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Debatte

...und die Welt steht still: kollektive feministische Aktion zwischen Aufstand und Streik

08. März 2022 Constanze Stutz

Wenn wir streiken, steht die Welt still. In den letzten Jahren ist die Drohung der feministischen Streikbewegung in kurzen historischen Sequenzen immer wieder wahr geworden: In Buenos Aires, in Mexiko-Stadt, in Santiago gehen Hunderttausende Frauen auf die Straße, bleiben der Arbeit fern, wagen den Aufstand gegen repressive Polizist:innen und männliche Gewalt. Nach den Femiziden an Sarah Everard und Sabina Nessa in London finden sich innerhalb kürzester Zeit Tausende zur gemeinsamen Mahnwache zusammen. In Leipzig folgen auf den Femizid von Myriam Z. im Frühling 2020 breite öffentliche Protestaktionen, die Gründung einer Ortsgruppe der Organisation Keine Mehr sowie die Vernetzung unterschiedlicher feministischer Gruppen über inhaltliche Differenzen und Ausrichtungen hinweg.

Neuformierungen feministischer Proteste

Die Formation feministischer Kämpfe entwickelt eine neue Qualität. Schauen wir genauer hin und suchen nach der verbindenden Bewegung zwischen den Sequenzen: Sie verschieben sich zunehmend vom globalen Süden bis in den globalen Norden hinein und zeigen sich immer deutlicher als Kämpfe um soziale und ökologische Reproduktion in umfassenden lokalen und transnationalen Netzwerken. Neben basisdemokratischen Versammlungen und Demonstrationen, wie dem Women’s March in den USA oder dem Frauenkampftag am 8. März in Deutschland, finden zunehmend feministische Streiks und Aufstände statt, die aus ihnen hervorgehen oder organisiert werden. Die feministischen Praktiken der kollektiven Aktion, Protest- und Widerstandsformen zwischen Streik und Aufstand, stehen dabei in einem impliziten bis offen artikulierten Verhältnis zu globalen gesellschaftlichen Krisenprozessen.

Folgen wir Silvia Federici in ihrer historischen Vermessung der fortlaufenden Prozesse der kapitalistischen Landnahmen im Zuge der Globalisierung (Dörre 2019; Federici 2015), zeigt sich, wie entlang des Geschlechterverhältnisses Frauen und weibliche Körper reguliert werden. Als von der Produktion abgetrennter, abgewerteter und an Frauen verwiesener gesellschaftlicher Bereich wird die Reproduktionssphäre immer wieder aufs Neue hervorgebracht und die Kontrolle über weibliche Körper und Gebärfähigkeit (staatlich) institutionalisiert (Federici 2020: 40). Feministische Streiks und Aufstände lassen sich als Politisierung der Gewalt und Zurichtung, die in diesen Regulierungsweisen eingeschrieben sind, verstehen.

Arbeitskämpfe in feminisierten Erwerbssektoren

In den letzten Jahren lässt sich an internationalen Arbeitsstreiks und -unruhen in feminisierten Erwerbssektoren beobachten, dass die Forderungen nach einer Neuordnung von Sorgeverhältnissen lauter werden (Artus et al. 2020; Notz 2020; Winker 2015). In Deutschland zeigt sich – z.B seit die Pflegearbeiter:innen der Berliner Charité 2015 streikten – eine Verdichtung von Arbeitskämpfen in diesem Sektor (Dück 2018). Dabei ist die gesellschaftliche Abwertung feminisierter Erwerbssektoren nicht das einzige Feld der Auseinandersetzung um soziale Reproduktion: Neben breiten Mieter:innenprotesten (Rink/Vollmer 2019) und sozialökologischen Bewegungen organisierten transnationale Netzwerke in den letzten Jahren eine wirkmächtige internationale feministische Streikbewegung (Gago 2021). Im Zuge der internationalen Mobilisierung zum Frauen*kampftag am 8. März werden auch in Deutschland seit 2018 bundesweit feministische Streiks organisiert. Hier wird, wenn auch mitunter unbewusst, an den Frauenstreik von 1994 angeschlossen, bei dem – gemeinsam mobilisiert von der ost- und westdeutschen Frauenbewegung – mehr als eine Millionen Frauen in Deutschland streikten (Notz 2020).

Eine politische Erweiterung des Arbeitsbegriffs

Die feministischen Streiks eint ein erweiterter Arbeitsbegriff, der Haus- und Sorgearbeiten und ehrenamtliche Gratisarbeiten einschließt, sowie ein erweiterter Streikbegriff: Nicht mehr nur die Fabrik wird bestreikt, sondern auch die Küche, die unentlohnte Reproduktionsarbeit, die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und spezifische Subjektanforderungen (Federici 2015). Dabei wird in einem erweiterten Sinne die Reproduktionsweise der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen ausgesetzt bzw. bestreikt, gerade indem das gesellschaftlich zuvor Unsagbare bewusst, sagbar und damit politisierbar wird: Hausarbeit ist eben doch Arbeit. Allerdings wird sie nicht bezahlt und daher gesellschaftlich abgewertet oder im Bereich der feminisierten Erwerbssektoren unter erschöpfenden Arbeitsbedingungen in Wert gesetzt. Die Protestform des erweiterten Streiks bringt uns damit auf die Spur der Frage, wie soziale Reproduktion gesellschaftlich organisiert ist und wie sich dies politisch fassen lässt.

Eine Erweiterung des Gewaltbegriffs im feministischen Aufstand

An die Seite feministischer Streiks tritt ein Repertoire an explizit feministischen Aufständen. Proteste gegen Femizide und Gewalt an Frauen mobilisierten im Zuge der Bewegung Ni una menos in Lateinamerika und zunehmend auch in den Zentren des globalen Nordens, wie zuletzt in London, tausende Demonstrierende (Arruzza 2018). Hier zeigen sich Formen feministischer Proteste, die sich gegen die Verfügung und Kontrolle über weibliche Körper und Reproduktionsfähigkeit stellen und mitunter – zumeist in direkter Konfrontation mit staatlicher Repression – zu Aufständen werden (Clover 2021: 120). Vergleichbar dem erweiterten Arbeitsbegriff des feministischen Streiks finden wir in der Begründung feministischer Aufstände einen erweiterten Gewaltbegriff. Direkte Gewalt und strukturelle Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ* wird gemeinsam politisiert und in einen Zusammenhang mit anderen Gewaltverhältnissen gebracht, der z.B. in der argentinischen Bewegung breite Bündnisse zwischen feministischen Bewegungen und solchen von prekarisierten und erwerbslosen Arbeiter:innen ermöglicht (Gago 2021: 71f.). Auch der erweiterte Gewaltbegriff ist als Strategie zu verstehen. Er kann dabei helfen, die Gewaltformen in ihrer Gleichzeitigkeit und Unterschiedlichkeit zu vermessen und zu politisieren.

Soziale Reproduktion als umkämpftes gesellschaftliches Verhältnis

Diese Aktualisierung und Neuformation der Protestformen Streik und Aufstand von feministischen Netzwerken und Akteur:innen zeigt, dass soziale Reproduktion als umkämpftes gesellschaftliches Verhältnis verstanden werden muss, das gegenwärtig von transnationalen feministischen Bewegungen auf der Straße politisiert wird (Dück 2021). Das birgt ein großes Veränderungspotenzial. In der Vorstellung sind solche Prozesse jedoch noch immer eng an die fordistische Konstellation von „gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen in der industriellen Massenproduktion“ (Dörre et al. 2019: 242) gebunden. Damit werden sie grundsätzlich noch immer als männlich imaginiert (Redecker 2012: 24). Diese Fokussierung führt in den Ländern des globalen Nordens dazu, dass gegenwärtige Formen und auch Orte der Auseinandersetzungen der Arbeiter:innenklasse übersehen und unterschätzt werden – konzentrieren sich diese doch vermehrt auf den Dienstleistungssektor: auf Kitas, Krankenhäuser und Callcenter oder plattformbasierte Lieferdienste.

Die Welt neu erfinden

Auch die Forderungen und Ziele der Kämpfe haben sich verschoben. Nicht allein die Löhne sind umkämpft, es wird auch gegen Einsparungen, gerade an Sozialausgaben und gegen sexuelle Gewalt und Belästigung protestiert. In Zeiten, da sowohl das Kapital als auch die Lohnarbeiter:innen dazu gezwungen sind, die eigene Reproduktion tendenziell eher in der Zirkulations- als in der Produktionssphäre zu suchen, treten Aufstände und erweiterte Streiks im Dienstleistungssektor als zunehmend zentrale Figuren des politischen Antagonismus auf (Clover 2021). Als Ausdruck und als mögliche Antwort auf die sozialen Repulsionen der globalisierten Kapitalakkumulation finden wir in den konkreten Widerstandsformen feministischer Streiks und Aufstände „oppositionelle Aktivitäten der Grenzüberschreitung” (Maurer 2014: 333). Es geht also um reale Eingriffe in die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, die zu Unterbrechungen der immerwährenden Wiederherstellung des Gegebenen führen können. Daneben finden sich in der kollektiven politischen Umsetzung der erweiterten Arbeits- und Gewaltbegriffe auch utopische Vorgriffe (Redecker: 2012) auf andere, solidarische und kollektive gesellschaftliche Organisationsformen in breiten Bündnissen. Und gerade darauf ist unser Blick zu richten – gemeinsam die immerwährende Wiederholung des Gegebenen zu durchbrechen, die Welt tatsächlich zum Stillstand zu bringen und neu zu erfinden. Daher: Hinaus, hinaus zum 8. März!

Literatur

Arruzza, Cinzia (2018): From Women’s Strikes to a New Class Movement: The Third Feminist Wave. Viewpoint Magazine, 03.12.2018. Zugriff am 08.02.2022 unter https://viewpointmag.com/2018/12/03/from-womens-strikes-to-a-new-class-movement-the-third-feminist-wave/.

Artus, Ingrid/Bennewitz, Nadja/Henninger, Annette/Holland, Judith/Kerber-Clasen, Stefan (Hrsg.) (2000): Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe: sozialwissenschaftliche und historische Perspektiven. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Clover, Joshua (2021): Riot. Strike. Riot: Die neue Ära der Aufstände. Hamburg: Galerie der abseitigen Künste.

Dörre, Klaus (2019): Risiko Kapitalismus. Landnahme, Zangenkrise, Nachhaltigkeitsrevolution. In: Dörre, Klaus/Rosa, Hartmut/Becker, Karina/Bose, Sophie/Seyd, Benjamin (Hrsg.): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften (S. 3–34). Wiesbaden: Springer VS.

Dörre, Klaus/Fraser, Nancy/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut/Ketterer, Hanna/Becker, Karina (2019): Ein Gespräch zwischen Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa und Karina Becker und Hanna Ketterer. In: Ketterer, Hanna/Becker, Karina (Hrsg.): Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa (S. 205–253). Berlin: Suhrkamp Verlag.

Dück, Julia (2018): Feministische Klassenpolitiken in Kämpfen um soziale Reproduktion. Zu den Auseinandersetzungen an der Berliner Charité für mehr Personal im Krankenhaus. sub/urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung, 6(1): 129–140.

Dück, Julia (2021): Mehr als Erschöpfungen im Hamsterrad – Soziale Reproduktion und ihre Krise(n). In: Altenried, Moritz/Dück, Julia/Wallis, Mira (Hrsg.): Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion (S. 28–49). Münster: Westfälisches Dampfboot.

Federici, Silvia (2015): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution (Kitchen Politics Band 1). Münster: Ed. Assamblage.

Federici, Silvia (2020): Die Welt wieder verzaubern. Wien: Mandelbaum.

Federici, Silvia (2021): Caliban und die Hexe. Wien: Mandelbaum.

Gago, Veronika (2021): Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern. Münster: Urast.

Maurer, Susanne (2014): Zerstreute Geschichte(n)? Überlegungen zu einer feministischen Geschichtsschreibung. DAS ARGUMENT 56(3): 331–339.

Notz, Gisela (2020): Uns reicht’s: Streikende Frauen sind keine Ausnahmeerscheinungen ‒ Der Wandel der Arbeitskämpfe aus feministischer Perspektive. In: Becker, Karina/Binner, Kristina/ Décieux, Fabienne (Hrsg.): Gespannte Arbeits- und Geschlechterverhältnisse im Marktkapitalismus (S. 215–238). Wiesbaden: Springer VS.

Redecker, Eva von (2012): Feministische Strategie und Revolution. In: Landweer, Hilge/Newmark, Catherine/Kley, Christine/Miller, Simone (Hrsg.): Philosophie und die Potenziale der Gender Studies. Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie (17–36). Bielefeld: transcript.

Rink, Dietmar/Vollmer, Lisa (2019): Mietenwahnsinn stoppen! Netzwerke und Mobilisierungen der Mieter:innenbewegung in deutschen Großstädten. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 32(3): 337–349. https://doi.org/10.1515/fjsb-2019-0041

Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript.

Zitation: Constanze Stutz: ...und die Welt steht still: kollektive feministische Aktion zwischen Aufstand und Streik, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 08.03.2022, www.gender-blog.de/beitrag/feministische-aktion-aufstand-streik/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220308

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Constanze Stutz

Constanze Stutz arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrbereich Makrosoziologie des Instituts für Soziologie, TU Dresden und ist Redakteurin der outside the box – Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik. Sie plant am liebsten kollektiv und konspirativ das Überschwappen der nächsten feministischen Welle.

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