28. Januar 2025 Leonie Schulz
Mit der Veröffentlichung im Oktober 2024, nur wenige Wochen vor dem Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes in Deutschland, brachte Birgit Palzkill mit Nicht binär Leben ein Buch heraus, das wissenschaftliche Methoden mit praxisnahen Empfehlungen kombiniert und in dieser Form und Thematik einzigartig ist. Mit innovativem Genre-Bending und tiefgründigen Erzählungen zeigt es die Vielfalt und Herausforderungen nichtbinären Lebens auf – eine Ressource für nichtbinäre Communities und ein Aufruf an alle, die Komplexität der Welt neu zu betrachten.
Ein praxisnaher, wissenschaftlich fundierter Ratgeber zu einem marginalisierten Thema
Das Buch erscheint im Kontext der wachsenden Zahl von Publikationen, die das Leben von trans und nichtbinären Menschen beleuchten. Doch während Autobiografien sowie fiktionale Geschichten, die trans und nichtbinäre Lebensrealitäten widerspiegeln, in den letzten Jahren allmählich häufiger werden, fehlt es im deutschen Sprachraum bisher an Interviewstudien zum Facettenreichtum nichtbinärer Erfahrungen. Deshalb sticht Palzkills Werk heraus, da es einen bislang seltenen Spagat zwischen wissenschaftsnaher Methodik und erzählerischer Zugänglichkeit wagt. Die wissenschaftliche Ausbildung Palzkills wird besonders in der Methodik sichtbar. Qualitative Interviews wurden als Grundlage für die Biografien von vier fiktionalen nichtbinären Personen genutzt. Durch diese kreative Erzähltechnik wird das Leben der Interviewten dargestellt, ohne dass sie direkt einer Person zugeordnet werden können – und dennoch ist die Authentizität der dargestellten Erfahrungen unverkennbar. Damit gelingt ein tiefer Einblick in die Alltagserfahrungen nichtbinärer Menschen, deren Perspektiven oft unzureichend dargestellt wurden. Gleichzeitig wird Wissen über nichtbinäres Leben in Deutschland generiert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Diese Transferleistung kann herausfordernd sein, weil sprachliche und inhaltliche Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden müssen.
Von Selbstentdeckungsreisen und zwischenmenschlichen Beziehungen
Der erste Teil des Buches handelt von der Auseinandersetzung mit und dem Ausloten der eigenen Identität. Tina beschreibt, wie sie Normativitätsdruck erfahren hat: „Ich muss das tun, was Mädchen tun. Ich muss normal sein“ (S. 33). Es wird von sozialer Ausgrenzung berichtet, aber auch von Zufluchtsorten, in denen Geschlecht kein Thema war (S. 36). Nach Anpassungsversuchen ist es oft der erste Kontakt zu nichtbinären Menschen, der als „Wendepunkt“ empfunden wird (S. 47). Dann erfolgt eine herausfordernde, aber auch befreiende Entdeckungsreise der eigenen Identität (S. 59), was Leon als „die Freiheit zu sein, wie ich bin“ beschreibt (S.64).
Interaktionen mit dem unmittelbaren Alltagsumfeld werden im zweiten Teil thematisiert. Teil der Alltagserfahrung nichtbinärer Menschen ist der Zwang, sich binärgeschlechtlich verorten zu müssen (S. 109ff.), sowie „Angst vor Gewalt und Diskriminierung“ (S. 111). Es muss immer wieder neu abgewogen werden, wann ein Coming-out sinnvoll ist und wann nicht, und die Reaktionen auf nichtbinäre Coming-outs sind vielschichtig. Als kräftezehrend wird der ständige Erklärungszwang des eigenen Seins empfunden. Wenn sich nichtbinäre Personen im beruflichen Umfeld aus Sicherheitsgründen gegen ein Coming-out entscheiden, wird das als belastend und auch gesundheitsschädigend beschrieben, weswegen eine queer-freundliche Unternehmenskultur unabdinglich ist.
Die Relevanz der Anerkennung
Ein respektvoller Umgang mit allen, aber insbesondere nichtbinären Menschen, zeichnet sich auch durch das Nutzen der korrekten Pronomen aus, was im dritten Teil des Buches thematisiert wird. Durch eine inkorrekte Adressierung wird nichtbinären Menschen symbolisch die Existenzberechtigung abgesprochen, was Tim als „Gefühl von unsichtbar sein“ und Tina als „kleine Stiche“ beschreibt (S. 157). Für Tea kann es bei flüchtigen Begegnungen aber auch in Ordnung sein, falsch adressiert zu werden (S. 159) [Nichtbinäre Erfahrungen können in diesem Rahmen nur schlaglichtartig beleuchtet werden, während im Buch der Facettenreichtum sichtbar wird]. Ob ein Korrigieren als sinnvoll ermessen wird, ist abhängig von Faktoren wie den Hierarchien innerhalb der Beziehung, der erwarteten Reaktion des Gegenübers, aber auch der eigenen Tagesform (S. 162), da das Widersprechen viel „Kraft und Mut“ (S. 163) erfordert. Auch die amtliche Anerkennung ist von zentraler Bedeutung für die Steigerung der Lebensqualität nichtbinärer Menschen, da sie laut Palzkill „von großem ideellem und praktischem Wert“ ist (S. 188).
Im vierten und letzten Teil leitet Palzkill aus den Interviews Ratschläge für die Alltagspraxis ab. Zentral für eine geschlechterinklusive Praxis ist das Mitdenken der Existenz nichtbinärer Menschen (S. 206), wofür Palzkill den Lesenden sechs konkrete Anregungen mitgibt. Darauf folgt ein Ausblick, in dem nichtbinäres Leben und Denken als Chance greifbar gemacht werden.
Kraftaufwand und Empowerment
Erfrischend ist, dass Palzkill die Interviewpassagen nicht zu intensiv mit eigenen Interpretationen und Deutungen verarbeitet, und somit wirklich die Expertise der Personen hinsichtlich der eigenen Lebensrealität wirken lässt. Ein zentrales Anliegen von Palzkill ist die Sichtbarmachung der emotionalen und sozialen Herausforderungen in nichtbinären Lebensrealitäten. Die Auseinandersetzung damit empfand Palzkill selbst als belastend (S. 14) und die Schwere dieser Erfahrungen wird beim Lesen deutlich. Der emotionale Arbeitsaufwand, sich ständig mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt auseinandersetzen zu müssen, wird nicht verschwiegen. Trotzdem liest sich das Buch nicht erdrückend pessimistisch, denn auch die Stärke und Resilienz der Interviewten wird sichtbar, indem sie in der cisnormativ gestalteten Welt so leben, wie es sich für sie stimmig anfühlt und dabei auch Freude empfinden und sogar Eltern und alt werden können. Das Buch zeigt also auch Aspekte der Lebensrealitäten nichtbinärer Menschen auf, die sie gleichzeitig vulnerabel und frei machen, was zunächst paradox erscheinen mag. Das zu erkennen ist jedoch sehr empowernd. Denn als marginalisierte Personen sind wir oft mit so vielen Herausforderungen im Alltag konfrontiert, dass wir manchmal gar nicht realisieren, welche Freiheiten wir bereits leben, von denen andere noch träumen oder von denen sie sich nicht einmal vorstellen können, dass es sie gibt.
Die unendliche Vielfalt nichtbinärer Erfahrungen
Es ist außerdem schön zu sehen, dass sowohl mit der verfassenden Person selbst als auch mit den Interviewten auch ältere nichtbinäre Menschen zu Wort kommen. Nur mit dieser Repräsentation wird Altwerden für nichtbinäre Menschen vorstellbar – was hier bewirkt wird, ist nichts weniger als das Erweitern von Möglichkeitsräumen. Gleichzeitig beschreibt Palzkill auch strukturelle Barrieren, die dazu geführt haben, dass die Gruppe der Interviewten in vielerlei Hinsicht homogen ist und daher die Vielfalt nichtbinären Lebens nicht in aller Tiefe widergespiegelt wird. Besonders mehrfachmarginalisierte Menschen haben oft keinen Zugang zu den Ressourcen und Support-Netzwerken, die für die Interviewpartner*innen in Palzkills Buch zumindest erreichbar und womöglich auch selbstverständlich sind. Benannt werden also auch Differenzen in den Erfahrungen innerhalb der Communities, die durch strukturelle Faktoren bedingt sind. Wie Palzkill (S. 18) wünsche ich mir, dass in der Zukunft noch viel mehr Bücher geschrieben werden, in denen auch weniger privilegierte Menschen aus nichtbinären Communities zu Wort kommen.
„Nicht binär Leben“ als Ressource
Für nichtbinäre Communities ist dieses Buch eine wichtige Ressource für die Gegenwart und ein Zeitzeug*innendokument für die Zukunft. Es nimmt nicht nur einen großen Teil der Aufklärungsarbeit ab, die nichtbinäre Menschen selbst leisten müssen, sondern es bietet auch die Möglichkeit, die Vielfalt der eigenen Community zu erfahren. Selbst als Person, die sich bereits tiefgehend mit nichtbinären Lebensrealitäten auseinandergesetzt hat, hat mich der Facettenreichtum, der mir aus diesem Buch entgegenspringt, überrascht und in seinen Bann gezogen. In einer Zeit, in der nichtbinäre Menschen tagtäglich mit Unverständnis, Anfeindungen und Ausgrenzung konfrontiert sind, gibt dieses Buch Hoffnung und Zuversicht.
Insgesamt bietet Palzkills Buch eine fundierte und zugängliche Einführung in die Lebensrealitäten nichtbinärer Menschen, die für alle bereichernd sein kann. In der sorgfältigen Ausarbeitung des Buches wird Palzkills emotionale Verbundenheit mit dem Thema und den Menschen spürbar. Es wird deutlich, wie tiefgründig und vielschichtig die Erfahrungen sind und wie wichtig es ist, diese in ihrer gesamten Komplexität zu verstehen. In einer Welt, die zunehmend polarisiert ist, nimmt Palzkill eine Mammutaufgabe in Angriff und ruft zur Veränderung der eigenen Denkweise auf. Denn eine neugierige Haltung stelle „eine Chance für alle dar, ein Denken zu überwinden, das der Komplexität und der Realität der Welt nicht gerecht wird“ (S. 223).
Literatur
Palzkill, Birgit (2024): Nicht binär Leben. Hiddensee: w_orten & meer.
Zitation: Leonie Schulz: Die Vielfalt nichtbinären Lebens: Alltagsgeschichten über Freiheit und Widerstände, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 28.01.2025, www.gender-blog.de/beitrag/vielfalt-nichtbinaeren-lebens/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250128
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