23. Januar 2024 Helma Lutz
Ein Tagesaufenthalt in Ostberlin gehörte 1971 zum Programm obligatorischer Klassenreisen westdeutscher Gymnasiast*innen nach (West-)Berlin. Vom Checkpoint Charlie führte der Gang hinauf zur Friedrichstraße, an der S-Bahn-Brücke hing das Plakat: Freiheit für unsere Angela Davis. Vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands als ‚unsere‘ Angela Davis bezeichnet, wurde sie der DDR-Jugend als revolutionäres Vorbild präsentiert. Täglich berichteten die DDR-Medien über den Verlauf ihres Gerichtsprozesses (siehe dazu Lorenz 2020). Als Gefangene wurde Davis mit staatlich organisierten Kampagnen von der DDR-Führung unterstützt und es wurden Gelder für ihre Verteidigung gesammelt. Viele Jahrzehnte später – bei der Inauguration der Angela Davis Gastprofessur an der Frankfurter Goethe-Universität im Dezember 2013 – berichtete sie, dass sie in ihrer Zelle säckeweise ‚Rosen-Postkarten‘ erhielt, eine Aktion des Demokratischen Frauenbundes der DDR, der sie mit 1 Million Postkarten unterstützen wollte.
Davis war zu diesem Zeitpunkt die berühmteste Gefangene der Welt. Nicht nur Studierende und Hochschullehrer*innen, sondern auch Politiker*innen und politische Gefangene aus allen Teilen der Welt riefen zu ihrer Freilassung auf, Popstars und Sänger*innen widmeten ihr Lieder – darunter John Lennon und Yoko Ono, die Rolling Stones, Hound Dog Taylor und in Deutschland Franz Josef Degenhardt. Am 26. Januar 2024 ist ihr 80. Geburtstag.
Studentin der Frankfurter Schule
Die im Folgenden aufgegriffenen biografischen Stationen ihres Lebenslaufs stützen sich auf die Beschreibungen in ihrer 1974 erstmals erschienen Autobiographie Angela Davis. An Autobiography (Davis 2023). Zu jeder Ausgabe schrieb Davis ein neues Vorwort. Geboren und aufgewachsen in einer Lehrer*innenfamilie in Birmingham, Alabama, wo bis 1964 noch eine strikte Rassentrennung herrschte, erlebte Angela Davis den alltäglichen Terror der Segregation. Ihr erstes Studienstipendium führte sie an die Brandeis-University/Massachusetts, wo sie französische Literatur und Philosophie studierte. Herbert Marcuse, Mitglied der Frankfurter Schule, der nach der Flucht vor nationalsozialistischer Verfolgung in den USA blieb und lehrte, wurde dort ihr Mentor. Sie folgte ihm später nach Kalifornien an die UCLA. Ihr akademischer Bildungsweg führte Davis auch ins europäische Ausland, zunächst an die Sorbonne (1963–1964), wo sie in ihren Kontakten mit Studierenden aus (ehemaligen) afrikanischen Kolonien Ideen über notwendige radikale politische Veränderungen entwickelte. Auf Anraten von Marcuse begann sie in Frankfurt/Main (1965–1967) ein Studium der Politischen Philosophie und beteiligte sich dort an einer Vielzahl studentischer Proteste. Sie hätte in Frankfurt bleiben können, denn Theodor W. Adorno hatte sie als Promovendin angenommen. Doch Davis wollte zurück in die USA und sich aktiv in der Bürgerrechtsbewegung engagieren.
Von der Liste der meistgesuchten Personen des FBI…
An der University of California schloss sie ihren Philosophie-Master ab und begann 1969 dort zu lehren. Sie wurde Mitglied des Student Nonviolent Coordinating Committee, der Black Panther Party, identifizierte sich mit der Kommunistischen Partei und organisierte politische Campus-Aktivitäten. Aufgrund ‚ihres fortgesetzten Eintretens für extreme und revolutionäre Ansichten‘ wurde sie 1970 aus ihrer Assistenzprofessur entlassen und tauchte zwei Monate später auf der Liste der meistgesuchten Personen des FBI auf: Man beschuldigte sie des Mordes, der Entführung und der Verschwörung im Zusammenhang mit einer Schießerei im Gerichtssaal von Marin County (Kalifornien), bei der ein Richter und drei Häftlinge getötet wurden. Die bei dem Ausbruchsversuch verwendeten Waffen waren auf den Namen von Angela Davis registriert. Davis tauchte unter, floh und wurde im Oktober 1970 – im Alter von 26 Jahren – in New York festgenommen. Sie kam zunächst im Rikers Island Gefängnis in Isolationshaft und wurde schließlich nach San Jose/Kalifornien in das Marin County Gefängnis verbracht, wo ihr Gerichtsprozess stattfand.
…zu einer der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen
Dank ihrer internationalen Bekanntheit wurde sie durch ein exzellentes Team von Verteidiger*innen unterstützt – dem auch Davis selbst angehörte. Sie gewann das zum Jahrhundertprozess deklarierte Verfahren und wurde nach 17 Monaten Haft in allen Anklagepunkten freigesprochen, ging zurück an die Universität, promovierte dort bei Herbert Marcuse und hat seitdem als Professorin in vielen Ländern gelehrt. Sie gilt heute als eine der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen der Welt. 1980 und 1984 ließ sie sich als Präsidentschaftskandidatin der Kommunistischen Partei USA aufstellen, hat aber mittlerweile diese Partei verlassen. Ihre Erfahrungen hinter Gittern, so schreibt sie, seien entscheidend gewesen für die Entwicklung ihrer politischen Grundsätze: Im Gefängnis habe sie die Realität der Lebensbedingungen Schwarzer Menschen auf sehr konkrete Weise verstehen gelernt. Die Beschäftigung mit dem Gefängniskomplex hat sie ihr gesamtes Leben hindurch bis zum heutigen Tag nicht mehr losgelassen.
Pionierin der Intersektionalitätsanalyse
Ein wichtiges Thema in ihrer Forschungsarbeit war immer die Beschäftigung mit der Lebenssituation Schwarzer Frauen. In den Genderstudies wird ihr 1981 erschienenes Buch Women, Race and Class zurecht als ein Pionierwerk der Intersektionalitätsdebatte betrachtet, das dem von Kimberlé Crenshaw geprägten Begriff ‚Intersectionality‘ vorausging. Darin beschäftigt sie sich mit den historischen Wurzeln Schwarzer Weiblichkeit, z. B. mit der erzwungenen Geschlechtertrennung in der Sklavenhaltergesellschaft, sowie mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen weißen und Schwarzen Frauen in Bezug auf ihre Haltung zum Feminismus und zur Bedeutung von Befreiung und Emanzipation. Wichtig ist ihr dabei, nicht nur ‚Race‘, sondern auch die Kategorie ‚Klasse‘ miteinzubeziehen. Ihre Studie setzt sich u. a. mit privat(isiert)er Haus- und Care-Arbeit auseinander, die sie als Relikt des Kapitalismus betrachtet, dem sie den Sozialismus als Alternativmodell gegenüberstellt. Dass dies leider eine Fehleinschätzung war, wissen wir heute.
Abolitionismus – die Abschaffung von Gefängnissen
Abolitionismus bzw. abolistische Demokratie war und ist für Angela Davis ein Lebensthema. Abolition umfasst die Abschaffung der Versklavung, der Todesstrafe, der massiven Inhaftierung von Rassifizierten in Gefängnissen. In ihrer Antrittsvorlesung zur ‚Angela Davis Gastprofessur‘ am 3.12.2013 Feminism and Abolition. Theories and Practices for the 21st Century wies sie darauf hin, dass 25 % der Inhaftierten in US-Gefängnissen Schwarze (Männer) sind. Im Jahr 2023 waren es sogar 38,6 %; bei einem Bevölkerungsanteil der Schwarzen Bürger*innen von 13,8 % wird die Überproportionalität dieser Gruppe deutlich. Wie bereits in ihrem Buch Are prisons obsolete? schreibt Davis (2003), der US-Staat sei in eine Ära der Masseninhaftierung eingetreten und er betrachte seine Gefangenen als ‚disponible Bevölkerung‘, die in mittlerweile privatisierten, von Konzernen geführten Gefängniskomplexen billige Arbeit verrichte. Nach allen Statistiken habe das Gefängniswesen nicht dazu geführt, dass (geschlechtsspezifische) Gewalt abnehme, sondern dazu, dass mehr Menschen inhaftiert und insbesondere trans Personen hinter Gittern Opfer von genderbezogener Gewalt würden. Davis betrachtet das Gefängnis als den Ort, an dem Rassismus rekapitalisiert und rekonfiguriert wird. In ihrem neuesten Buch Abolition. Feminism. Now. plädiert Davis mit ihren Co-Autor*innen Dent, Meiners und Richie für eine feministische, integrative und intersektional ausgerichtete Gefängnis-Abschaffungsbewegung (Davis et al. 2022). Darin wird diese Entwicklung der ‚Super-Inhaftierung‘ nicht nur theoretisch dargestellt, es gibt auch praktische Anweisungen, wie das Thema begleitet und besprochen werden kann in einem beigefügten Study Guide. Weitere Bücher zu diesem Thema sind geplant.
Die Verbindung von Theorie und Praxis: Öffentliche Intellektuelle und Aktivistin
Durch den gesamten Lebenslauf von Angela Davis zieht sich ihr Streben, ihr philosophisch-akademisches Wissen mit ihrer politischen Orientierung zu verbinden. In ihrem Aufsatz Marcuse’s Legacies beschreibt sie ein Treffen mit Theodor Adorno, ihrem potenziellen Frankfurter Promotionsbetreuer: „Er meinte, mein Wunsch, direkt in den radikalen Bewegungen dieser Zeit zu arbeiten, sei so, als würde ein Medienwissenschaftler beschließen, Techniker zu werden“ (Davis 2004: 47). Ein deutlicher Hinweis auf die hierarchischen Be-/Abwertungen von politischem Engagement – nicht nur dieser Zeit.
Davis unterstreicht immer wieder ihr Anliegen, mit ihrem Wissen einen Beitrag zur radikalen Verbesserung der Situation der Schwarzen Bevölkerung nicht nur in den USA, sondern international für alle unterdrückten Völker zu leisten. Vorbild für sie war/ist Marcuse, der seine Studierenden ermutigte, das radikale Potenzial utopischen Denkens für eine Beteiligung an neuen sozialen Bewegungen zu nutzen. Er warnte davor, die Rolle von Intellektuellen zu überschätzen, gleichzeitig aber auch, dem Defätismus zu erliegen (Davis 2004: 48). Dieser Balanceakt scheint für Davis handlungsleitend zu sein. Sie hat sich nicht gescheut, eigene Fehler und Falscheinschätzungen einzuräumen, spricht auf den Manifestationen von Black Lives Matter ebenso wie auf dem Women‘s March und unterstreicht die Notwendigkeit, über ideologische Gräben hinweg zu kommunizieren.
Gleichzeitig unterstützt sie seit vielen Jahren die BDS-Bewegung, die zum Boykott Israels aufruft und unterstreicht in Interviews den Zusammenhang zwischen dem Kampf der Schwarzen US-Bevölkerung und dem Schicksal der Palästinenser*innen. Sie verweist auf die enge Zusammenarbeit US-amerikanischer und israelischer Großunternehmen im Rahmen von Counter Terrorismus, Polizei- und Armeearbeit. Das Schicksal Palästinas sei ein Litmustest for the World. So nachvollziehbar dieses Begehren nach einer Lösung für den Palästinakrieg ist, fehlt dabei jedoch ihre Kritik an der vom Iranischen Regime unterstützten Hamas. Ich hoffe, sie wird in Zukunft ihre Selbstkritikfähigkeit auch bei diesem Thema einsetzen.
Chapeau und Dank für die vielen wichtige Denkanstöße. Happy Birthday, Angela!
Literatur
Davis, Angela (2003): Are prisons obsolete? New York: Seven Stories Press.
Davis, Angela (2004): Marcuse’s Legacies. In: John Abromeit, W. Mark Cobb (Hrsg.), Herbert Marcuse. A Critical Reader. London:Routledge. https://doi.org/10.4324/9780203755013
Davis, Angela Y.; Meiners, Erica R.; Richie, Beth & Dent, Gina (2022): Abolition Feminism Now. London: Hamish Hamilton.
Davis, Angela Y. (2023): Angela Davis. An Autobiography. Dublin: Penguin Books.
Lorenz, Sophie (2020): ‚Schwarze Schwester Angela. Die DDR und Angela Davis: Kalter Krieg, Rassismus und Black Power 1965-1975. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.1515/9783839450314
Zitation: Helma Lutz: Rosen für Angela Davis – Philosophin und Aktivistin, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 23.01.2024, www.gender-blog.de/beitrag/rosen-fuer-angela-davis/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240123
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