31. Januar 2023 Dschihan Zamani
Auf der Suche nach Kämpfen der Frauen*bewegung(en) in Deutschland in den 1980er- und 1990er-Jahren, lassen sich nur wenige Einträge zu migrantisch feministischer Selbstorganisation in der feministischen Literatur finden. War diese Zeit im Vergleich zu den 1960er- und 1970er-Jahren also eine eher „stille Zeit“ (vgl. dazu Tuzcu 2017: 38ff.)?
Ganz und gar nicht! Deshalb sind Encarnación Gutiérrez Rodriguez, Professorin für Soziologie an der Goethe-Universität und Pinar Tuzcu, Professorin an der Universität Kassel auf Spurensuche gegangen und haben mit Migrant*innen, Schwarzen Frauen*, Sinti*zze und Romn*ja, exilierten und jüdischen Frauen* gesprochen. Sie alle haben die Geschichte des „Migrantischen Feminismus“, der sich in den 1980er- und 1990er-Jahren politisch selbstorgansiert hat, maßgeblich geprägt. Welche Kämpfe wurden hier geführt und wieso sind sie nicht Teil der Erzählung der sogenannten deutschen Frauen*bewegung? Welche Erinnerungen bleiben uns und welche müssen wir neu erzählen?
Eine Tagung zu migrantischem Feminismus – damals und heute
Diese Fragen haben sich über 100 Teilnehmer*innen am 3. und 4. November 2022 auf dem Symposium „Migrantischer Feminismus geht weiter!“ zum gleichnamigen Buch gestellt (Gutiérrez Rodríguez/Tuzcu 2021). Migrantische und migrantisierte Aktivist*innen von damals und heute trafen aufeinander und erzählten über die Bedeutung und Verschränkung von Rassismus, Sexismus und Klassismus, über ihre Widerstände und ihre diskriminierenden Erfahrungen mit der sichtbaren Frauen*bewegung von weißen[1] Frauen. Storytelling eröffnet als transformative Praxis neue Chancen. Eleonore Wiedenroth-Coulibaly, Mitbegründerin der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, sagt dazu: „Wir schreiben Geschichte und schreiben uns in die Geschichte.“
[1] Weiß wird hier vor allem als Begriff genutzt, um eine soziale Position von Personen ohne Rassismuserfahrungen in der Gesellschaft zu verstehen, die aufgrund von Machtverhältnissen Privilegien genießen.
Als Auftakt des Symposiums führten verschiedene Aktivist*innen im Mousonturm in Frankfurt am Main einen intergenerationalen Dialog. Diskutiert wurden vor allem Schlüsselmomente in der Politisierung der Aktivist*innen. Das Symposium selbst wurde in der Goethe-Universität Frankfurt veranstaltet und bestand aus drei verschiedenen Panels zur Neuerzählung und Aktualität des migrantischen Feminismus sowie seinen feministischen Realitäten. Eingeleitet von zwei Keynotes von Umut Erel, Professorin für Soziologie an der Open University in London und Cathy Gelbin, Film- und Literaturwissenschaftlerin, spannten sie den Bogen von der aktivistischen in die akademische Welt.
Die Rolle von selbstorganisierten Räumen im migrantischen Feminismus
Behshid Najafi von agisra Köln e. V. sprach von ihrem Engagement gegen klassistische und sexistische Verhältnisse im Iran. Während ihrer Zeit im Iran stand die Frage nach sozialer Gerechtigkeit für sie auch immer im Kontext von Geschlechtergerechtigkeit. Als sie nach Deutschland zog, merkte sie durch ihre hierzulande erlebten Erfahrungen, wie der Kampf für soziale Gerechtigkeit auch einer gegen Rassismus ist. Sie sagt: „Gerechtigkeit hat so viele Aspekte, man kann sie nicht trennen.“ Selbstorganisierte Räume stellen dabei wichtige Haltepunkte dar, da sie eine sichere Umgebung bieten, um eigene Erfahrungen zu reflektieren. Kook-Nam Cho Ruwwe, Vorstand von DaMigra und aus der ersten Generation koreanischer Arbeitsmigrantinnen in Deutschland, erlebt bis heute, wie die Geschichte von Gastarbeiter*innen unsichtbar gemacht wird. Die Erkenntnis, dass sie entmenschlicht wurde und nicht als „Frau“ gesehen wurde, entwickelte sie in diesen selbstorganisierten Räumen. Frust und Ärger konnten hier in ein gemeinsames politisches Ziel transformiert werden, wie Nivedita Prasad u. a. von den Anfängen selbstorganisierter Konferenzen migrantisierter und Schwarzer Frauen* erzählt. Rassistische Strukturen aufzuklären und zu diskutieren, ist und bleibt integraler Bestandteil migrantisch feministischer Kämpfe.
Cathy Gelbin erzählte in ihrem Vortrag „Als Juden auffallende Personen: Mein Weg von Berlin (Ost) nach Berlin (West) und jenseits der Mauer“, was es bedeutete, als lesbische Jüdin in Ostberlin seine Jugend zu verbringen und welchen Herausforderungen sie sich auch nach dem Mauerfall stellen musste. In der DDR war sie durch ihr Jüdisch-Sein und ihr Engagement gegen Antisemitismus ins Blickfeld der Stasi geraten. In Westberlin angekommen, zeigte ihr 1985 eine Freundin den lesbisch feministischen Shabbes-Kreis, wo sie endlich auf Verbündete traf. Sichtbarkeit für das jüdische Leben nach der Shoah in Deutschland zu erzeugen, war ein notwendiges Mittel ihres Aktivismus, um die Geschichte nicht vergessen zu lassen.
Storytelling als Zäsur – situiertes Wissen und Wissensproduktion
Vermeintlich festgeschriebene historische Entwicklungen neu zu erzählen, bedeutet auch, darauf aufmerksam zu machen, welche Hürden Aktivist*innen nehmen mussten, um sich ihre Plätze in Gremien, in der Gesellschaft und in der Geschichte zu erkämpfen. Rosa Liccardo frustrierte diese Arbeit so sehr, dass sie sich entschied, aus der ersten Ausländer*innenvertretung in Frankfurt auszutreten, da ihre Arbeit, für die Belange von Ausländer*innen einzustehen, verunmöglicht wurde. Dabei zeigen Berichte wie die von Calcina Ogallo und Esther Kabati, zwei Aktivistinnen von Women in Exile, wie wichtig diese Unterstützung für Migrant*innen auch bei Behörden wäre. Sie erzählen von täglichen Anfeindungen und entmenschlichenden Blicken in öffentlichen Behörden und Räumen, die ihre Lebensrealität prägen.
Die Berichte der verschiedenen Akteur*innen des migrantischen Feminismus zeigen uns, wie Exklusion in unserer Gesellschaft funktioniert. Gerade für die Sozialwissenschaft kann diese Perspektive zum Ausgangspunkt der Analyse und Kritik von alltäglichem und staatlichem Rassismus werden. Gleichzeitig entsteht aber auch eine Vision, wie Gesellschaft gerechter werden kann. In ihrer Keynote vermittelte Umut Erel – ausgehend von den Erfahrungen von Personen mit einem prekären Aufenthaltsstatus, die in Großbritannien keine Sozialleistungen erhalten –, wie durch eine „partizipatorische Aktionsforschung“ Widerstände gegen Sexismus und Rassismus untersucht werden können. Damit nutzt sie eine Forschungsmethode, die die Teilnehmer*innen in die Wissensproduktion mit einbezieht, statt sie als passive Objekte zu betrachten.
Ausländer*innen, Migrant*innen oder doch BIPoC? Von Begriffen und Selbstbezeichnungen
Viele der Teilnehmer*innen beschrieben auf verschiedene Weise, dass „Feminismus“ kein Begriff ist, mit dem sie sich identifizieren konnten. Dieser Begriff und die dahinterstehenden Forderungen seien oft mit Positionen von weiß-christlichen Frauen verbunden gewesen, die mit der eigenen Lebensrealität als Migrant*in bzw. migrantisch gelesenen Person wenig zu tun hatten. Diese Lebensrealität war vor allem auch durch ihren prekären Aufenthaltsstatus und dem damit einhergehenden institutionellen Rassismus gekennzeichnet. Der Begriff des „Migrantischen Feminismus“ ist ein Versuch, diese Erfahrungen als eine fortlaufende Geschichte (be)greifen zu können. Besonders die jüngeren Aktivist*innen sprechen von Selbstbezeichnungen wie BIPoC (Black, Indigenous, People of Color). Auch Sara Bahadori, Aktivist*in und Student*in, übernimmt diese Selbstbezeichnung aus dem amerikanischen Kontext für sich. Es fehlen Sara jedoch Diskussionen über Selbstbezeichnungen marginalisierter Personen im deutschen Kontext. Auch Gewichtsdiskriminierungen prägen heutige Kämpfe wie die von Christelle Nkwendja-Ngnoubamdjum, die sich als dark-skinned Schwarze fette Cis-Frau bezeichnet. Damit ist sie Teil der Fat-Acceptance Bewegung, die sich bewusst gegen soziale Stigmata um das Fettsein stellt. Sie wehrt sich damit auch gegen koloniale Schönheitsideale, die einen weißen, schlanken Körper als Norm vorsehen (vgl. Strings 2019).
Debatten um Sichtbarkeit, Aufklärung und Safe Spaces
Letztendlich stehen diese Begriffe, die über die Jahre immer neu ausgehandelt werden, für Debatten um Sichtbarkeit, Aufklärung und Safe Spaces, um politische Allianzen bilden zu können. Sie begleiten die Forderung nach Gerechtigkeit, die in der Geschichte immer hart durch marginalisierte Gruppen erkämpft werden mussten und müssen.
Das Symposium leistete einen Beitrag zur Aushandlung und Stärkung einer generationenübergreifenden Solidarität, indem die verschiedenen Erfahrungen im Exil und in der Diaspora sichtbar gemacht wurden. Dass diese Aushandlung ein fortwährender Prozess ist, spiegelt sich auch im Wunsch der Teilnehmer*innen wider, ein nachhaltiges Netzwerk zu gründen. Deshalb sagen die Aktivist*innen des Symposiums nicht zuletzt: „Migrantischer Feminismus geht weiter“.
Literatur
Gutiérrez Rodríguez, Encarnación & Tuzcu, Pinar (2021). Migrantischer Feminismus in der Frauen: bewegung in Deutschland (1985–2000). Münster: edition assemblage.
Strings, Sabrina (2019). Fearing the Black Body: The Racial Origins of Fatphobia. New York: NYU Press.
Tuzcu, Pinar (2017). Ich bin eine Kanackin. Decolonizing Popfeminism. Transcultural Perspectives on Lady Bitch Ray. Bielefeld: transcript Verlag.
Zitation: Dschihan Zamani: Migrantischer Feminismus: „Wir schreiben uns in die Geschichte“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 31.01.2023, www.gender-blog.de/beitrag/migrantischer-feminismus/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230131
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Kommentare
Ilse Lenz | 31.01.2023
Danke für den schönen Bericht! Ein kleiner Hinweis, wo viele Quellen des migrantischen und Schwarzen Feminismus gleich zu finden sind:
Lenz, Ilse (2010): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung. Wiesbaden: VS Verlag. Da stehen u.a. Texte der koreanischen und türkischen Frauengruppen, vom ersten gemeinsamen Frauenkongress 1983, den 'Seiltänzerinnen', von May Ayim, Katharina Oguntoye, Behshid Najafi und noch viele andere - leicht zugänglich und unentwegt spannend...