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Headergrafik: Konzert im Rahmen des Frauenorchesterprojekts Berlin (Foto: Meggie George).

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Musikerinnen entdecken Komponistinnen – das Frauenorchesterprojekt Berlin

18. Juni 2019 Ulrike Keil

„Shout, shout, up with your song! Cry with the wind, for the dawn is breaking“ – auf diese Zeilen des revolutionären Aufrufs der Dichterin Cicely Hamilton (1872–1952) komponierte Ethel Smyth (1858–1944) 1910/11 ihren inzwischen legendären „March of the Women“ und bekannte sich damit offiziell zur militanten Suffragettenbewegung in England (siehe auch Hoffmann 2012). Weil ihr die Melodie dieser Hymne so gut gefiel, verwendete Smyth diese später in der Ouvertüre ihrer Oper „The Boatswains’s Mate“, die beim Frauenorchesterprojekt in diesem Jahr als eines von vier Stücken auf dem Programm stand. Das Musikprojekt fand vom 08. bis zum 10. März 2019 in Berlin statt und brachte wieder Frauen aus ganz Deutschland zusammen, um gemeinsam unbekannte Musik von Komponistinnen zu erarbeiten.

Turbulent: Ethel Smyth und ihre Musik

In Ethel Smyths Oper wird die skurrile Geschichte einer couragierten Witwe erzählt, die sich den Eheabsichten eines Bootsmanns verweigert. Mit einer tumben List will sich dieser als ihr Beschützer ins Gespräch bringen, aber die Sache geht für ihn nicht gut aus. Zu gewitzt ist die Wirtin und zieht ihre Unabhängigkeit einer erneuten Eheschließung vor. Ein provokanter Stoff in Zeiten harter Straßenkämpfe, die sich die Suffragetten mit der Londoner Polizei lieferten und doch „nur“ das Wahlrecht einforderten. Aber nicht nur der Entstehungsprozess der Oper und das Leben der Komponistin Ethyl Smyth (von der Musikwissenschaftlerin Marlene Hoffman in einem Kurzvortrag skizziert) sind reif für ein bühnengerechtes Schauspiel. Ebenso abwechslungsreich und turbulent wie ihr Leben ist auch ihre Musik, gespickt mit einer gehörigen Portion englischem Humor und ihrem großen Talent für musikdramatische Effekte.

Pionierinnenarbeit

Das Frauenorchester von Mary Wurm.

Postkarte vom Frauenorchester Mary Wurm. Mary Wurm (1860–1938), Pianistin, Komponistin und Klavierlehrerin, gründete 1898 in Berlin ein Frauenorchester mit dem Ziel, Frauen als professionellen Instrumentalistinnen eine Berufsausübung zu ermöglichen. Obwohl das Orchester durchaus erfolgreich arbeitet, musste Mary Wurm es aus finanziellen Gründen auflösen.

Das Frauenorchesterprojekt, das nun schon zum elften Mal in Berlin tagte, sieht seine Mission darin, Musik von Komponistinnen auszugraben und zum Klingen zu bringen. Das vorwiegend mit Laiinnen inzwischen groß besetzte Symphonieorchester erarbeitet sich die Musik und stellt sie in einem Werkstattkonzert einem interessierten Publikum vor. Eine lange Repertoireliste mit über 30 Werken von Komponistinnen der Vergangenheit bis zur Gegenwart haben sich die Musikerinnen in den letzten Jahren erspielt. Dem Argument, es gäbe keine Orchesterwerke von Komponistinnen, wird hiermit der Boden entzogen. Die Recherche nach geeigneten Noten, wenn auch aufwendig und teuer, hat es ans Tageslicht gebracht. Hier wird Pionierinnenarbeit geleistet. Doch der etablierte Konzertbetrieb bleibt in Bezug auf Musik von Frauen nach wie vor verhalten. Die aktuellen Anteile von 10 % Komponistinnen in den Spielplänen und 15 % in den Spielplänen zeitgenössischer Musik (Schulz et al. 2016) spiegeln nach wie vor nicht annähernd die Repräsentanz von Komponistinnen aus Vergangenheit und Gegenwart wider. Geschlechtergerechtigkeit und Diversität in der Musik ist deshalb eine zeitgemäße Forderung, die gerade bei den subventionierten Kultureinrichtungen, sei es beim Radio, in der Oper oder den Symphonieorchestern, auf mehr Resonanz stoßen müsste. Bei einem Zuschuss von ca. 120 bis 130 Euro pro Konzertkarte ist das Argument der Programmplaner*innen, sie richteten sich nach dem Geschmack des Publikums und müssten Mainstreamprogramme anbieten, weder glaubwürdig noch akzeptabel. Bei aller künstlerischen Freiheit sollte auch hier nachgedacht werden, ob nicht durch spezielle Förderprogramme mehr Diversität in der Musik erreicht werden kann, um Frauen nicht nach bewährter Tradition weiterhin auszuschließen.

Das Programm des Frauenorchesterprojekts

Konzert im Rahmen des Frauenorchesterprojekts Berlin (Foto: Meggie George).

Konzert im Rahmen des Frauenorchesterprojekts Berlin (Foto: Meggie George).

Ein engerer Kreis um die Dirigentin und Musikwissenschaftlerin Mary Ellen Kitchens aus München widmet sich der Aufgabe, Musik und Noten für die Probenphasen zusammenzustellen. In diesem Jahr stand neben Ethel Smyth die 2. Sinfonie der Polin Grażyna Bacewicz (1909–1969) auf dem Programm. Von diesem Werk gibt es weder eine Einspielung noch gedruckte Noten, deshalb wurden handschriftlich angefertigte Stimmen aus einem Archiv in Warschau angefordert. Die Schülerin von Nadia Boulanger entwickelt in den vier Sätzen eine faszinierende Farbigkeit mit zum Teil peitschender Rhythmik. Sie knüpft in ihrer Musiksprache an Vorbilder an, entwickelt aber auch ihre eigene, intensive Klangsprache. Ein beeindruckendes, kraftvolles Werk, das in das Repertoire aller Symphonieorchester gehört. Noch moderner und den Musikerinnen einiges abverlangend ist „Der große Regen“ der Wahlwienerin Johanna Doderer (*1969). Große dynamische und klangliche Spannungsbögen zeichnen ihre Musik aus, die trotz einiger Hindernisse, das Notenbild und das Zusammenspiel betreffend, ihre Wirkung beim Werkstattkonzert nicht verfehlte. Anlässlich ihres 200. Geburtstags stand dieses Mal selbstverständlich das Klavierkonzert von Clara Schumann (1819–1896) mit der Solistin Elisabeth Stäblein-Beinlich auf dem Programm. Dieses hochvirtuose, romantische Klavierkonzert eines 14-jährigen Wunderkinds auf dem Klavier hält 2019 anlässlich des Jubiläums endlich Einzug in die Konzertprogramme etablierter Orchester. Es bleibt zu hoffen, dass es sich im Standartrepertoire hält, denn es braucht den Vergleich zu Robert Schumanns Werk nicht zu scheuen.

Frauen und Musik – wie weiter?

Das Archiv Frau und Musik des Internationalen Arbeitskreises in Frankfurt bündelt aktuell 40 Jahre Forschung zum Thema Frau und Musik. In Hamburg, Hannover und Hildesheim werden Hochschulprojekte und Forschungszentren angeboten und u. a. in München (musica femina münchen), Freiburg und Kassel gibt es Komponistinnenkonzerte. Aber das Musikgeschäft bleibt nach wie vor die Domäne der Männer. Noch ist die Zahl von Generalmusikdirektorinnen verschwindend gering und aktuell sind nur fünf der 130 Dirigent*innenstellen in Deutschland mit einer Frau besetzt. Vor diesem Hintergrund brach es am Morgen der letzten Probe aus der Dirigentin Mary Ellen Kitchens hervor: „Das wollte ich immer. Was ich hier mache, ist meine Lieblingsaktivität!“

Literatur

Hoffmann, Marleen (2012). „Wie ich Suffragette wurde.“ Künstlerisches und politisches Selbstverständnis der englischen Komponistin Ethel Smyth (1858–1944). GENDER, 4(1), 90–107.

Schulz, Gabriele; Ries, Carolin; Zimmermann, Olaf; Brüheim, Theresa; Haack, Barbara; Sandforth, Ruth & Wapler, Friederike (2016). Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge. Zugriff am 11. Juni 2019 unter: https://www.kulturrat.de/publikationen/frauen-in-kultur-und-medien/.

Zitation: Ulrike Keil: Musikerinnen entdecken Komponistinnen – das Frauenorchesterprojekt Berlin, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 18.06.2019, www.gender-blog.de/beitrag/das-frauenorchesterprojekt-berlin/

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© Headergrafik: Konzert im Rahmen des Frauenorchesterprojekts Berlin (Foto: Meggie George).

Dr. Ulrike Keil

Bereits während ihres Studiums (Musikwissenschaft, Germanistik, Soziologie) beschäftigte sich Ulrike Keil mit dem Thema „Frauen in der Musik“ und promovierte über die Komponistin Luise Adolpha Le Beau. Als Autorin, Dozentin (LMU München, Mozarteum Salzburg/Innsbruck) und seit 1999 als Kulturmanagerin versucht sie den Blick auf die Förderung von Frauen in der Musik nicht aus den Augen zu verlieren. Sie 2019 ist sie freiberuflich als Kulturmanagerin tätig.

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