Skip to main content
Headergrafik: alexmia/Adobe-Stock

Forschung

Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an NRW-Hochschulen

21. März 2023 Forschungsgruppe Gender-Report

Unter dem Schlagwort „MeToo in Science“ sind in jüngerer Zeit verschiedene Fälle von sexueller Belästigung, Gewalt, Erniedrigung und Machtmissbrauch durch Professoren publik geworden (z. B. Eberle/Löffler 2022; Fuhrmann 2022; Komma-Pöllath 2021). Diese Beispiele werfen Fragen danach auf, warum es an Hochschulen offensichtlich so schwer ist, gegen gravierendes Fehlverhalten – insbesondere von arrivierten Wissenschaftlern –  vorzugehen und Betroffene adäquat zu unterstützen (vgl. Der Spiegel 2022).

In diesem Beitrag gehen wir kurz auf Forschung zu sexualisierter Diskriminierung und Gewalt in Wissenschaftsorganisationen ein und stellen im Anschluss daran Ergebnisse aus eigenen Untersuchungen vor, u. a. zum wissenschaftlichen Mittelbau und zum Umgang der Hochschulen in Nordrhein-Westfalen mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt (Gender-Report 2022). Dabei wird deutlich, weshalb es gerade im Wissenschaftskontext nicht einfach ist, (sexualisierter) Diskriminierung und Gewalt entgegenzutreten.

Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen – ein Tabuthema?

Auch wenn hinsichtlich des deutschen Hochschulraums große Forschungslücken bestehen, liegen einige wenige Studien vor, die das Vorkommen von sexueller Belästigung in der Wissenschaft untersucht haben (Mense/Mauer/Herrmann 2022: 61). Die jüngste ist die europaweite Studie UniSafe, in deren Rahmen über 42.000 Studierende und Beschäftigte an 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen aus 15 Ländern zu ihren Erfahrungen mit geschlechterbasierter Gewalt in ihrer wissenschaftlichen Einrichtung befragt wurden. 62 % der Befragten haben berichtet, zumindest eine Form geschlechterbasierter Gewalt erlebt zu haben, 31 % berichten von sexueller Belästigung und 3 % von sexueller Gewalt (Lipinsky et al. 2022). Frauen und nichtbinäre Studienteilnehmende sind häufiger als Männer von geschlechterbasierter Gewalt betroffen. Zudem erhöht sich für Befragte, die sich als LGBQ+ identifizieren, eine Behinderung oder chronische Krankheit vorweisen, und für diejenigen, die sich einer ethnischen Minderheit zurechnen, das Risiko eines Übergriffes. Nur selten wurde ein Vorfall gemeldet, zumeist, weil sich die Betroffenen nichts davon versprachen – zu einem ähnlichen Ergebnis kommen die Surveys der MPG- und Leibniz-PhD-Netzwerke (Beadle 2020; PhDNetwork Max Planck 2020).

Pantelmann und Wälty (2022) weisen auf den besonderen Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen hin: Obgleich diese vielfach „omnipräsent“ (Pantelmann/Wälty 2022: 16) sei, werde sie tabuisiert und normalisiert. Es gehöre zum Selbstbild wissenschaftlicher Organisationen und Communities, zu glauben, dass sie gesellschaftlich ‚neutrale‘ und sogar besonders kritische Positionen einnehmen – und deshalb gar kein größeres Problem mit dem Thema haben. Diese Haltung erschwert den Umgang damit für Betroffene, aber auch für die Institutionen. Daraus und aus der generellen Intimität des Themas ergebe sich zudem, dass Betroffene ihrer eigenen Wahrnehmung oft nicht trauen.

Befragung des wissenschaftlichen Mittelbaus in NRW

Die ‚Omnipäsenz‘ von Sexismus und von sexueller Belästigung an ihren Hochschulen bestätigen auch die Befragten aus dem Mittelbau an NRW-Hochschulen (Kortendiek et al. 2022: 354ff.). Dies wird u. a. deutlich in der Erfahrung mit Benachteiligungen am Arbeitsplatz: Fast jede zweite befragte Frau, aber nur jeder vierte Mann gab an, Benachteiligungen erfahren zu haben. Das Geschlecht wird insbesondere von Frauen und TIN*Befragten am häufigsten als Ursache für Benachteiligung benannt. Einige Teilnehmer_innen der Befragung schildern in diesem Kontext auch schwere, gewaltförmige Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.

Auch Formen unangemessenen Verhaltens wie bspw. das Vergeben nicht zu bewältigender Arbeitsaufgaben, das Vorenthalten von Informationen, kränkende Bemerkungen oder sogar illegale Forderungen wie Verzicht auf Urlaub, Krankheits- oder Elternzeit zählen nicht selten zum Arbeitsalltag. Ganz unabhängig von der Thematik berichten Frauen häufiger von einer feindlichen Arbeitsatmosphäre, insbesondere Frauen, die Rassismus ausgesetzt sind. Ebenfalls häufiger bejahen Frauen sowie TIN*Personen, dass sie selbst sexuelle Belästigung an ihrem aktuellen Arbeitsplatz erlebt haben. Zu rund drei Vierteln werden Kollegen und Professoren und damit männliche Personen mit gleichem oder höherem Status als belästigend benannt, Frauen treten als Täterinnen deutlich seltener in Erscheinung und stehen auch weniger häufig in einer hierarchisch übergeordneten Position zu den Betroffenen.

Quelle: Online-Befragung, eigene Berechnungen (n = 2.680 Frauen, 2.890 Männer, 33 TIN*). Frage 29: Haben Sie an Ihrem aktuellen Arbeitsplatz Erfahrungen gemacht, die Sie als sexuelle Belästigung empfunden haben?

Insgesamt wurden die o. g. Vorfälle nur von etwa 30 % der Mittelbauer_innen gemeldet. Bemerkenswert ist, dass die an Hochschulen eigens (und nach AGG verpflichtend) eingerichteten Beschwerdestellen gegen Diskriminierung und Belästigung seltener aufgesucht wurden als Institutsleitungen oder Dekanate. Die Hälfte der betroffenen Befragten sahen von einer Beschwerde ab, weil sie sich davon keine Lösung versprachen, und rund 30 %, darunter vor allem Frauen, befürchteten Nachteile. Es stellt sich zudem heraus, dass Männer häufiger als Frauen den Vorfall als nicht so schlimm einordneten und deshalb auf eine Beschwerde verzichteten. Jeder zehnten betroffenen Person war eine Beschwerdestelle gar nicht bekannt.

Was tun NRW-Hochschulen?

Schon der Gender-Report 2019 ermittelte, was die Hochschulen in Trägerschaft des Landes NRW tun, um ihre Mitglieder vor sexualisierter Diskriminierung und Gewalt zu schützen (Kortendiek et al. 2019: 209ff.). Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es an vielen Hochschulen Maßnahmen, wobei systematische Handlungsstrategien nur selten vorhanden waren. In der neuen Erhebung des Gender-Reports 2022 zeigen sich hingegen erste Ansätze zur strukturellen Verankerung von Maßnahmen und zur Prävention, um eine diskriminierungsarme Hochschulkultur insgesamt zu fördern. Mehrere Hochschulen integrieren das Thema sexualisierte Diskriminierung und Gewalt auch in Forschung und Lehre. Das Handlungsfeld wird zunehmend mit der hochschulinternen Antidiskriminierungsarbeit verbunden. Ähnliches gilt für Beratungsangebote und Beschwerdestellen.

Fast alle der 37 in die aktuelle Untersuchung einbezogenen Hochschulen geben an, dass interne Stellen im Bereich der Antidiskriminierungsarbeit kooperieren (Kortendiek et al. 2022: 231). So wird der interne Austausch über formale Arbeitskreise, Runde Tische oder übergeordnete Gremiensitzungen hergestellt. Dabei sind Vertreter_innen verschiedener Stellen eingebunden wie bspw. die AGG-Beschwerdestelle, die Gleichstellungsbeauftragte, Diversity-Kommissionen, Schwerbehindertenbeauftragte und die Studienberatung. Auch das Justiziariat, interne und externe Beratungsstellen sowie Vertretungen der Fakultäten und der Studierenden können dabei sein. All dies zeigt, dass die verschiedenen Dimensionen des Themas in den Hochschulen angekommen sind und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.

Weshalb ist es so schwer, dass Fälle adäquat bearbeitet werden?

Angesichts dieser sichtbaren Bemühungen lässt sich fragen, warum die Hochschulen die Betroffenen anscheinend nur wenig unterstützen, wenn Fälle denn tatsächlich gemeldet werden. Häufig sind es die Betroffenen, die die Organisation verlassen, während die Beschuldigten ihren Beruf weiter ausüben können und ihr Fehlverhalten somit keine negativen Auswirkungen für sie selbst hat (vgl. Eberle/Löffler 2022).

So ist es nicht verwunderlich, dass die Befragten Nachteile befürchten, wenn sie sich beschweren oder um Unterstützung bitten. Die Angst vor Konsequenzen ist im Mittelbau aufgrund prekärer Arbeitsverhältnisse, der eigenen Abhängigkeitsposition und und daran gekoppelter Qualifikationsarbeiten groß. Die Position des Führungspersonals bzw. verbeamteter Professor_innen scheint dagegen unantastbar. Zudem ist offenbar für viele Betroffene nicht klar, an welche Stellen sie sich am besten zuerst wenden sollen. Darüber hinaus ist nicht immer transparent, ob die Meldestellen tatsächlich unabhängig, d. h. nicht mit organisationsinternen Hierarchien verwoben sind. Institutsinterne Abhängigkeiten sind besonders problematisch, weil kollegiale Loyalitäten verhindern können, dass den Betroffenen geglaubt bzw. ein Vorfall weiterverfolgt wird.

Strukturelle Probleme erkennen und angehen

Es muss also zunächst ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen tendenziell tabuisiert wird, gleichwohl es sich um ein weit verbreitetes Phänomen handelt, wie die Befunde zeigen. Wichtig ist, auch die intersektionale Dimension verständlich zu machen, denn (sexualisiertes) Führungsfehlverhalten ist eng mit weiteren Diskriminierungsformen verwoben. Um Studierende und Beschäftigte, die Machtmissbrauch, sexuelle Belästigung oder anderweitige Diskriminierung erfahren haben, zu unterstützen, ist es zudem unbedingt notwendig, niedrigschwellig erreichbare, unabhängige und gut qualifizierte Beschwerde- und Beratungsstellen zu schaffen. Ansprechpersonen, Verfahrens- und Beschwerdewege müssen bekannt sein und transparent ausgewiesen werden. Das bedeutet auch, entsprechend geschultes und weisungsungebundenes Personal bereitzustellen, das sich in keiner beruflichen oder persönlichen Abhängigkeit insbesondere zum Führungspersonal befindet.

Literatur

Beadle, Brian et al. (2020): Being a Doctoral Researcher in the Leibniz Association. 2019 Leibniz PhD Network Survey Report. Leibniz PhDNetwork. Zugriff am 27.01.2023 unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-69403-1.

Der Spiegel (2022): Studierendenvertretende sehen „absolutes Versagen“ der Universität. Spiegel-Online, 19.12.2022. Zugriff am 27.01.2023 unter https://spiegel.de/panorama/bildung/belaestigungsvorwuerfe-an-der-uni-koeln-asta-sieht-absolutes-versagen-der-institutionellen-strukturen-a-ac9a4bfd-59b2-4e6f-80a4-68de65ee44bc.

Eberle, Lukas/Löffler, Juliane (2022): Hat der Wissenschaftsbetrieb ein #MeToo-Problem? Der Spiegel, 51/2022. Zugriff am 27.01.2023 unter https://spiegel.de/panorama/bildung/uni-koeln-belaestigungsvorwuerfe-professor-in-unterhosen-a-2bdb1cd7-f9b1-4e97-994f-40f076ee3974.

Fuhrmann, Andreas (2022): Kritik an Urteil gegen Göttinger Uni-Professor reißt nicht ab. Göttinger Tageblatt, 04.04.2022. Zugriff am 03.02.2023 unter https://goettinger-tageblatt.de/beruf-und-bildung/regional/ein-schlag-ins-gesicht-aller-frauen-heftige-kritik-an-urteil-gegen-uni-professor-XXQKYVA345VNPETC77T4URBWHA.html.

Komma-Pöllath, Thilo (2021): Prozess gegen von Bose: Gericht kann „Klima der Gewalt“ nicht feststellen. Die Welt, 16.08.2021. Zugriff am 03.02.2023 unter https://welt.de/kultur/article233164151/Prozess-gegen-von-Bose-Gericht-kann-Klima-der-Gewalt-nicht-feststellen.html.

Kortendiek, Beate/Mense, Lisa/Beaufaÿs, Sandra/Bünnig, Jenny/Hendrix, Ulla/Herrmann, Jeremia/Mauer, Heike/Niegel, Jennifer (2019): Gender-Report 2019. Hochschulentwicklungen, Gleichstellungspraktiken, Gender Pay Gap. Studien Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung
NRW Nr. 31. Essen. Zugriff am 03.02.2023 unter https://netzwerk-fgf.nrw.de//fileadmin/media/media-fgf/download/publikationen/genderreport_2019_langfassung_f_web.pdf.

Kortendiek, Beate/Mense, Lisa/Beaufaÿs, Sandra/Bünnig, Jenny/Hendrix, Ulla/Herrmann, Jeremia/Mauer, Heike/Niegel, Jennifer (2022): Gender-Report 2022. Geschlechter(un)gerechtigkeit an
nordrhein-westfälischen Hochschulen. Hochschulentwicklungen, Gleichstellungspraktiken,
Ungleichheiten im Mittelbau. Studien Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung
NRW Nr. 39. Essen. Zugriff am 03.02.2023 unter https://netzwerk-fgf.nrw.de/fileadmin/media/media-fgf/download/Genderreport_2022_Langfassung.pdf.

Lipinsky, Anke/Schredl, Claudia/Baumann, Horst/Humbert, Anne Laure/Tanwar, Jagriti (2022): Gender-based violence and its consequences in European Academia. Summary results from the UniSAFE survey. Report, November 2022. UniSAFE project no.101006261. Zugriff am 27.02.2023 unter https://unisafe-gbv.eu/wp-content/uploads/2022/11/UniSAFE-survey_prevalence-results_2022.pdf

Mense, Lisa/Mauer, Heike/Herrmann, Jeremia (2022): Sexualisierter Belästigung, Gewalt und Machtmissbrauch an Hochschulen entgegenwirken. Handreichung. Studie Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW Nr. 37. Essen. Zugriff am 27.01.2022 unter https://www.netzwerk-fgf.nrw.de//fileadmin/media/media-fgf/download/netzwerk_fgf_studie_nr_37_f_web_220119_neu.pdf.

Pantelmann, Heike/Wälty, Tanja (2022): Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt im Hochschulkontext. In Mense, Lisa/Mauer, Heike/Herrmann, Jeremia (2022): Sexualisierter Belästigung, Gewalt und Machtmissbrauch an Hochschulen entgegenwirken. Handreichung. Studie Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW Nr. 37 (S. 14–17). Essen. Zugriff am 27.01.2022 unter https://www.netzwerk-fgf.nrw.de//fileadmin/media/media-fgf/download/netzwerk_fgf_studie_nr_37_f_web_220119_neu.pdf.

PhD-Network Max Planck (2020): Survey Report 2019. Zugriff am 27.01.2023 unter https://phdnet.mpg.de/145345/PhDnet_Survey_Report_2019.pdf.

Zitation: Forschungsgruppe Gender-Report: Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an NRW-Hochschulen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 21.03.2023, www.gender-blog.de/beitrag/sexualisierte-diskriminierung-nrw-hochschulen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230321

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: alexmia/Adobe-Stock

Forschungsgruppe Gender-Report

Die Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW erstellt im Dreijahresrhythmus den Gender-Report. Er dient zugleich als Grundlage für die Berichtsanforderungen im Rahmen des Landesgleichstellungsgesetzes NRW (§ 22). Die Forschungsgruppe des Gender-Reports 2022 besteht aus Beate Kortendiek, Lisa Mense, Sandra Beaufaÿs, Jenny Bünnig, Ulla Hendrix, Jeremia Herrmann, Heike Mauer und Jennifer Niegel.

Zeige alle Beiträge
Profilseite Forschungsgruppe Gender-Report

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.