03. März 2020 Uta C. Schmidt
Der Titel macht neugierig, verspricht er doch so interessante Themen wie Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus. Es geht um eine Frau, die im Deutschen Kaiserreich frauenbezogen lebte und mit ihren Freundinnen einen eigenen Weg ging, berufstätig, politisch aktiv und mobil – bis zur Flucht in die USA vor den Nationalsozialisten, die ihr Leben und das vieler anderer Jüdinnen und Juden zerstörten.
Moderne, ledige Frauen
Im Mittelpunkt steht Margarete Herz, die am 23. März 1872 als erstes von fünf Kindern in Halberstadt in eine große jüdische Mittelstandsfamilie hineingeboren wurde. Doch geht es nicht allein um sie: Entlang einer biografischen Rekonstruktion verfolgt Ingeborg Boxhammer akribisch frauensolidarische Zusammenschlüsse, in denen Herz lebte und die sich auf familiäre Zweck- und Gütergemeinschaften sowie auf Liebes- und Freundschaftsverbindungen gründeten. Diese Zusammenschlüsse schufen den Raum für selbstständige Berufsarbeit und ein radikal-demokratisches Engagement. Ökonomische Unabhängigkeit förderte im Lebensumfeld von Margarete Herz auch ein feministisches Bewusstsein und das Überschreiten bürgerlich-religiöser Milieus. Ingeborg Boxhammer stellt uns moderne, ledige Frauen vor, die selbstbewusst und eigenverantwortlich ein Leben führten, das sich in erster Linie auf Frauen bezog – und das zu einer Zeit, als der Ehebund zwischen Mann und Frau als normiertes Lebensziel und festgemauertes gesellschaftliches Ordnungsmodell galt.
Das Buch ist handlungsorientiert strukturiert: In der Einleitung lässt uns Ingeborg Boxhammer an ihren Frageinteressen und theoretischen Bezugnahmen, vor allem aber an ihrem Forschungsprozess teilhaben, der mit zwei Frauen unter einer Adresse in Bonn und einer gemeinsamen Zahnpraxis begann und der die Autorin über die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) bis in die USA führte. Es war nicht ganz unwichtig für den weiteren Forschungsfortschritt, dass sie hier eigene Vernetzungen in die Community für lesbisch-schwul*trans-queere Geschichte/n weitertrugen.
Zahnkünstlerin im Ruhrgebiet
Das zweite Kapitel des Buches „Ledig, berufstätig und selbständig um 1900“ rekonstruiert die Zeit im Ruhrgebiet, in das Margarete Herz mit Freundin Helene Wolff, Mutter und Schwester 1902 zog, um eine zahnheilkundliche Praxis zu eröffnen. Allein schon dem Beruf „Zahnkünstlerin“ lag ein emanzipatorischer Schwung inne. Eine Region wie das Ruhrgebiet mit seiner schnell wachsenden Bevölkerung und einer guten Prognose für steigende Zahnbehandlungen eröffnete große Möglichkeiten für eine selbständige Berufstätigkeit samt sicherem Einkommen. Seit mindestens 1902 lebte Margarete Herz zusammen mit ihrer Mutter Sophie und Schwester Lina in Essen am Limbecker Platz. Helene Wolff betrieb ihre Praxis ab 1903 in Gelsenkirchen. Zum Dentistinnennetzwerk gehörte zudem Luise Mayberg, die zu dieser Zeit in Bochum als selbstständige Zahnbehandlerin praktizierte. Maybergs Schwester wiederum engagierte sich für eine Reform der Frauenkleidung. Im Januar 1909 verließen Margarete Herz und Helene Wolff das Ruhrgebiet und zogen nach Bonn.
Im Einsatz für das Frauenstimmrecht
Das dritte Kapitel „Der Kampf um politische Frauenrechte“ zeigt Herz und Wolff, wie sie nach Aufhebung des Vereinsgesetzes 1908 mit radikal-demokratischen Positionen in der Stimmrechtsbewegung aktiv wurden. Sie gehörten zu den Gründungsmitgliedern und zum Vorstand einer Ortsgruppe des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht. Freundin Luise Mayberg war in der Bochumer Ortsgruppe des Preußischen Landesvereins ebenfalls für das Frauenstimmrecht aktiv, die Schwägerin von Margarete Herz, Alice Herz, geborene Strauß, führte in Mecklenburg den dortigen Landesverein und Schwester Lina hatte das Amt der Schriftführerin im Groß-Berliner Verein Frauenwohl inne, der sich zum Kristallisationspunkt des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung entwickelte, aus dem auch die Wahlrechtsaktivitäten hervorgingen. Sie alle traten für ein allgemeines, freies, gleiches Wahlrecht ein und setzten sich dezidiert von gemäßigten Forderungen nach einem Frauenwahlrecht im Rahmen des Dreiklassenwahlrechts ab.
Reformbewegung und Nationalsozialismus
Das vierte Kapitel „Reformbewegung und Nationalsozialismus“ beschreibt den Umzug von Bonn nach Mehlem, das damals noch nicht zu Bonn gehörte. Dort erbaute Margarete Herz für sich und Helene Wolff ein stattliches Landhaus, doch nach dem plötzlichen Tod ihrer Lebenspartnerin verlegte Margarete Herz ihren Lebensmittelpunkt nach Bad Sachsa und zog später nach Blankenburg in den Harz weiter, wo sie ein Reformhaus und eine vegetarische Gaststätte gründete. Sie wurde Mitglied der Neuform, Vereinigung Deutscher Reform-Unternehmen. Als sich die Lebensreformbewegung dem Nationalsozialismus andiente, der Antisemitismus in der Gesellschaft erstarkte und die Nationalsozialisten Margarete Herz zu enteignen drohten, gelang ihr die Flucht in die USA.
In den USA, so zeigt Kapitel fünf „Flucht vor den Nazis und Lebensabend“, gelang der 66-jährigen Margarete Herz kein wirklicher Neuanfang mehr. 1946 leitete sie sogar Schritte ein, um wieder nach Blankenburg in den Harz zurückzukehren. Doch zuvor verstarb sie am 16. September 1947.
Frauenbezogenes Leben
Ingeborg Boxhammer hat ein dichtes Buch über Frauen geschrieben, die unglaublich mobil waren, immer wieder Neues ausprobierten, frauenbezogen arbeiteten, lebten und liebten. Sie engagierten sich radikal-demokratisch und sahen, dass das Private auch politisch war, wenn sie für eine gesunde Ernährung, bequeme Frauenkleidung und ein selbstbestimmtes Leben mit ihren Partnerinnen eintraten. Zudem legt die Autorin eine wichtige Forschung zu Wahlrechtsaktivistinnen vor, die lokal agierten und nicht unbedingt überregional in Erscheinung traten. Ihre Erkenntnisse zu Alice Strauß, der Schwägerin von Margarete Herz, schlagen den Bogen hin zur Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit und einem späteren Engagement in den USA für die Antirassismus- und Friedensbewegung: Fast 82-jährig veröffentlichte Alice Herz einen Friedensappell und setzte sich am 16. April 1965 aus Protest gegen den Vietnam-Krieg öffentlich in Brand. Sie erlag ihren Verletzungen.
Das Buch zeichnet sich durch eine annähernde, geradezu tastende Schreibweise aus. Es ist dialogisch angelegt und lässt die Leser_innen mitüberlegen, wenn keine Fakten zur historischen Rekonstruktion mehr zur Verfügung stehen. Für weitere Forschungen hilfreich sind zudem die konzeptionellen Überlegungen, wie Partnerschaften und Zusammenleben von Frauen historiografisch einzuschätzen sind zu einer Zeit, in der der Zölibat Lehrerinnen zu einem unverheirateten Leben zwang und viele Frauen auch deshalb zusammenlebten, damit sie sich gegenseitig im Alltag stützen konnten. Ingeborg Boxhammer führt die von Judith M. Bennett vorgeschlagene Formulierung „lesbian-like“ ein, um „potentiell lesbisches Leben in der Geschichte sichtbar zu machen und auch provokativ in die Frauen- und Geschlechtergeschichte einzuschreiben“ (S. 73). Sie schätzt die darin liegende Offenheit und nutzt sie, „um nicht heterosexuelle Erfahrungen und persönliche, teils politische Lebensweisen von Frauen sichtbar und denkbar zu machen“ (ebd.).
Literatur
Boxhammer, Ingeborg (2019): „Herrin ihrer selbst“. Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus. Margarete Herz und ihr Freundinnen-Netzwerk. Berlin: Hentrich & Hentrich.
Zitation: Uta C. Schmidt: Lesbian-Like als Kategorie der Frauengeschichte. Ingeborg Boxhammers Buch „Herrin ihrer selbst“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 03.03.2020, www.gender-blog.de/beitrag/boxhammer_herrin_ihrer_selbst/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200303
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