Adelheid Biesecker, Sabine Hofmeister: Gerechtigkeit und Transformation. Eine Tagung in Tutzing, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 19.02.2019, www.gender-blog.de/beitrag/gerechtigkeit-und-transformation-eine-tagung-in-tutzing/

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Andrea Baier

Wissenschaftliche Mitarbeiterin der anstiftung (gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts, München). Inhaltliche Schwerpunkte: Feministisch-subsistenztheoretische Blicke auf DIY-, Commons- und Open-Source-Bewegungen.

Letzte Veröffentlichung: Baier/Hansing/Müller/Werner (2016): Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Strategien, Bielefeld.

 

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Prof. Dr. Adelheid Biesecker

Adelheid Biesecker, *1942. Bis 2004 Professorin für Ökonomische Theorie am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte ökonomischer Theorie, Mikroökonomik aus sozial-ökologischer Perspektive, Ökologische Ökonomik, Feministische Ökonomik und Zukunft der Arbeit. Mitglied im Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften, in der Vereinigung für Ökologische Ökonomie (VÖÖ) u. im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland.

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Prof. Dr. Sabine Hofmeister

Sabine Hofmeister, Prof. Dr.-Ing., seit 1999 Forschungs-und Lehrgebiet Umweltplanung im Institut für Sustainability Governance, Fakultät Nachhaltigkeitswissenschaft, Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind nachhaltige Raumentwicklung, ‚Ökologie der Zeit’ sowie Geschlechterverhältnisse und Nachhaltigkeit; Sie ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) (seit 2002) und der Tutzinger Projektgruppe zur ‚Ökologie der Zeit’ (seit 2008).

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