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Debatte

Schwäche am Damenflügel? Gender Gaps und #MeToo im Schach

29. August 2023 Heike Mauer

Die Corona-Pandemie hat dem Schachspiel einen unerwarteten Aufschwung beschert. Galt das königliche Spiel vielen als nerdy und verkopft, avancierte Schach in Zeiten des Lockdowns zu einem Modesport: Online-Spielplattformen verzeichnen seitdem einen Boom; Millionen Abonnent_innen folgen Schachstreamingchanels auf youtube oder twitch. Entgegen mancher medialer Darstellungen bestehen jedoch nach wie vor Gender Gaps im Schach, über deren Auswirkungen und Ursachen innerhalb der Schachcommunity verstärkt diskutiert wird. Auch #MeToo und #TimeIsUp machen immer seltener Halt vor dem Schachsport.

Medial an Coolness gewonnen

Die zunehmende (mediale) Aufmerksamkeit auf Frauen im Schach verdankt sich auch dem Hype um die Netflix-Mini-Serie „The Queens Gambit“ (USA 2020). Angesiedelt in den 1950er- und 1960er-Jahren in den USA, wird die fiktive Geschichte von Beth Harmon und ihrem – scheinbar mühelosen – Weg in die internationale Weltspitze des Schachs erzählt. Die Serie arbeitet dabei gleichermaßen mit einer Dramatisierung und einer Entdramatisierung von Geschlecht, indem sie die Geschlechterverhältnisse im Schach sowohl reproduziert, zuspitzt als auch glättet: So entspinnt sich die Handlung weitestgehend frei von Sexismus, obwohl der Schachsport zugleich als reine Männerwelt gezeichnet wird, in die die Protagonistin Beth Harmon erfolgreich und problemlos eindringt. Diskriminierungserfahrungen werden – anders als in der Disney-Produktion „Queen of Katwe“ (USA 2016), die auf der Lebensgeschichte der ugandischen Schachspielerin Phiona Mutesi basiert (vgl. Shahade 2022: 254ff.) – nicht geschildert. Im „Damengambit“ kapitulieren die Gegner Harmons entweder vor ihrem Talent oder wechseln direkt in die Reihen ihrer Sekundanten und Unterstützer im Titelkampf über. Die Serie wurde in der Schachcommunity auch deshalb mit Begeisterung aufgenommen, weil in den Turnierszenen reale Partien inszeniert wurden und die Fiktion daher sehr realistisch gezeichnet erscheint. Dass die gezeigten Partien ausschließlich von Männern stammten, ist bis heute gängige Praxis in Schachlehrbüchern (mit Ausnahmen: Shahade 2011; Hertan 2018), in denen Partien als Trainings- und Anschauungsmaterial präsentiert werden.

Real weiterhin unsichtbar

Dies verweist auf bestehende Gender Gaps im Schach. Der Weltschachbund FIDE hat im Jahr 2022 das Year of Women in Chess ausgerufen und will bspw. auch Preisgelder und die Förderung im Profisegment angleichen, um die Partizipation und die Sichtbarkeit von Schachspielerinnen zu erhöhen. Wie notwendig dies ist, zeigt auch die verhaltene Berichterstattung über die Women’s World Championship, die in Deutschland nahezu unbemerkt in Shanghai und in Chongqing vorüberging und bei der Ju Wenjun ihren Titel gegen Lei Tingjie erfolgreich verteidigte.

Gender Gaps werden im Schach zumeist unter dem Stichwort des Performance Gaps verhandelt, der auf den ersten Blick offensichtlich zu sein scheint: Unter den laut FIDE-Rating 100 weltbesten Schachspielenden findet sich aktuell keine einzige Frau; unter den 100 besten Junior_innen ist mit der neunzehnjährigen Bibisara Assaubayeva aus Kasachstan auf Platz 83 nur eine Spielerin gelistet [1]. Die derzeit beste Spielerin Hou Yifan liegt Mitte August 2023 auf Platz 127 der Weltspitze. Judit Polgár, die als beste Schachspielerin der Welt gilt, erreichte in ihrer erfolgreichsten aktiven Zeit in den Jahren 2004–2005 Platz 8 der Weltrangliste.

Participation Gap

Das alltäglich kolportierte Vorurteil, demzufolge Männer qua Geschlechtszugehörigkeit und Biologie erfolgreicher und Frauen intellektuell weniger geeignet für den Schachsport „sind“, blendet aus, dass bis heute parallel zum Performance Gap – im Profi-, wie im Amateurbereich – ein gravierender Participation Gap im Schach existiert. So ist im Jahr 2023 nur eines von zehn Mitgliedern im Deutschen Schachbund (DSB) eine Frau. Obwohl der Männeranteil mit 90 Prozent überwältigend hoch ausfällt, stellt dies bereits einen Fortschritt dar, lag der Anteil schachspielender Frauen im DSB in den 1970er-Jahren doch lediglich bei 2 Prozent. Auch das sogenannte Kaffeehausschach und das sich daran anschließende Vereinswesen, das dem modernen Schachspiel um 1900 zu seiner Popularität verhalf, war nahezu ausschließlich Männern vorbehalten (vgl. Ehn 2017: 203ff.).

Wie der Participation Gap entsteht, ist Gegenstand heftiger Debatten, die nicht nur in der Schachcommunity oftmals von Alltagssexismus geprägt sind. Vergessen oder bewusst ausgeblendet wird in solchen, biologistischen Argumentationen zumeist die Frage, welche Nachwirkungen der lange Ausschluss von Frauen aus dem Vereinsschach und dem Spitzensport bis heute entfaltet (Thomas 2022). Immerhin werden die innerhalb der Community anhaltend grassierende Misogynie sowie Sexismus, Diskriminierungen und Übergriffe aktuell verstärkt problematisiert (Loeb McClain 2020).

#MeToo im Schachsport

Jüngst häufen sich die Berichte von Schachspielerinnen im Amateur- und im Profibereich über Alltagssexismen, sexualisierte Übergriffe und anderes strafbares Verhalten. Im März 2023 berichtete das Wall Street Journal über die Vorwürfe zahlreicher Frauen, darunter Women Grand Master (WGM) Jennifer Shahade, gegenüber Grandmaster (GM) Alejandro Ramirez. Dieser sei wiederholt gegenüber Frauen übergriffig geworden, die US Chess Federation sowie der mächtige St. Louis Chess Club hätten jahrelang und systematisch weggeschaut, anstatt den Beschwerden der Frauen ernsthaft nachzugehen. Die Anschuldigungen wiegen schwer und reichen von unerwünschten Küssen und Berührungen bis hin zu Vergewaltigung, einige der betroffenen Frauen sind dem Bericht zufolge minderjährig (Beaton/Robinson 2023).

Zudem kursiert seit Anfang August 2023 ein offener Brief, der Sexismus und sexuelle Gewalt im Schachsport anprangert, verübt durch Spieler, Trainer, Schiedsrichter und Manager. Misogynie, Belästigung und Übergriffe werden als Hauptursache dafür benannt, dass Frauen und Mädchen dem Schachsport den Rücken kehren. Initiiert von vierzehn französischen Top-Spielerinnen, fand der Brief schnell weitere prominente Unterzeichnerinnen, darunter die ehemalige Weltmeisterin der Frauen, WGM Susan Polgár. Susan Polgár berichtete außerdem, mehrere Todesdrohungen von Männern erhalten zu haben, die sie dazu veranlasst haben, nur noch mit Personenschutz öffentlich aufzutreten. Der Weltschachbund FIDE verurteilte in einem dünnen Statement Sexismus in der Schachcommunity, veröffentlichte jedoch nur Tage danach neue Regularien zum Umgang mit transgender Spieler_innen, die u. a. trans Frauen bis auf weiteres untersagen, an Frauenturnieren teilzunehmen; eine Entscheidung, die auf harsche Kritik und Widerstand stieß.

Das Versagen der Strukturen adressieren

Die Britin und Women International Master (WIM) Sabrina Chevannes sah sich nach einem Interview mit Times Radio einem Shitstorm in den sozialen Medien ausgesetzt. Darin hatte sie geäußert, Sexismus sowie ihre kontinuierliche Furcht vor weiteren Übergriffen während des Trainings und bei Turnieren hätten zum Ende ihrer Profikarriere im Schach geführt. In einem weiteren Clip setzte sie sich gegen öffentliche Herabsetzungen ihrer Person sowie Verharmlosungen und Relativierungen zur Wehr. Erneut forderte sie ein, endlich die tatsächlichen Übergriffe und das jahrzehntelange Versagen der Strukturen zu adressieren.

Immerhin kündigte der freie, Fünfmillionen Mitglieder umfassende Schachserver Lichess im August 2023 an, zukünftig weder mit der US Chess Federation noch mit dem St. Louis Chess Club kooperieren zu wollen und machte zudem gravierende Anschuldigen gegen einen weiteren Großmeister neben Ramirez publik. Eine Woche später zog die Onlineplattform Chess.com nach und will demzufolge ebenfalls keine Events des St. Louis Chess Club mehr promoten. Auch der Deutsche Schachbund hat in einer Erklärung Unterstützung für den offenen Brief geäußert und (sexualisierter) Gewalt und Diskriminierung den Kampf angesagt: „Alle Schachspieler:innen haben das Recht, ihren Sport diskriminierungs- und gewaltfrei auszuüben.“ Auf diese Worte müssen nun Strukturveränderungen folgen.

[1] Die Ratings entsprechen dem Stand Mitte August 2023. Die FIDE weist das Geschlecht von Schachspieler_innen bislang lediglich binär aus.

Literatur

Beaton, Andrew/Robinson, Joshua (2023): How Sexual Assault Allegations Against a U.S. Chess Grandmaster Went Unaddressed for Years. In: The Wall Street Journal, 07.03.2023, https://www.wsj.com/articles/alejandro-ramirez-jennifer-shahade-chess-allegations-622263b8 [Zugriff: 14.08.2023].

Ehn, Michael (2017): Geniales Schach im Wiener Kaffeehaus 1750–1918. Edition Steinbauer.

Hertan, Charles (2018): Strike Like Judit! The Winning Tactics of Chess Legend Judit Polgar. New In Chess.

Loeb McClain, Dylan (2020): How ‘The Queen’s Gambit’ Started a New Debate About Sexism in Chess. In: The New York Times, 10.11.2020, https://www.nytimes.com/2020/11/10/arts/television/queens-gambit-women-chess.html [Zugriff: 14.08.2023].

Shahade, Jennifer (2011): Play Like a Girl! Tactics by 9 Queens. Swindon: Mongoose Press.

Shahade, Jennifer (2022): Chess Queens: The True Story of a Chess Champion and the Greatest Female Players of All Time. London: Hodder & Stoughton.

Thomas, Louisa (2022): Werden Frauen das Schachspiel erobern? In: Deutschlandfunk, 15.04.2022, https://www.deutschlandfunk.de/damenfluegel-werden-frauen-das-schachspiel-erobern-100.html [Zugriff: 14.08.2023].

Zitation: Heike Mauer: Schwäche am Damenflügel? Gender Gaps und #MeToo im Schach, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 29.08.2023, www.gender-blog.de/beitrag/gender-gaps-schach/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230829

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Dr. Heike Mauer

ist Politikwissenschaftlerin und forscht an der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen zu Hochschule und Gleichstellung. Von 2016-2021 war sie eine der Sprecher*innen der Sektion 'Politik und Geschlecht' in der DVPW. Für ihre Forschungen zu Intersektionalität, Rechtspopulismus und Antifeminismus ist ihr 2019 der Preis für exzellente Genderforschung des Landes NRW verliehen worden.

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Kommentare

Johannes | 30.08.2023

Der Artikel fasst die globalen Aspekte gut zusammen. Aber der Bezug zu NRW oder Deutschland fällt zu gering aus. Die Erklärungen des DSB werden auch kritisch hinterfragt, das trifft auch insbesondere auf den Leistungssport zu.

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