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Forschung

Marie Jahoda, Marienthal 2.0 und die Aktualität soziologischer Forschung

25. Juni 2019 Andreas Kranebitter Christina Liebhart Christoph Reinprecht

1930 schloss die Textilfabrik in Marienthal, einer Industriesiedlung rund 30 km südöstlich von Wien; was diese Schließung für den Ort bedeutete, erhob und veröffentlichte die Forschungsgruppe rund um Marie Jahoda, Hans Zeisel und Paul F. Lazarsfeld in ihrer klassischen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit“ (1933). Seitdem ist „Marienthal“ nicht nur in zahlreiche Sprachen übersetzt worden (zunächst 1971 ins Englische), sondern auch immer wieder Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung in Österreich. Stehen in den 1930er-Jahren die sozialen und psychologischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf eine Industriegemeinde im Mittelpunkt, so werden später der Wandel der Gemeinde sowie die Studie selbst zum Forschungsgegenstand.

2017, 87 Jahre später, droht die Schließung der Chemie-Fabrik am Standort der damaligen Textilfabrik – ein Marienthal 2.0? In einem Forschungspraktikum mit Studierenden des Instituts für Soziologie der Universität Wien wurde die Frage nach wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen dieser Schließung auf die Gemeinde untersucht.

Alles ist Markt: Die Schließung als Sachzwang

Mit 31. Dezember 2017 wird die Schließung der Evonik Para-Chemie GmbH, dem größten Arbeitgeber der Gemeinde Gramatneusiedl, das sich am historischen Gelände der ehemaligen Textilfabrik befindet, zur Realität. Über 150 Beschäftigte verlieren ihren Job. Strategische Entscheidungen der Unternehmensführung in Essen reagieren damit auf die globalisierte Wettbewerbssituation. Die Schließung passiert jedoch auch im Kontext eines langfristigen Strukturwandels der Arbeit im Produktionssektor, der zugleich zum Sachzwang verabsolutiert wird. Die Verantwortung für die Schließung wird entpersonalisierten Prozessen zugeschrieben und das Problem damit „externalisiert“.

Schon Jahre vor der Bekanntgabe der Schließung kursieren Gerüchte über eine mögliche Stilllegung oder Absiedelung des Werks. Auch wenn die tatsächliche Schließung viele nicht überrascht, kommt sie dennoch wie aus heiterem Himmel. Auf einer Betriebsversammlung informiert die Konzernleitung im Juni 2016 die Belegschaft, in einer Presseaussendung die Öffentlichkeit. In Verhandlungen mit Betriebsrat, Arbeiterkammer und Gewerkschaft wird ein Sozialplan erarbeitet. Es wird Stillschweigen vereinbart – Auskünfte erteilt monatelang nur die Geschäftsführung. Öffentliche Proteste kommen nicht zustande, kritische Stimmen verstummen bald.

Von der Industriegemeinde zur Schlafgemeinde

Seit dem 19. Jahrhundert besteht Gramatneusiedl aus einem agrarischen (Gramatneusiedl) und einem industriellen Teil (Marienthal). Bald nach der Schließung der Textilfabrik im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 1929 verändert sich der Ort grundlegend: Arbeit findet sich fast ausschließlich in den Nachbargemeinden und vor allem in Wien. Aus einem industriellen Dorf wird eine PendlerInnengemeinde. Trotz wirtschaftlicher Krisen wie der Massenarbeitslosigkeit der 1930er-Jahre und über historische Zäsuren hinweg bleibt die standardisierte Erwerbsbiographie die Norm. Lohnarbeit sichert, wie Marie Jahoda später schreiben wird, Existenz, schafft Zeitstruktur, bindet in kollektive Zusammenhänge ein und stiftet Identität. Die Fabrik wird zur Familie verklärt. Dadurch bleiben die negativen Seiten der industriellen Lohnarbeit, wie Entfremdung, Entwertung und Entpersönlichung, unerwähnt. Die Erwerbsnorm schreibt sich generationenübergreifend als Orientierung in die Biographien ein – was von der aktuellen Situation erneut infrage gestellt wird.

Peripherisierung und Neudefinition

Der soziale Strukturwandel macht dabei aber nicht halt: In den letzten Jahrzehnten nimmt die Zahl der EinwohnerInnen zu (von 2.243 im Jahr 2001 auf 3.236 im Jahr 2017). Eine wachsende Gruppe zieht jedoch nach Gramatneusiedl, ohne ihren Lebensmittelpunkt dorthin zu verlegen – Arbeit, Konsum und Freizeit finden anderorts statt. Aus der PendlerInnengemeinde wird die SchlafpendlerInnengemeinde, Zersiedelung und Verkehr nehmen zu, der Bahnhof mit 700 Kfz-Stellplätzen wird zum eigentlichen Zentrum der Gemeinde. Die Fabrikschließung geschieht wie abseits von alledem – viele BewohnerInnen fühlen sich davon nicht berührt. Dies hängt damit zusammen, dass die Entkoppelung von Fabrik und Gemeinde schon seit Jahrzehnten zu einem veränderten Selbstverständnis geführt hat. Die Absiedelung des Unternehmens reißt dennoch ein Loch in das Gemeindebudget und stellt politische Akteure vor vollendete Tatsachen. Neuansiedlungen scheinen unwahrscheinlich. Die Gemeinde ist gezwungen, sich von der Identität der Industriegemeinde zu verabschieden und ihre Rolle im Speckgürtel Wiens einmal mehr neu zu definieren und positiv zu gestalten. Die politischen Herausforderungen scheinen unlösbar: Wächst Gramatneusiedl einerseits näher an Wien heran, wird es durch den Funktions- und Sozialstrukturwandel andererseits stärker peripherisiert. Der aktuelle Bevölkerungszuwachs scheint diese Entwicklung zu perpetuieren.

Schließung als Projekt, Problem, Schock

Die Standortschließung wird aus der Perspektive der Geschäftsführung wie ein Projekt abgewickelt. Von der Verkündung bis zur Kündigung sind Projektphasen zu definieren – etwa die Ausverhandlung eines Sozialplans, die Festlegung des Produktionsendes, der Rückbau des Werks oder die Dekontaminierung des Betriebsgeländes. Das Unternehmen generiert ein Selbstbild als faires und gutes Unternehmen – die (Für-)Sorge für das eigene wirtschaftliche Überleben des Konzerns verbindet sich mit der generalisierten Erwartung auch an die Mitarbeitenden, flexibel, mobil und proaktiv auf die widrigen Rahmenbedingungen zu reagieren.

Die Beschäftigten sehen sich sehr persönlich mit der Bewältigung der Standortschließung konfrontiert, was eine Reihe von Reaktionen auslöst: Die Kehrseite einer starken Firmenloyalität ist eine umfassende Enttäuschung, manchmal auch Wut. Das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, verbindet sich mit finanziellen Sorgen um die Zukunft. Über den Schock der Schließung hinaus kommt es allerdings zu positiven Zukunftsvorstellungen wie auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der bisherigen Arbeitsbiographie – die Lohnarbeit wird zeitweise mit Schmutz und Mühsal verbunden und generell kritisch reflektiert. Wie in vielen Industriebetrieben Österreichs setzen sich die Beschäftigten der Evonik Para-Chemie aus Stammbelegschaft und Leiharbeitskräften zusammen, wobei der Anteil der MitarbeiterInnen ausländischer Herkunft (zeitweise über 50 %) hier besonders hoch ist.

Gestern, morgen: Keine Parallelen?

Damit schreibt sich eine Geschichte fort: Auch in der Textilfabrik des 19. Jahrhunderts stammen bis zu 70 Prozent der ArbeiterInnen nicht aus den umliegenden Orten, sondern aus den ehemaligen Kronländern, und verlassen nach der Schließung der Fabrik den Ort Marienthal. In der klassischen Studie ist der Aspekt der Migration kein Thema. In den Interviews sprechen ehemals Beschäftigte der Para-Chemie Benachteiligungen aufgrund ihrer Herkunft an. Die in anderen Gesprächen oft beschworene Identität der Belegschaft als Familie haben sie nicht erfahren.

Wer in Gramatneusiedl Spuren des ehemaligen Arbeiterorts Marienthal sucht, wird schnell fündig. Die Inszenierung der Marienthal-Studie ist in zahlreichen Erinnerungszeichen omnipräsent, nicht zuletzt im 2011 eröffneten Museum Marienthal. Die Schließung der Para-Chemie am Standort der ehemaligen Textilfabrik Marienthal evoziert die Frage nach historischen Parallelen. Viele Interviewte weisen die Vergleichbarkeit der Situationen beider Fabrikschließungen zurück – einer Massenarbeitslosigkeit von über 1.000 MitarbeiterInnen stehen heute weit geringere Beschäftigtenzahlen gegenüber, der damaligen „Aussteuerung“ ein tragfähiges Sozialsystem und ein ausverhandelter Sozialplan, der zentralen Funktion der Fabrik für die Gemeinde und ihre Bevölkerung eine beinahe vollständige Entkoppelung. Die beiden Perspektiven – auf die historische und die aktuelle Situation – stehen meist unvermittelt nebeneinander. Die ökonomische Logik des Geschehens wird historisiert.

Zukunft mit offenen Fragen

Als die Konzernleitung im Mai 2017 von unserem Forschungsvorhaben erfährt, meldet sie sich – zwei Tage nach Beginn der Feldphase – telefonisch und regt eine Zukunftsstudie über die Gemeinde nach der Deindustrialisierung nach dem Vorbild einer Studie über das Ruhrgebiet an. Als wir diese Anregung dankend ablehnen, scheint man im Management das Eintreffen kritischer Studierender zu befürchten, die Proteste organisieren. Doch politische Artikulationen bleiben aus. Die grundlegenden Fragen bleiben allerdings offen: Welche Zukunft haben ehemalige Industriegemeinden wie Gramatneusiedl? Welche Zukunft hat die soziologische Forschung, die sich mit ihnen beschäftigt? Eine der Herausforderungen besteht in den zunehmend unsichtbaren Zusammenhängen von Makroprozessen und ihren lokalen Auswirkungen. Es braucht deshalb, miteinander verschränkt, beides: eine politische Ökonomie von Arbeitslosigkeit wie auch eine Analyse ihrer Auswirkungen auf lokale Lebenswelten.

 

Die Ruhr-Universität Bochum (RUB) hat das Marie-Jahoda-Center for International Gender Studies gegründet, die offizielle Eröffnungsfeier findet am 25. und 26.06.2019 statt.

Literatur

Jahoda, Marie; Lazarsfeld, Paul F. & Zeisel, Hans (1933): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit. Hirzel: Leipzig (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975).

Zitation: Andreas Kranebitter, Christina Liebhart, Christoph Reinprecht: Marie Jahoda, Marienthal 2.0 und die Aktualität soziologischer Forschung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 25.06.2019, www.gender-blog.de/beitrag/marie-jahoda-aktualitaet/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20190625

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Andreas Kranebitter

Andreas Kranebitter ist Politikwissenschafter und Soziologe aus Wien. Er war Universitätsassistent am Institut für Soziologie der Universität Wien und ist seit 2017 Leiter der Forschungsstelle der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Aktuelle Publikation: Andreas Kranebitter/Christoph Reinprecht (Hg.): Die Soziologie und der Nationalsozialismus in Österreich. Bielefeld: transcript (https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4733-4/die-soziologie-und-der-nationalsozialismus-in-oesterreich/).

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MA Christina Liebhart

Christina Liebhart, MA, ist Mitarbeiterin bei einer NGO und Lektorin am Institut für Soziologie der Universität Wien. Ihre Forschungsinteressen sind Wohnen und Stadt, Arbeit und Soziale Ungleichheit.

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Prof. Christoph Reinprecht

Professor für Soziologie an der Universität Wien. Forschungen zum Gestaltwandel des Sozialen und der sozialen Frage insbesondere im Zusammenhang mit Migration, Stadt, Wohnen, sowie im Bereich von politischer Soziologie und soziologischer Gedächtnisforschung. Aktuelles Forschungsprojekt zur Konstitution, Entwicklung und (urbanen) Verortung der Wiener Schule der empirischen Soziologie.

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Kommentare

Sophie | 07.12.2019

Wir unterstützen den gender-gerechten Sprachgebrauch. Herzlichen Glückwunsch zur Eröffnung des Centers. Vielleicht auch interessiert unsere Seite unter: www.gendern.de