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Headergrafik: Patrick Daxenbichler/Abobe-Stock

Forschung

Spurensuche nach queerer Erinnerung – Critical Fabulation in LO QUE SE HEREDA

30. Januar 2024 Lukas Wierschowski

Mit zunehmender Sichtbarkeit queerer Menschen wächst auch das Interesse an vergangenen queeren Identitäten. Bei der Spurensuche tauchen immer wieder Zeugnisse von Menschen auf, deren Identität unsichtbar geblieben oder stark verhüllt worden ist. Es ergibt sich die Frage, wie filmisch an queere Menschen erinnert werden kann, von denen nur wenige Überlieferungen existieren.

LO QUE SE HEREDA

Einer dieser Vergessenen ist Oscar Torres, ein homosexueller dominikanischer Filmemacher, der als einer der Pioniere des karibischen Kinos galt. Im Film LO QUE SE HEREDA (2022) liegt ein Foto von ihm auf einem Tisch, daneben ein Foto von Victoria Linares Villegas. Sie ist ebenfalls dominikanische Filmemacherin, queer und die Regisseurin des Films. Die beiden sind verwandt, begegnet sind sie sich aber nie. Oscar wurde Anfang der 1930er-Jahre geboren und starb 1968, zwanzig Jahre vor Victorias Geburt. Victoria berichtet davon, dass Oscar als Regisseur heute weitgehend in Vergessenheit geraten sei. Seine Homosexualität sei in der Familie nicht thematisiert worden. Vielmehr wurde er aus der Familiengeschichte ausradiert. Nur wenige Fotografien Oscars existieren innerhalb des Familienalbums. Victoria nimmt dies zum Anlass, sich auf die Suche nach Spuren seiner Geschichte, seiner Existenz, zu machen.

Es ist so gewesen

Der Philosoph Roland Barthes fasst in seinem Essay Die helle Kammer die Wirkung von Fotografien mit den Worten zusammen, dass sie bezeugen, dass etwas so gewesen ist. Was fotografiert wurde, müsse existiert haben. Denn damit das jeweilige Foto entstehen konnte, musste die reale Sache überhaupt erst einmal vor dem Objektiv der Kamera platziert worden sein. „Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; […] Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des fotografierten Gegenstandes mit meinem Blick“ (Barthes 1989, S. 90f.). Die Strahlen des in der Vergangenheit fotografierten Körpers verbinden sich mit dem Blick der Betrachtenden, das Vergangene strahlt ins Jetzt und bezeugt damit, dass es in der Vergangenheit zum Zeitpunkt des Ablichtens dagewesen war. Auch wenn es vielleicht schon tot ist, nicht mehr existiert, erscheine das Vergangene in seiner unsterblich im Foto eingefangenen Ausstrahlung als präsent (vgl. Barthes 1989, S. 86, 90, 97, 99).

Das banalisierte Bild

Barthes’ Ausführungen über den dokumentarischen Charakter von Fotografien rufen im Kontext von LO QUE SE HEREDA (engl.: It runs in the family) die Fragestellung auf, wie an jemanden erinnert werden kann, von dem/der es kaum fotografische Evidenz gibt. Wie kann Oscars vergangene Wirklichkeit präsent werden, wenn es kaum Fotografien von ihm gibt, kaum Evidenz davon, dass er gewesen ist? Victorias Suche nach dem Leben Oscars wird dabei zugleich auch eine Suche nach ihrer eigenen Identität. Fortwährend denkt sie über mögliche Parallelen und Differenzen zwischen Oscar und ihrem Leben nach. So beginnt sie, angesichts der Familienfotos Oscars, filmische Familienaufnahmen ihrer Kindheit zu hinterfragen. In einer dieser Aufnahmen ist zu sehen, wie sie scheinbar voller Freude im Kreise ihrer Familie spielt. Aus dem Off kommentiert sie die Bilder mit den Worten: „They already created a banal version of me“. Während die Bilder Freude suggerieren, drückt ihr Kommentar Misstrauen gegenüber ihnen aus. Der Film stellt hier die medienreflexive Frage, welchen Aussagegehalt fotografische wie filmische Bilder überhaupt haben können.

Das fotografische Mosaik

Während Roland Barthes feststellt, dass eine Kamera belegt, dass etwas so gewesen ist, fragt LO QUE SE HEREDA, was so gewesen ist. Deutlich wird dies in der hier eingangs erwähnten Szene, als ein Foto Oscars neben einem Foto Victorias auf dem Tisch liegt. Regungslos liegen die Fotografien nebeneinander, bis sie sich nach einer kurzen Weile aufeinander zu bewegen, sich berühren, um dann in mehrere Einzelteile zu zerfallen. Daraufhin erfolgt ein Schnitt und die zerschnittenen Fragmente sind zu einem neuen Foto zusammengesetzt worden: In der Mitte des neuen Fotos befindet sich Oscars Gesicht, links und rechts eingerahmt von Victorias Haaren, am rechten Rand Oscars Schulter. Erneut schneidet der Film, die Fragmente sind nun neu platziert. In diesem Arrangement bildet Victorias Gesicht die Mitte, komplementiert durch Oscars Haare. Weitere Schnitte folgen mit immer neuen Gesichtskompositionen. Der Film dekonstruiert wortwörtlich das Bild und konstruiert es in einem fotografischen Mosaik neu.

Sinngebung und Schnitt – „Was ist so gewesen?

Dabei parallelisiert der Film seinen filmischen Schnitt mit den Schnitten der unsichtbaren Schere, welche die Fotos in Einzelteile schneidet. Jedes neue Arrangement der fotografischen Fragmente wird durch einen filmischen Schnitt eingeleitet. So wie die Schere die Fotos zerschneidet, um daraus ein neues Gesicht mit einem neuen Sinn zu erschaffen, so schneidet der Film auf eine neue Einstellung, um neuen Sinn zu produzieren.

Alfred Hitchcock hat in Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? dargelegt, wie sehr die Wirkung der einzelnen Einstellung im Film durch den Schnitt erschaffen wird. Er erläutert, wie dieselbe Großaufnahme einer Figur durch den Schnitt zwei unterschiedliche Bedeutungen erhält: Folgt die Aufnahme eines lächelnd in den Hof blickenden James Stewarts in REAR WINDOW (1954) auf die Aufnahme eines kleinen Hündchens, welches in einem Korb in den Hof getragen werde, so wirkt Stewart wie ein neugieriger Mann. Folgt die identische Aufnahme Stewarts auf ein nacktes Mädchen, dass sich im gegenüberliegenden Haus vor einem Fenster befindet, wirkt er wie ein alter Lüstling (Truffaut 2003, S. 211). Die identische Aufnahme kann, je nach Schnitt und sich daraus ableitender Bildfolge, unterschiedlichste Konnotationen erhalten (auch bekannt als Kuleschow-Effekt). Während also das fotografische Bild beweisen kann, dass etwas so gewesen ist, legen erst der Schnitt und die Bildmontage, indem sie dem einzelnen Bild Sinn verleihen, fest, was dort gewesen ist.

Fragmente eines Mosaiks

LO QUE SE HEREDA erkennt dies und schneidet die Fotografien von Oscar und Victoria zusammen. Je mehr Victoria über Oscar erfährt, desto mehr scheint sie von ihm in sich selbst zu entdecken. Wie in den fotografischen Mosaiken erkennt sie Fragmente von ihm in sich selbst. Hat sie ähnliche Erfahrungen wie Oscar gemacht? Steckt nicht in vielen Menschen, die z. B. aufgrund ihrer Queerness Unterdrückung erfahren haben, ein Fragment von Oscar, könnten Fragmente von ihnen nicht auch Teil des Fotomosaiks werden? Ist das Fotomosaik eine Möglichkeit, intergenerational wie intersektional nachzudenken und Verbindungen herzustellen? Auf diese Vielzahl von Fragen kann der Film keine Antwort geben. Fotomosaik folgt auf Fotomosaik, jede neue Konstruktion ergibt neue Assoziationen und Fragen. Die Schnitte und Risse zwischen den fotografischen Fragmenten werden derweil vom Film nicht gekittet, sondern bleiben bestehen – sie werden vielmehr ausgestellt. Victorias Suche in ihrem Film nach Erinnerungen an Oscar ist gleichzeitig auch eine Suche nach Darstellungsmöglichkeiten, um überhaupt erinnern zu können. Der Film steht vor dem Dilemma, dass die wenigen fotografischen Erinnerungen an Oscar durch seine Familie entstanden sind, die ihn und seine Homosexualität zugleich aus der Familie zu streichen suchten.

Critical Fabulation

Die Familienfotos, die belegen können, dass Oscar gewesen ist, präsentieren womöglich, genauso wie die Familienaufnahmen Victorias, ein banalisiertes Bild von ihm. Im Film fragt sie sich selbst, ob Oscar es überhaupt wollen würde, dass an ihn erinnert werde. Würde Oscar lieber vergessen werden, als banalisiert erinnert?

Die Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman hat die Methode der Critical Fabulation formuliert. Ihr Ausgangspunkt war die historische Versklavung Schwarzer Frauen, die in den Quellen des Archivs erst dann sichtbar werden, wenn ihnen Gewalt angetan wurde, sie Gewalt erlitten und somit mit Gewalt überdauernd verknüpft bleiben. Critical Fabulation stellt den Versuch dar, sich die Leben derjenigen soweit wie möglich auszumalen, aber gleichzeitig auszustellen, dass eine präzise Repräsentation ihrer Leben nicht möglich sei. Das historisch akkurate, das aus den Quellen spreche, solle in eine Krise gestürzt werden, um stattdessen die Elemente ihrer Geschichten in einem rekombinanten Narrativ neu zu arrangieren, um zu fragen, wie es gewesen sein könnte (vgl. Hartman 2008, S. 1f., 9ff.). Das fotografische Mosaik in LO QUE SE HEREDA setzt die Critical Fabulation filmisch um. Mit jedem neuen Schnitt verbinden sich Oscar und Victoria zu einem Mosaik, eröffnen sich Ideen, Parallelen und Differenzen zwischen alter und moderner queerer Generation. Die Risse und Lücken im Mosaik bleiben bestehen. Es gibt kein richtiges oder falsches Arrangement. Es gibt keine akkurate Erinnerung und somit auch keine banalisierende.

Literatur

Barthes, Roland (1989), Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Hartman, Saidiya (2008), „Venus in two Acts“. In: Small Axe. A caribbean journal of criticism, Vol. 12/Issue 2, S. 1–14. Zugriff am 24.01.2024 unter https://warwick.ac.uk/fac/arts/history/research/centres/blackstudies/venus_in_two_acts.pdf.

Truffaut, François (2003), Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München: Heyne.

Filmografie

LO QUE SE HEREDA (Dominikanische Republik 2022, R: Victoria Linares Villegas).

REAR WINDOW (USA 1954, R: Alfred Hitchcock).

Zitation: Lukas Wierschowski: Spurensuche nach queerer Erinnerung – Critical Fabulation in LO QUE SE HEREDA, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 30.01.2024, www.gender-blog.de/beitrag/critical-fabulation/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240130

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© Headergrafik: Patrick Daxenbichler/Abobe-Stock

Lukas Wierschowski

Lukas Wierschowski hat an der Ruhr-Universität Bochum im Bachelor Medienwissenschaft und Geschichte sowie darauffolgend im 1-Fach Master Medienwissenschaft studiert. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit dem Denken über und durch Filme und welche neuen Perspektiven wie Fragen diese eröffnen können.

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