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Pandemie

Corona und intersektionale Ungleichheit in Gesellschaft und Wissenschaft

07. August 2020 Dorothee Beck Miao-ling Lin Hasenkamp

Ausgehend vom Appell „Die Notwendigkeit einer feministischen Analyse der Corona-Krise: Ausgangspunkte für eine demokratische, solidarische und intersektionale Gesellschaftsvision“ lädt die Sektion Politik und Geschlecht der DVPW zu Beiträgen für eine  Themenwoche „Pandemie“ vom 5. bis 9. Oktober  2020 im blog interdisziplinäre geschlechterforschung ein.

In der Corona-Krise und der folgenden Wirtschaftskrise spitzen sich soziale Ungleichheiten zu. Sie finden ihren Ausdruck in unwürdigen Arbeitsbedingungen, unter denen (undokumentierte) Migrant*innen arbeiten, und schlagen sich nieder in der Feminisierung der Armut, in Niedriglohnsektoren (besonders in Pflege-Berufen), in hermetisch voneinander getrennten Welten der Armen- und Reichenviertel in den Metropolstädten und im systemischen Rassismus. Diese und weitere Phänomene haben bereits die gesellschaftliche ‚Normalität‘ vor der Pandemie geprägt. Ihre Ursachen sind in multiplen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu finden. Aufgrund dessen trifft der monatelange ‚Lockdown‘, der das gesellschaftliche Leben zum Stillstand brachte, nicht alle Menschen gleich.

In der Bewältigung der Krise zeigen sich wie im Brennglas vergeschlechtlichte soziale und ökonomische Ungleichheiten in ihren intersektionalen Verschränkungen v. a. entlang der Dimensionen Geschlecht, Ethnie/Migration, Klasse und Sexualität. Diese Verschränkungen (re)produzieren höchst unterschiedliche Formen von Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Disparität.

Dem steht die Privilegierung dominanter maskuliner, weißer Perspektiven in der Interpretation der Pandemie gegenüber. In der Öffentlichkeit, in der Politik und der Wissenschaft werden die genannten Zusammenhänge daher systematisch vernachlässigt. Demokratische und solidarische Auswege aus der Krise und zur (Wieder-)Herstellung sozialer Kohärenz erfordern aber eine Pluralität wissenschaftlicher Analysen und Reflexionen. Insbesondere ist das reiche Erfahrungswissen sozialer Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Engagements notwendig. Inwieweit wurden die Stimmen von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen im Prozess der Wissensproduktion systematisch ignoriert und verdrängt? Welche neuen Wege könnte innovative Wissenschaft der Gesellschaft anbieten, um die Gleichheit u. a. der Geschlechter zu fördern? In Politik, Medien und Wissenschaft muss die Vielstimmigkeit der Expertisen, die sich über Wege zu einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft jenseits der Corona-Pandemie äußern, hörbar werden.

Mit diesem Ziel lädt die Sektion Politik und Geschlecht der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) im blog interdisziplinäre geschlechterforschung zu Beiträgen ein. Willkommen sind Texte zu folgenden Themen:

Das Geschlecht der Corona-Krise

Frauen sind von der Corona-Pandemie und den damit verbundenen politischen Maßnahmen in besonderer Weise betroffen. Dies wird (u. a.) unter dem Begriff der Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse diskutiert. Als Effekt werden national wie global erzielte gleichstellungspolitische Erfolge um Jahre zurückgeworfen und neue Ungleichheiten produziert. Mögliche Aspekte zu diesem Thema sind die Auseinandersetzung mit der Feminisierung und Migrantisierung systemrelevanter, zugleich unterbezahlter, prekärer Formen von Lohnarbeit (z. B. Pflege- und Betreuungsberufe, Kassierer*innen, Reinigungsberufe) sowie mit fortwirkenden Entgeltunterschieden für gleichwertige Tätigkeiten. Ferner können die fortbestehende ungleiche Verteilung unbezahlter Sorgearbeit, die Zunahme häuslicher und sexualisierter Gewalt, die weltweite Einschränkung sexueller und reproduktiver Rechte (medizinische Vorsorge, sicherer Schwangerschaftsabbruch, selbstbestimmte Geburt) sowie die unzureichende medizinische Versorgung und die Ernährungsunsicherheit, v. a. in Ländern des globalen Südens, geschlechterkritisch und intersektional reflektiert werden.

Das Geschlecht der Krisendiagnosen

Wenig öffentlich diskutiert werden die vergeschlechtlichten und intersektional verschränkten Folgen der Pandemie. In den Medien sowie in den die Bundesregierung beratenden Gremien dominieren Perspektiven, die v. a. in geschlechtlicher, sexueller und ethnischer Hinsicht privilegiert sind. Hingegen ist die Publikationstätigkeit von Wissenschaftlerinnen seit Beginn der Pandemie deutlich zurückgegangen, was auf eine ungleiche Belastung durch Erwerbs- und Fürsorgearbeit und die prekäre berufliche Situation von Wissenschaftlerinnen hinweist. Die Krise verschärft globale Ungleichheiten im Wissenschaftsbetrieb und beschränkt Forschungsmöglichkeiten. Über die Behauptung universeller Expertise und epistemischer Souveränität schreiben sich so in einer gesamtgesellschaftlichen Ausnahmesituation hegemoniale Weltsichten und Wissensformen in die Bewältigung der Krise ein. Beiträge zu diesem Thema können sich auf die folgenden Fragen beziehen: Wer publiziert mit welcher Qualität und wozu? Wer kommt zu welchen Themen und Fragen in den Medien zu Wort? Diese Fragen beinhalten auch die Folgen der Herrschaft der männlichen, weißen Expertokratie sowie den Einfluss dieser Privilegierung auf die Ergebnisse und Vorschläge bei der Bewältigung der Corona-Krise. Dieser Dominanz könnten Porträts von Corona-Expertinnen gegenübergestellt werden. Ein weiterer Aspekt bezieht sich auf Female Leadership in der Corona-Krise.

Die Agenda der Sozialwissenschaften

Nach den Virolog*innen melden sich vermehrt auch Sozialwissenschaftler*innen zu Wort. Dabei nehmen sie auf Themen Bezug, die bereits lange vor der Corona-Pandemie in Schwarzen, feministischen, queeren, post- und dekolonialen Debatten sowie den Disability Studies systematisch untersucht wurden: z. B. Körper, Verletzlichkeiten, Alltag, Sorge, Solidaritäten, rechtliche und moralische Normalitäten einer Gesellschaft. Intersektional kontextualisierte feministische Praxen und Wissensproduktionen bieten innovative Antworten für die demokratische Bewältigung von Krisen. Jedoch ignoriert die Hinwendung der Sozialwissenschaften zu genuin feministischen Themen im Kontext der Corona-Krise weitgehend diese Ansätze und schreibt deren Marginalisierung fort. Dies führt nicht zuletzt zu einer Verengung der Analysen und der daraus folgenden Empfehlungen. Wenn sozialwissenschaftliche Gegenwartsdiagnosen demokratische Auswege aus der Krise vorschlagen wollen, ist es unabdingbar, geschlechtersensibles intersektionales Wissen systematisch zu berücksichtigen. Mögliche Aspekte von Beiträgen beziehen sich auf die Marginalisierung von Gender Studies und kritischen feministischen Sozialwissenschaften. Ist z. B. eine Verschiebung von Forschungsgeldern hin zu medizinischer und pharmazeutischer Corona-Forschung zu beobachten? Zu fragen ist auch, ob die Corona-Krise die Strukturen der rechtsextremen und Querfront-Szenen stärkt. Inwieweit hat die herrschende Agenda der Sozialwissenschaften den Diskurs über Antifeminismus beeinflusst?

Kritische feministische Gesellschaftsentwürfe

Aus der Perspektive feministischer Gesellschaftskritik kann eine nachhaltige Bewältigung der gegenwärtigen Krise nicht in einer schnellstmöglichen Rückkehr zur ‚Normalität‘ bestehen. Diese war bereits vor Corona von intersektional verschränkten Ungleichheiten, Diskriminierungen, Gewalt und einem destruktiven Umgang mit Körpern, Verletzlichkeiten und Ökologie geprägt. In der Corona-Krise sind Visionen für eine demokratische und solidarische Gesellschaft, in der aktiv auf die Abschaffung ungleicher Geschlechterverhältnisse und anderer Formen sozialer Ungleichheit hingewirkt wird, notwendiger denn je. Dies gewinnt nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines Erstarkens autoritärer, rechter und verschwörungsideologischer Kräfte sowie gesellschaftlicher Unsicherheit infolge der fortschreitenden Digitalisierung an Bedeutung. Als Aspekte eignen sich hier Reflexionen einer systematischen Berücksichtigung miteinander verschränkter Ungleichheitsverhältnisse sowie allgemein feministischer und anderer gesellschaftskritischer Perspektiven als Ausgangspunkt für eine demokratische und solidarische Bewältigung der Krise. Wie können z.B. interdisziplinäre Ansätze für wissenschaftliche Diagnosen besonders in den Bereichen Wasser, Ernährung, Klima und Land(-raub), aber auch der Wirtschaftsförderung fruchtbar gemacht werden?

Informationen zur Einreichung

Willkommen sind Debattenbeiträge bis maximal 9.000 Zeichen, die Corona-bedingte Ungleichheiten und deren Ursachen problematisieren, sich kritisch mit den genannten (und weiteren) Aspekten auseinandersetzen, auf marginalisierte Positionen aufmerksam machen und/oder diese rezensieren, neue (wissenschafts-)politische Fragen aufwerfen oder sich in laufenden Diskursen positionieren. Beiträge können auch in englischer Sprache eingereicht werden. Bitte beachten Sie das Style Manual des blogs interdisziplinäre geschlechterforschung und senden Sie Ihren Beitrag zunächst in einer Word-Datei bis zum 6. September 2020 an redaktion@gender-blog.de.

Die angenommenen Beiträge werden im Rahmen einer Themenwoche auf dem blog interdisziplinäre geschlechterforschung veröffentlicht. Bei inhaltlichen Fragen wenden Sie sich gerne an Dr. Dorothee Beck und Dr. Miao-ling Hasenkamp.

Zitation: Dorothee Beck, Miao-ling Lin Hasenkamp: Corona und intersektionale Ungleichheit in Gesellschaft und Wissenschaft, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 07.08.2020, www.gender-blog.de/beitrag/cfp-pandemie-dvpw/

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Dr. Dorothee Beck

Dorothee Beck forscht (vor allem an der Universität Marburg) über das Verhältnis von Politik, Geschlecht und Medien, über geschlechtsbasierte Gewalt in politischen Institutionen, über das Verhältnis von Privatsphäre(n) und Öffentlichkeit(en) sowie über Antifeminismus. Daneben arbeitet sie freiberuflich als Autorin, Beraterin, Trainerin und Moderatorin zu ihren Forschungsthemen.

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Dr. Miao-ling Lin Hasenkamp

Dr. Miao-ling Lin Hasenkamp ist ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gesellschaftswissenschaften (IGW, Bereich Politikwissenschaft) der OVGU Magdeburg. Seit Mai 2019 arbeitet sie als Koordinatorin für Gleichstellung und Diversität am Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO). Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Internationale Beziehungen (besonders Menschenrechtspolitik), Geschlechterforschung und Vergleich politischer Systeme.

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