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Mutter kommt meistens ohne * – Als Mutter und Feministin in der Wissenschaft

09. Februar 2021 Sandra Beaufaÿs

Der Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft weist jedes Jahr am 11. Februar darauf hin, dass Frauen in der Forschung noch immer unterrepräsentiert sind. Die vielfach verbreitete Meinung: weil sie ja Kinder großziehen müssen. Gleichzeitig sind gerade Akademikerinnen selten darauf vorbereitet, was sie als Mütter erwartet. Sie wagen vielmehr „ein Blind-Date, allerdings ohne die Option, sich nach dem ersten Treffen umzuentscheiden“ (S. 118), so die Agrarwissenschaftlerin Franziska Appel in dem Buch Mutterschaft und Wissenschaft. Eine erfrischende Publikation in mehrerlei Hinsichten.

Die Materialität ist zurück

Zunächst enthält der Band weniger wissenschaftliche Abhandlungen als vielmehr gendertheoretisch informierte Reflexionen eigener Erfahrungen, die weitergegeben werden sollen – vor allem an andere Mütter in der gleichen Situation. „Es geht uns um die Erfahrungen, die Mütter in unserer Gesellschaft machen, in der sie auch Wissenschaftler*innen sind“ (S. 8), schreiben die Herausgeberinnen Sarah Czerney, Lena Eckert und Silke Martin in der Einleitung. Die Gendersternchen fehlen dann, wenn es um eine „Solidarität unter […] (Nicht-)Mütter[n]“ (S. 9) geht: „Mutter kommt meistens ohne *“ (S. XIII), dichtet Maja Linke. Erfrischend vielfältig sind auch die Textsorten, neben wissenschaftlichen Beiträgen mit persönlichem Einschlag sind auch Gedichte, Briefe und intergenerationelle Gespräche dabei. Am Ende gibt es eine Tabelle: „Alle Gründe für und gegen das Mutterdasein als Wissenschaftler*in“, zusammengetragen von Lena Eckert. Die Autorinnen stammen aus verschiedensten Fachdisziplinen, so manche von ihnen ist auch keine Wissenschaftlerin (mehr) im üblichen Karrieresinn. Sie alle stehen vor dem gleichen Dilemma, so Eckert: „Wenn wir als Wissenschaftler*in und Mutter anerkannt werden wollen, dann müssen wir zwei verschiedene materiell-diskursiv choreografierte Existenzweisen vereinen“ (S. 26). In dieser Feststellung liegt auch ein weiterer Spannungspunkt der Lektüre, da sich in dem Begriff „Existenzweisen“ bereits abzeichnet, dass hier von Materialität im doppelten Sinne gesprochen wird. Mutterschaft zwingt unweigerlich dazu, mit dem Boden der Tatsachen bekannt zu werden.

Einbruch der Lebensrealität

„Mit der Geburt meines Sohnes änderte sich schlagartig mein Leben“ (S. 99), bekennt Angelika Pratl – und damit ist sie nicht allein. Auch der Beitrag von Sarah Czerney thematisiert, wie mit der traumatischen Geburt und den ersten Lebensmonaten ihres Sohnes eine bislang offenbar ungekannte Körperlichkeit über die Autorin hereinbricht und sie – sowie ihren bislang von Theorie und Feminismus geprägten Alltag – mit sich reißt. Abgesehen davon, dass zum Glück nicht jede Mutterwerdung so brachial verläuft, ertappe ich mich dabei, wie ich – selbst Mutter von zwei Kindern – ein wenig verwundert auf diese Körpergrenzerfahrung schaue: Was lässt uns eigentlich glauben, wir würden immer „funktionieren“ können?

Aus einem ähnlichen Gedanken heraus formuliert Christiane Lewe, dass wir keine „Gehirne in Tanks“ (S. 82) seien und auch Nicht-Mütter vom strukturellen Ableismus und der Marginalisierung von Sorgearbeit in der Wissenschaft betroffen sein können: „Auch ohne Kind könnte für jede von uns irgendwann der Moment kommen, da unser Körper unsere Selbstvermarktung als leistungsfähiger, unaufhaltsamer Kopfmensch nicht mehr ohne weiteres mitträgt und sich mit eigenen Bedürfnissen in den Vordergrund schiebt“ (S. 83). Lewe ruft deshalb zu einer solidarischen Haltung gegenüber Eltern auf.

Muttermythen und Gleichberechtigungsbremsen

Erschöpfung, Überforderung und Langeweile sind indes keine unbekannten Begleiter von Eltern und insbesondere Müttern. Indem sie die Langeweile des Alltags mit einem Säugling aufgreift, verweist Madita Pims auf den Mythos der Mutterschaft, der einer angestrebten Gleichberechtigung noch immer entgegenstehe. Es fänden sich gerade im Topos der Langeweile scharfe Normen, die das Verhalten von Müttern gesellschaftlich maßregeln: „Unterhaltung außerhalb der Kinderwelt scheint für Mütter nicht vorgesehen. Dies zeigt sich unter anderem daran, wie Mütter sanktioniert werden, die sich nicht von ihrem Kind allein ausreichend unterhalten fühlen“ (S. 93). Die Konzentration auf den Nachwuchs scheint oberstes Gebot in einer Gesellschaft, in der „eine ins Handy starrende Mutter mit Kind breitenwirksam Wut entfachen kann“ (S. 94) und die Vorstellung, Babys könnten auch bei Black-Metal-Musik schlafen, offenbar Albträume auslöst. Gleichzeitig werde nicht berücksichtigt, so Pims, dass es Tage gebe, an denen ein einziges Kind so viel Aufmerksamkeit absorbieren kann, dass jede andere Tätigkeit daneben unmöglich wird. Selbstverständlich auch wissenschaftliche Tätigkeit.

Prekarisierung, Prekarität – Schwangerschaft

Die Steigerung davon, seine Tätigkeit nicht mehr im bisherigen Umfang und mit der nötigen Ausgeschlafenheit ausführen zu können, ist sicherlich die Existenznot. Auch davon wird berichtet. Der Text von Louisa Kamrath legt schonungslos offen, dass eine Masterstudierende in ihrer zweiten Schwangerschaft durch alle sozialen Netze fallen kann. Unsere Gesellschaft kennt offenbar nur Arbeitende, Studierende und Mütter, nicht aber arbeitende studierende schwangere Mütter, die in dieser Kombination auch manchmal Unterstützung benötigen, sofern sie keine finanzkräftigen Familien oder Partner*innen haben. Der Sozialstaat habe Grenzen, wird der Autorin von einer Sachbearbeiterin mitgeteilt. Und auch die Universität hat solche Grenzen, die vor der Nase von Müttern verlaufen. So stellt die Literaturwissenschaftlerin Eva-Marie Obermann in ihrem Beitrag „Die Uni, vier Kinder und ein Abschied“ nüchtern fest: „Dass ich nach meiner Promotion kaum noch an der Uni arbeiten kann, weiß ich schon jetzt. So flexibel Studium und Promotion auch sind, so eingefahren ist der Wissenschaftsbetrieb, wenn es darum geht, familienfreundlich zu sein“ (S. 311). Mit der Professur, so ist sie sich jetzt bereits sicher, wird es deshalb wohl nichts werden, denn sie werde „[m]it scheinbarem Wohlwollen […] hinausgedrängt“ (S. 313). Keineswegs zähle, was sie bereits geleistet habe, wähnt die Autorin, vielmehr obsiegten die „Vorstellungen anderer“, mit wie vielen Kindern eine Frau noch „angemessen“ arbeiten könne (S. 313).

Mutterschaft als Wille und Vorstellung

Der unleugbare Vorteil dieses Buches ist das kritische Reflexionsvermögen seiner Autorinnen, die sich vielfach im Horizont avancierter feministischer Theorie bewegen. Obgleich es an der einen oder anderen Stelle unangenehm aufstößt (zumindest mir), wenn Kinder und Mutterschaft allzu romantisiert dargestellt werden, kommt dies zum Glück nicht sehr häufig vor. Vielmehr werden die eigenen Erwartungen und Praxen streng vor dem Hintergrund gesellschaftlich reproduzierender Logiken betrachtet. Dabei muss der gespürte Widerspruch ausgehalten und es muss oft erkannt werden, „wie sehr die Geschlechterordnung durch die Akteur*innen inkorporiert wird und in Gesten sowie den Habitus übergeht. Und dies, obwohl […] das unerträglich sein kann“ (S. 290), wie Anne-Dorothee Warmuth feststellt. Nach ihrer Sicht auf die Diskrepanz zwischen ihren „feministischen Ansprüchen“ und ihrer „gelebten Realität“ (S. 273) als Mutter gefragt, antwortet die Bildungswissenschaftlerin Verena Renneke: „Ich habe das Gefühl, dass der Feminismus mich betrogen hat. […] Ich fühle mich verloren zwischen den jungen, hippen Feministinnen, die den ganzen Kuchen wollen, und einer älteren Generation, die Forderungen von früher wiederholt und halbe-halbe fordert“ (S. 273).

Potenzial, die Wissenschaft zu verändern?

Mutterschaft wird in diesem Buch aus der Unsichtbarkeit geholt – kein tapferes Muttersein im ‚stillen Kämmerlein‘ mehr, stattdessen ‚Stillen in der Öffentlichkeit‘, Kinder im Hörsaal, Körpererfahrung ohne Gnade. Das schamhafte Verhüllen dieser Daseinsform insbesondere in der hehren und ach so körperlosen Wissenschaft soll damit ein Ende haben – so zumindest der innige Wunsch von Mitherausgeberin Sarah Czerney, die will, „dass Mutterwerden und Muttersein nicht getrennt von der wissenschaftlichen Praxis stattfinden und damit unsichtbar gemacht werden, sondern sichtbarer und wirksamer Teil von ihr sein können“ (S. 77). Sie wünscht sich außerdem ein „feministisches Konzept des Mutterseins, verstanden als individuelles, alltägliches Tun und vor allem als körperliche Erfahrung“ (S. 77) und hofft, die geteilte und erzählte körperliche Erfahrung habe das „Potenzial, die Wissenschaft zu verändern“ (S. 78). Zum Beispiel hin zu mehr gemeinschaftlichem Arbeiten und einem Denken, das nicht verleugnet, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind – was auch bedeuten würde, füge ich hinzu, sich vom Konkurrenzcredo in der Wissenschaft zu verabschieden. Bis dahin ist es freilich noch ein weiter Weg, auf dem wir – ob Mutter oder nicht – jede Ermutigung gebrauchen können.

Das Buch Mutterschaft und Wissenschaft. Die (Un-)Vereinbarkeit von Mutterbild und wissenschaftlicher Tätigkeit, herausgegeben von Sarah Czerney, Lena Eckert und Silke Martin, ist 2020 bei Springer Fachmedien erschienen. Es ist im Open Access verfügbar unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-30932-9.

Zitation: Sandra Beaufaÿs: Mutter kommt meistens ohne * – Als Mutter und Feministin in der Wissenschaft, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 09.02.2021, www.gender-blog.de/beitrag/mutter-und-feministin-in-der-wissenschaft/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210209

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Dr. Sandra Beaufaÿs

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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