Skip to main content
Headergrafik: Wolfilser/Adobe-Stock

Interview

Geflüchtete Frauen und institutioneller Rassismus in der Jobvermittlung

19. März 2024 Katrin Menke Sandra Beaufaÿs

Es heißt aktuell, dass geflüchtete Frauen ein großes Interesse daran haben, erwerbstätig zu sein und auch entsprechend qualifiziert sind. Gleichzeitig wird in nahezu allen Branchen ein Fachkräftemangel beklagt. Eigentlich eine Win-Win-Situation – oder? Katrin Menke interessiert sich für intersektionale Ungleichheiten im Kontext von Sozialstaatlichkeit. In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit der Teilhabe geflüchteter Frauen am deutschen Arbeitsmarkt. Sandra Beaufaÿs sprach mit ihr über sozialstaatliche Aktivierungspolitik und fehlgeleitete Vermittlung.

Wie bewerten Sie allgemein die aktuelle Situation von Geflüchteten, die in Deutschland eine Arbeit aufnehmen möchten?

Zunächst einmal ist die Adressierung von Geflüchteten als potenzielle Arbeitskräfte historisch sehr neu. Es ist nicht selbstverständlich, dass Geflüchtete einen guten Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland haben, da sind viele Hürden abgebaut worden, sodass Geflüchtete, die ab 2015, 2016 nach Deutschland eingereist sind, sehr viel schneller in den Arbeitsmarkt gelangen können. Das war auch immer eine Forderung von Geflüchteteninitiativen, -verbänden und -interessensvertretungen: dass Geflüchtete die Chance haben müssen, teilhaben zu können an der Gesellschaft, am Erwerbsarbeitsmarkt, Einkommen generieren können etc.

Das klingt ja erstmal gut.

Das hat auf jeden Fall auch einen positiven Effekt. Jetzt ist es aber so, dass Geflüchtete, die einen gültigen Aufenthaltstitel haben, mit den hiesigen Arbeitsmarktpolitiken konfrontiert werden. Sie erhalten ALG II, das Bürgergeld und sind mit dem Aktivierungsregime der Jobcenter konfrontiert. Das sind die Politiken, mit denen auch vermeintliche Langzeitarbeitslose in Deutschland in Kontakt sind. Und die Jobcenter sind gar nicht so sehr darauf ausgerichtet, in qualifizierte Arbeit oder in ein Studium als vielmehr zügig in Erwerbsarbeit zu vermitteln, unabhängig vom Qualifikationsprofil der Menschen.
Die andere große Herausforderung ist die Anerkennung von ausländischen Bildungs- und Berufsabschlüssen. Es gibt ein Recht auf das Anerkennungsverfahren, die mitgebrachten Qualifikationen und Abschlüsse werden überprüft. Aber das ist ein Verfahren, das sehr lange dauert und zum Teil auch mit Kosten einhergeht. Deutschland ist zudem ein sehr spezielles Land mit seinem dualen Ausbildungssystem, das kennen viele andere – auch europäische – Staaten nicht.

Sie haben zur Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Frauen geforscht. Wie wird in der Arbeitsvermittlung auf deren spezifische Situation eingegangen?

Meine Forschung bezieht sich auf geflüchtete Frauen, die bis 2020 nach Deutschland gekommen sind, also vermehrt aus dem arabischen Sprachraum, im Kontext des syrischen Bürgerkrieges. Und das sind Frauen, die überwiegend muslimisch gläubig sind und viele davon sind auch mit einem Kopftuch als muslimisch gläubig, sozusagen äußerlich, markiert...

Was spielt das für eine Rolle?

Was ich in meiner Forschung sehr deutlich zeigen konnte, ist, dass Jobcenter-Mitarbeitende aufgrund dieser äußeren Merkmale diese Kundinnen verstärkt rassifizierend, sexistisch adressieren. Das ergibt sich oft aus einer verallgemeinernden Vorstellung über ‚die muslimische Frau‘ oder ‚die arabische Frau‘, der zugeschrieben wird, ungebildet zu sein, in einem unterdrückenden Eheverhältnis zu einem autoritären muslimischen Mann zu stehen und nicht primär an beruflicher Bildung oder Erwerbstätigkeit orientiert zu sein, sondern an der Erziehung von Kindern und der Übernahme von häuslichen Pflichten. Gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass viele Arbeitgeber Frauen mit Kopftuch nicht anstellen. Aus dieser Haltung heraus werden den Frauen eher Jobangebote in Segmenten unterbreitet, in denen das Kopftuch vermeintlich nicht „stört“. Das sind dann zum Beispiel Stellen in der Reinigung, Bäckereien oder dem Einzelhandel. Diese Vorstellungen führen dazu, dass die Jobcenter-Mitarbeitenden gar nicht mehr der individuellen Person, der sie gegenübersitzen, genau zuhören und nicht genau hinschauen. Aber auch Lehrerinnen oder Bauingenieurinnen, mit denen ich gesprochen habe, tragen Kopftuch.

Was bedeutet das dann in einer Vermittlungssituation konkret, welche Folgen haben diese Stereotypisierungen?

Dass diesen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, prekäre, unqualifizierte Beschäftigungsverhältnisse angeboten wurden und das resultiert natürlich darin, dass sie auch in einem schlecht bezahlten Arbeitsmarktsegment landen. Frauen, die ambitionierte berufliche Wünsche äußern, werden ausgebremst. Das hat unter Umständen fatale Folgen für Geflüchtete und ihre Familien: Ich erinnere mich an eine Frau, Mutter von vier Kindern, deren Mann erwerbsunfähig ist. Als strategisches Ziel dieser Familie ist es ganz nachvollziehbar, dass die Frau die Erwerbstätigkeit übernimmt. Der Jobcenter-Mitarbeitende hat ihr gegenüber hingegen immer wieder deutlich gemacht, dass es eine Überforderung sei, wenn sie erwerbstätig wird, weil sie ja Mutter von vier Kindern sei und ihren kranken Mann zuhause pflegen müsse. So wird die Chance der ganzen Familie verringert, den Aufenthalt zu verstetigen, weil dafür die Frage von eigenständiger Existenzsicherung der Familie absolut wesentlich ist. Das ist eines von vielen konkreten Beispielen, in denen das Jobcenter bzw. die Mitarbeitenden deutlich machen: Sie trauen den Frauen qualifizierte Berufstätigkeit im Grunde nicht zu. Auch das Minijob-Konstrukt ist der existenziellen Absicherung von Frauen und ihren Familien nicht gerade dienlich, es unterstellt ja, dass es einen Hauptverdiener gibt, der die Familie mit „seinem Lohn“ ernähren könne. Das trifft aber schon auf viele Männer mit deutschem Pass gar nicht mehr zu, auf geflüchtete Männer noch viel weniger. Letztlich führen solche veralteten Politiken dazu, dass geflüchtete Frauen in nicht existenzsichernder Beschäftigung landen.
Manche Frauen haben sich deshalb auch bewusst aus den Jobcentern zurückgezogen, weil sie bemerkt haben, dass sie dort nicht angemessen beraten wurden und nutzen dann zum Teil auch Elternzeiten, um sich zu orientieren.

Bedeutet das, die Jobvermittlung scheitert an rassistischen Vorurteilen der Vermittelnden in den Behörden?

Ja, das ist ein Teil der Wahrheit. Ich bin auch nicht die einzige Forscherin, die belegt, dass diese rassistischen Adressierungen stattfinden.

Würden Sie das als institutionellen Rassismus bezeichnen?

Ich würde das auf jeden Fall als Teil von institutionellem Rassismus markieren, weil die Rahmenbedingungen, unter denen in den Jobcentern und in anderen Behörden gearbeitet wird, daran ihren Anteil haben. Zu wenig Personal für eine bis dato unbekannte Zielgruppe, sich rasant wandelnde gesetzliche Grundlagen im Asylrecht, die geringe Sprachdiversität in deutschen Behörden, das fehlende Selbstverständnis von Deutschland als Migrationsland… all das führt zu täglichen Überforderungen, die Einzelne durch den Rückgriff auf ein latentes, vermeintliches Wissen über „die Anderen“ zu lösen versuchen. Es geht nicht darum, die einzelne Person als „rassistisch“ zu brandmarken, sondern darauf aufmerksam zu machen, dass dies häufig unreflektiert passiert – zum Nachteil der Frauen.
Es geht darum, institutionelle Abläufe zu hinterfragen, Behörden fit zu machen für die Einwanderungsrealitäten in Deutschland und Personal zu schulen, indem man ihm die Möglichkeit gibt, dieses vermeintliche Wissen unter professioneller Anleitung zu hinterfragen.

Gibt es konkrete Ansatzpunkte, wie auf die Bedarfe und Stärken von geflüchteten Frauen besser eingegangen werden kann?

Da gäbe es auf der institutionellen Ebene durchaus Ansatzpunkte, die man installieren könnte, um mit dieser Zielgruppe besser umgehen zu können. Zum Beispiel Anerkennung von institutionellem Rassismus als Problem, Sensibilisierungsworkshops mit professionellen, externen Coaches, Sprachvielfalt als behördliche Normalität, Etablierung eines Vier-Augen-Prinzips bei behördlichen Handlungsspielräumen, Etablierung von Supervision. Eine größere Vielfalt der Behörden-Mitarbeitenden würde sicherlich auch zu einer Verbesserung beitragen. Dazu gehört aber auch, über das Selbstverständnis der Behörde und auch insgesamt Deutschland als Einwanderungsland oder Deutschland als Migrationsland nachzudenken „Wie adressieren wir eigentlich Zugewanderte?“. Und Geflüchtete sind letztlich auch Zugewanderte, die aber mit diesem „Flucht“-Stempel sozusagen auf der Stirn dann in der Behörde erscheinen. Das macht sie aber nicht mehr oder weniger qualifiziert als Arbeitsmigrant:innen, die Deutschland bewusst anwirbt.

Was ist Ihnen für zukünftige Forschung zu diesem Thema wichtig?

Was ich mir insbesondere für die deutsche Sozialpolitikforschung wünschen würde, ist, dass gefragt wird, welche unreflektierten Prämissen es eigentlich in unserer Forschung gibt. Wen verstehen wir als Zielgruppe von Sozialpolitiken, welche Bedarfe gibt es bei wem? Und was für politische Kategorien hinterfragen wir dann vielleicht auch? So etwas grundsätzlicher zu hinterfragen und dann auch die Geschlechtsspezifik zu berücksichtigen, das finde ich nach wie vor sehr spannend, natürlich auch herausfordernd.
Gerade, wenn man zum Thema Flucht forscht, ist es außerdem wichtig, Geflüchtete als Akteur:innen ihrer selbst zu verstehen und deutlich zu machen: Das sind alles Frauen, die eigene Vorstellungen, eigene Pläne haben, die schon viel geschafft haben.

Literatur

Menke, Katrin (2023). Geflüchtete Musliminnen im SGB II-Bezug - Antimuslimischer Rassismus und Gender im Kontext ihrer Vermittlung in Erwerbsarbeit. Z'Flucht Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung, 7(2), 360-390. https://doi.org/10.5771/2509-9485-2023-2-360

Zitation: Katrin Menke im Interview mit Sandra Beaufaÿs: Geflüchtete Frauen und institutioneller Rassismus in der Jobvermittlung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 19.03.2024, www.gender-blog.de/beitrag/gefluechtete-frauen-und-intersektionaler-rassismus/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240319

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Wolfilser/Adobe-Stock

Dr. Katrin Menke

Katrin Menke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Untersuchung sozialer Ungleichheiten aus intersektionalier Perspektive, Sozialpolitik im Wandel (insbes. Arbeitsmarkt-, Migrations- und Asylpolitiken sowie Gleichstellungspolitiken) sowie qualitativer Sozialforschung.

Zeige alle Beiträge
Netzwerk-Profil Dr. Katrin Menke

Dr. Sandra Beaufaÿs

Sandra Beaufaÿs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

Zeige alle Beiträge
Netzwerk-Profil Dr. Sandra Beaufaÿs

Kommentare

Helma Lutz | 22.03.2024

Ein sehr gutes Interview über eine sehr interesssante und relevante Studie!

Dank an Euch beide! Es wäre so wichtig, dass diese Forschungsergebnisse endlich einmal politisch wahrgenommen werden.

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.