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Schöne Revolution. Aktuelle Perspektiven auf Alexandra Kollontai

26. März 2024 Sandra Beaufaÿs

Was sagen uns heute Leben und Werk einer russischen Adeligen, die in der Arbeiter:innenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts aktiv und eine der zentralen Akteur:innen der Oktoberrevolution war? Nachdem die Rezeption von Alexandra Kollontais (1872–1952) Schriften ab den 1970er-Jahren nachließ, wird aktuell das Interesse an ihrer Person und ihren Ideen wieder wach. Dabei fasziniert die Figur der Revolutionärin nicht nur in historischer Rückschau, sondern dient auch als Projektionsfläche für aktuelle feministische Visionen.

Viele Leben

Die Lebensleistung Kollontais ist beeindruckend: Als Aktivistin, Politikerin, Schriftstellerin, nebenbei alleinerziehende Mutter, Vielreisende und schließlich Nobelpreisnominierte hat sie bereits vor 100 Jahren alles gelebt, wovon heutige Selbstoptimierer:innen nur träumen können (vgl. Kollontai 1980). Damit nicht genug, können gleich mehrere Alleinstellungsmerkmale verbucht werden: Alexandra Kollontai war die erste Frau in der bolschewistischen Regierung, sogar die weltweit erste Ministerin sowie die erste akkreditierte Diplomatin (Heermann 2013: 6). Sie blieb außerdem als einziges der ehemaligen Mitglieder des Zentralkomitees, die in den 1930er-Jahren noch lebten, von den stalinschen Säuberungen verschont (Jünke 2012: 88).

Ihr politisches Hauptaugenmerk lag Zeit ihres Lebens auf der Rolle der Frau in Gesellschaft, Staat und Familie. Eine Umgestaltung der Gesellschaft bedeutete für sie nicht nur eine ökonomische Transformation, sondern eine Veränderung auf der Beziehungsebene, insbesondere zwischen den Geschlechtern.

Die „neue Frau“

In ihrer Analyse des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität orientierte sie sich an sozialistischen Fragen, d. h. sie thematisierte Geschlechterbeziehungen im Rahmen von „Klassenkampf“ (Kollontai 1977 [1920]: 68). Die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen ihre Zeitgenoss:innen (der 1920er-Jahre) Sexualität und das Geschlechterverhältnis betrachteten, definierte Kollontai als konservativ, bourgeois und sozialistisch. Konservativismus (zurück zu familialen Werten) und Sozialismus (alles ein Problem der Ökonomie) sind als historische Positionen erkennbar. Die gegenwärtig dominierende Auffassung, „[d]as individuelle Gewissen und der individuelle Willen jedes einzelnen“ seien „die einzigen Gesetzgeber in dieser intimen Frage“ (Kollontai 1977 [1920]): 69), lernen wir mit Kollontai als „bourgeois“ wahrzunehmen.

Kollontai entwarf den Typus der „neuen Frau“ für die sozialistische Gesellschaft. Diese Frau war im Wesentlichen „ledig“ (Kollontai 1977 [1920]): 10) und in Arbeit (Adamczak 2017: 154), auf jeden Fall aber unabhängig und nicht „Schatten des Mannes“ (Kollontai 1977 [1920]): 43).

Feminismus als bürgerliches Feindbild

Sosehr ihr sexuelle Selbstbestimmung wichtig war, standen die körperliche Liebe und erotische Beziehungen nicht im Zentrum von Kollontais Ausführungen zur neuen Moral der Arbeiter:innenklasse. Kollontai setzte sich im Sinne sozialistischer Gesellschaftsveränderung für einen Wandel der Geschlechterbeziehungen ein. Es gab für sie keine freie Frau oder Liebe ohne die Abschaffung des Kapitalismus. Denn Kollontai war in erster Linie Kommunistin. Sie verstand sich nicht als Feministin, vielmehr fasste sie diese Bezeichnung eher als Schimpfwort auf und kämpfte sogar „gegen die englischen Suffragetten“ (Kollontai in Amlinger/Baron 2012: 44) – und damit gegen die bürgerliche Frauenbewegung.

Nun ist es interessant zu erfahren, wie aktuelle Autor:innen, die sich für die Person oder (seltener) Konzepte Kollontais interessieren, deren feministisches Denken und Handeln einordnen.

Selbstbestimmt und in Beziehung

Zwei biografische Bücher sind im Jahr 2022, zum 150. Geburtstag Kollontais, erschienen. Die Zugänge könnten unterschiedlicher nicht sein. Maria Wiesner, von Beruf u. a. FAZ-Autorin im Feuilleton für den Bereich „Stil“, hat eine süffige Biografie geschrieben (Wiesner 2022), die alle Spannungsmomente des in der Tat aufregenden Lebens gekonnt ausmalt. Katharina Volk trägt nach einer kurzen biografischen Hinführung verschiedene Originaltexte und Textauszüge aus Schriften Kollontais sowie aus Briefwechseln mit Zeitgenoss:innen zusammen (Volk 2022).

Wiesner hebt die Selbstbestimmtheit und visionäre Kraft hervor, mit der die Aktivistin vor 100 Jahren Forderungen erhob (und als Ministerin großenteils umsetzte), die noch heute als feministische Avantgarde gelten können, nämlich, „dass Abtreibungen straf- und kostenfrei angeboten werden müssen, dass Frauen ausnahmslos den gleichen Lohn wie Männer erhalten, dass Vorsorgeuntersuchungen für Frauen kostenlos sind und Krippenplätze ebenso“ (Wiesner 2022: 12).

Der Politikwissenschaftlerin und Gewerkschafterin Volk ist es wichtig, Kollontai „nicht vom heutigen Standpunkt aus zu bewerten“ (Volk 2022: 9), sondern den historischen Kontext ihres Wirkens zu berücksichtigen. Volk hebt den besonderen Ansatz Kollontais hervor, der von den Konzepten zeitgenössischer Revolutionäre deutlich abgewichen sei, da sich ihr Blick „eben nicht nur auf die Organisation der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse richtete, sondern auch auf die Lebensweise und die Gestaltung von Beziehungen“ (Volk 2022: 40f.). Sie ermuntere dazu, „die Sorge um uns und andere[ ] zum Ausgangspunkt für die Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft zu machen“ (Volk 2022: 58).

Emanzipation in Orientierung auf Männlichkeit

Bini Adamczak geht in ihrem Buch Beziehungsweise Revolution nur unter anderem auf Kollontai ein, dafür jedoch relativ ausführlich auf deren literarisches Werk und theoretische Position (Adamczak 2017: 145–172). Adamczak hält Kollontai für die „am meisten missverstandene Theoretikerin der Revolution“ von 1917, insbesondere, was ihre „Polemiken gegen repressive Sexualmoral“ betrifft: Den Kern von Kollontais Forderungen – eine Geschlechterbeziehung auf Augenhöhe – hätten Kritiker:innen unabhängig von ideologischer Verortung zumeist komplett ignoriert (Adamczak 2017: 146).

Adamczak selbst unterstellt Kollontai eine Tendenz, die Gleichheit der Geschlechter durch eine Annäherung an Männlichkeit herstellen zu wollen. Die männliche Norm werde bspw. in den Figuren ihrer Romane nur als bürgerliche, nicht aber als patriarchale oder koloniale problematisiert: „Die subordinierten Eigenschaften werden als defizitär gefasst, die hegemonialen als progressiv“ (Adamczak 2017: 155). Zumindest in dieser Hinsicht sieht sie Kollontai ganz in der Tradition klassischen sozialistischen Denkens, das geschlechtliche Emanzipation vor allem als Loslösung von Care-Aufgaben aus der Familie begreift bzw. die komplette Auflösung solcher Aufgaben in gesellschaftlicher Produktion als Ziel anstrebt.

„Initiatorin der sexuellen Revolution“?

Heutige Rezipient:innen sind an Kollontais emanzipativer Position zur Sexualität sehr interessiert und klopfen diese auf liberale Vorstellungen ab. Barbara Kirchner hebt bspw. die nicht gesicherte, da nie selbst bezeugte Haltung Kollontais zu den Rechten von LGBTI+ hervor und betont, dass die Aktivistin in Magnus Hirschfelds Weltliga für Sexualreform, „auf einer der wichtigsten Plattformen der homosexuellen Emanzipation also, explizit engagiert war“ (Kirchner 2012: 8).

Kerstin Heermann thematisiert u. a. die Rezeptionsgeschichte von Kollontais Autobiografien und ihrer Werke in Russland, den USA und Deutschland: Im heutigen Russland werden nur ihre diplomatischen Erfolge hervorgehoben, während der ‚Westen‘ – insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren – sie als „Initiatorin der sexuellen Revolution glorifiziert“ (Heermann 2013: 3).

Eine der außerhalb Russlands bekanntesten autobiografischen Schriften Kollontais, ursprünglich als Ziel und Wert meines Lebens veröffentlicht, bekam im westlichen Kontext den reißerischen Titel Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin verpasst (vgl. Heermann 2013: 7). Neuere Auflagen (Amlinger/Baron 2012; Kollontai 1970) fügen zudem die im Original von der Autorin eliminierten Textstellen wieder ein und unterlaufen so das Ziel Kollontais, sich selbst in einer bestimmten Version zu erzählen. Die von der Autorin intendierte „didaktische Funktion“ (Heermann 2013: 10) ihrer Autobiografie verliert damit an Gewicht.

Produktive Vereinnahmung

Die Person Kollontais sowie ihre Schriften wurden und werden durch die Brille jeweils eigener emanzipatorischer, feministischer und politischer Projekte wahrgenommen. Nur wenige Autor:innen können sich darauf einlassen, die Aktivistin im Rahmen ihrer Zeit und anhand der von ihr selbst gesteckten Ziele zu verstehen. Dies mag daran liegen, dass die Positionen Kollontais erfrischend jetzt- und diesseitig an aktuelle feministische Kämpfe anknüpfbar erscheinen. Die ambivalente Aneignung bzw. Vereinnahmung kann aber auch produktiv gewendet werden, denn an ihrem Beispiel lässt sich nachvollziehen, wie ehemals radikal emanzipatorische Konzepte im gesellschaftlichen Abrieb zahnlos werden.

Auch zeigt sich deutlich, wie unwahrscheinlich es ist, Gleichberechtigung innerhalb eines kapitalistischen Systems erreichen zu wollen, das Care-Arbeit als unproduktiv abspaltet, während es gleichzeitig darauf aufbaut. Andererseits bietet auch ein Sozialismus ohne Care-Revolution keine Alternative.

Literatur

Adamczak, Bini (2017). Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Amlinger, Carolin & Baron, Christian (Hrsg.). (2012). Barbara Kirchner zu Alexandra Kollontai „Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin“. Hamburg: Laika.

Heermann, Kerstin (2013). „Selbstständigkeit und persönliche Freiheit braucht jede Frau“. Autobiographische Weiblichkeitsentwürfe der russischen Revolutionärin Alexandra Kollontai (1872–1952). bonjour geschichte 3. Zugriff am 10.02.2024 unter http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46-00102823-13.

Jünke, Christoph (2012). Schädelstätte des Sozialismus. Stalinistischer Terror revisited. In Gruppe INEX (Hrsg.), Nie wieder Kommunismus? Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus. Münster: Unrast, S. 84–106.

Kirchner, Barbara (2012). Kampf der allgemeinen Einsamkeit! In Carolin Amlinger & Christian Baron (Hrsg.), Barbara Kirchner zu Alexandra Kollontai „Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin“. Hamburg: Laika, S. 7–20.

Kollontai, Alexandra (1970). Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin. Nachwort Iring Fetscher. München: Rogner & Bernhard.

Kollontai, Alexandra (1977 [1920]). Die neue Moral und die Arbeiterklasse. Münster: Verlag Frauenpolitik.

Kollontai, Alexandra (1980). Ich habe viele Leben gelebt… Autobiographische Aufzeichnungen. Berlin: Dietz.

Volk, Katharina (Hrsg.). (2022). Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben. Berlin: Dietz.

Wiesner, Maria (2022). Radikal selbstbestimmt – Ihrer Zeit weit voraus. Was wir von Alexandra Kollontai lernen können. Hamburg: HarperCollins.

Zitation: Sandra Beaufaÿs: Schöne Revolution. Aktuelle Perspektiven auf Alexandra Kollontai, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 26.03.2024, www.gender-blog.de/beitrag/schoene-revolution-kollontai-aktuell/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240326

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Dr. Sandra Beaufaÿs

Sandra Beaufaÿs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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