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Themenwochen , Zeit

Gendered Timescapes: (re)produktives Arbeiten in sozial-ökologischer Perspektive

10. November 2023 Sabine Hofmeister

Die Heldin in Birgit Birnbachers Roman Wovon wir leben war Krankenpflegerin. Im Rückblick beschreibt sie anschaulich das Dilemma zwischen den Zeiten, wie es sich für (re)produktives Arbeiten darstellt. In Bezug auf sogenannte sorgende Tätigkeiten wird offenkundig, dass und wie Arbeiten eingebettet sind in die Gleichzeitigkeit ungleicher Zeitlichkeiten (Temporalities) – in zugleich rhythmisches, durch stetige Wiederkehr ähnlicher (nicht gleicher) Prozesse geprägtes Handeln (Ur-Zeit) in der linearen (Uhr-)Zeit, eine in gleichgroße Zeitabschnitte geteilte Abfolge von Aktivitäten.

„Dass schon [...] einiges an meiner Arbeit nicht gut gewesen war [...] die vollkommene Durchtaktung eines [...] unplanbaren Bereichs, der Arbeit am Menschen. [...] Mit [...] jedem abgearbeiteten Kreuzchen meiner Aufgabenliste wurde der Mensch vor mir abstrakter. [...] Das Schlimmste aber war, dass auch für mich die Tatsache, wie ich meine Arbeit mache, nach und nach vor der Frage in den Hintergrund trat, wie lange ich brauchen durfte und ob ich fähig war, meine Arbeit in den dafür vorgesehenen Slots [...] auch zu schaffen. [...] [Z]uhören und da sein geht nicht zwischen zwei Slots, doch wenn es da nicht geht, geht es eben gar nicht mehr.“ (Birnbacher 2023, S. 20)

Eigenzeiten und Zeitmuster

Im Kontext des Tutzinger Projektes zur Ökologie der Zeit haben Zeitforscher*innen früh beschrieben, dass und wie diese Gleichzeitigkeit potenziell zu Reibungen und Konflikten führt (z.B. Held/Geißler 1993). Verschiedene Eigenzeiten und Zeitmuster wirken in- und miteinander, wobei eine Vielfalt an Zeitformen und -maßen, Zeitskalen, Geschwindigkeiten und Pausen entsteht; auf der anderen Seite zeigt sich eine „vollkommene Durchtaktung“, die die abstrakt quantitative, ökonomische Bewertung von (Erwerbs-)Arbeit überhaupt erst ermöglicht. Beides passt nicht gut zueinander. ‚Reproduktives‘ Arbeiten unterläuft die Zeit = Geld-Logik, widerstrebt dem Zeitregime kapitalistisch organisierter Ökonomien. In der Perspektive auf das zeitliche Ganze der Arbeit (Biesecker 1999) gerät das tätige Leben in kapitalistischen Wirtschaftssystemen zu einem Moment kontinuierlichen Widerstands mit einem hohen sozial-ökologischen Krisenpotenzial.

Die ganze Arbeit

In geschlechtlicher Dimension ist dieses Zeitverhältnis verschiedentlich kritisch reflektiert worden (vgl. z. B. Hofmeister/Spitzner 1997): ‚Arbeiten‘ ist mehr als Erwerbsarbeit. Die ‚ganze Arbeit‘ ist nicht zerlegbar in lineare, zähl- und messbare Einheiten. Eine (nur dem Anschein nach) warenförmige Arbeit, die als Erwerbsarbeit anhand der Kriterien Effektivität und Effizienz quantitativ bewertet und in Geld vergütet wird – und deshalb nach ‚Durchtaktung‘ verlangt –, wird durch das lebendige, tätige Sein in Zeiten prinzipiell und überall in Frage gestellt (vgl. z. B. Davies 1999). Temporäre Muster und Regime sind mithin geprägt durch Widerstände und Brüche zwischen Zeiten – sowohl in der Wechselwirkung mit menschlichen als auch mit nichtmenschlichen ‚Natur/en‘.

Timescapes

Reibungsverluste und Konflikte in und zwischen produktiven und sog. reproduktiven Zeiten werden in zweifacher Perspektive sichtbar: Einerseits additiv im Verhältnis zwischen erwerblicher, bezahlter Arbeitszeit zu unbezahlter, in privaten ‚Reproduktionsräumen‘ überwiegend von Frauen geleisteter Arbeitszeit. Andererseits sind ‚reproduktive‘ Tätigkeiten integriert, eingelassen in erwerbliche Arbeitszeiten. Wie in Birnbachers Roman beschrieben, geraten sie zwischen die Zeit-„Slots“ der bezahlten, vermeintlich einzig produktiven Arbeit; sie werden dabei überlagert oder/und qualitativ negiert. Produktion und ‚Reproduktion‘ realisieren sich in Einem, zu gleicher Zeit und in Zeitlichkeiten, die in Widerspruch zueinander stehen. In der kritischen Reflexion dieses paradoxen Verhältnisses offenbart sich der den lebendigen (Arbeits- und Natur-)Prozessen inhärente Charakter als (Re)Pro­duktivität (Biesecker/Hofmeister 2006). ‚Arbeiten‘ bedeutet zwischen Zeiten vermitteln – zwischen Natur- und sozialen Zeiten, zwischen der rhythmischen und der getakteten Beschaffenheit der Zeit/en sowie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieses in stetiger Veränderung durch Vermittlungen begriffene temporäre Netzwerk, diese durch Zusammenwirken verschiedener Zeiten entstehenden, besonderen Strukturen und Muster der Zeit nennt Barbara Adam ‚Zeitlandschaften‘ – „Timescapes“ (Adam 1997).

Zeitregime als Herrschaftsregime

Im Themenfeld Times and Gender wird das Spannungsverhältnis zwischen den Zeiten, das zur Ausbildung besonderer Zeitlandschaften führt, aufgegriffen und in kritischer Absicht als hierarchisch-herrschaftliches benannt. Im Zentrum steht dabei die Ein­sicht, dass es insbesondere die sozial weiblich zugewiesenen, an den Eigentätigkeiten, Eigenzeiten und dem Eigensinn anderer Menschen oder/und nicht-menschlicher Wesen orientier­ten Arbeitsprozesse sind, die dominiert, abgewertet und überlagert werden durch lineare, mess- und teilbare, auf Effizienz ­ge­richtete Zeitkalküle – ohne dadurch jedoch ersetzt werden zu können. In einer feministischen Perspektive erweisen sich Arbeit und Natur als prinzipiell (re)produktiv. Die geschlechtlich verfasste Zeitordnung ist gekennzeichnet durch hierarchische, macht- und herrschaftsförmige Beziehungsstrukturen zwischen den verschiedenen Zeitformen, -mustern und -regimen. Zeitkonflikte basieren auf Ungleichheiten, Dominanzverhältnissen und Hierarchien zwischen produktiven und ‚reproduktiven‘ (Arbeits-)Prozessen in Zeit/en.

Ubiquitäre Eigenschaft der Arbeit

Was im Blick auf sog. sorgende Tätigkeiten beschrieben wird, wird in sozial-ökologischen Krisenlagen als ubiquitäre Eigenschaft der Arbeit erkannt: In und während der Corona-Pandemie ist verbreitet auf die hierarchischen, explizit und implizit herrschaftsförmigen Beziehungen zwischen Produktivem und ‚Reproduktivem‘ hingewiesen worden. Vorsorgende, unterstützende und er­neuernde Arbeiten standen im Fokus der Debatten um die ‚Systemrelevanz‘ von Tätigkeitsfeldern und Berufsgruppen; sie gerieten zugleich extrem unter Druck. Während des ‚Lockdown‘ hatten sich zudem die Spannungen zwischen den geschlechtlich verfassten Zeitlichkeiten verschärft und verdichtet – sowohl in räumlicher als auch in linear zeitlicher Hinsicht. Sehr häufig erwies sich dies als destruktiv in Hinblick auf die (Re)Produktivität von ‚Frauen‘ (z. B. Allmendinger 2020; Mölders/Hofmeister 2021). Das Trennungsverhältnis zwischen den Zeiten, wie es dem Arbeiten in kapitalistischen Ökonomien eigen ist, stellt sich dar in geschlechtlichen Arbeitsteilungen, in „Frauen-/Männerzeiten“, und es verfestigt soziale Ungleichheitslagen ebenso wie hierarchisch regulierte gesellschaftliche Naturverhältnisse.  

Zeitpolitik als ein sozial-ökologisches Politikfeld

Indem in (re)produktionstheoretischer Perspektive die Fragen zur Ökonomie und zur Ökologie der Zeit/en sowie die Debatten um Geschlechter- und Naturverhältnisse zusammengeführt werden, wird Zeitpolitik als ein sozial-ökologisches Politikfeld erkannt und als solches gestaltbar. Auf Basis der Gerechtigkeitsziele (intra- und intergenerational) und mit dem Postulat der Vorsorge (für künftiges Leben und Wirtschaften) sind feministische Perspektiven in der Zeit- und Nachhaltigkeitsforschung normativ verankert sowie in die entsprechenden Politikfelder eingelassen. Im Prozess der sozial-ökologischen Transformation rücken die materiell-physischen wie sozial-kulturellen (Re)Produktionserfordernisse und -bedingungen politisch in den Vordergrund. In Krisenlagen werden Konflikte und Syn­chronisationserfordernisse zwischen den vergeschlechtlichten Zeiten, wie in der Pandemie gesehen, nachgeschärft. Zeitpolitische Konzepte und Strategien – vor allem solche, die auf Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit zielen – , werden dringlicher. Ihre konzeptionellen und analytischen Grundlagen finden sozial-ökologisch fundierte feministische Zeitpolitiken im Konzept „Timescapes“ (Adam) in der Verbindung mit der Kategorie (Re)Produktivität (Biesecker/Hofmeister 2006).

Literatur

Adam, Barbara (1997), Timescapes of Modernity: The Environment and Invisible Hazards. London: Routledge.

Allmendinger, Jutta (2020), Frauen verlieren ihre Würde. ZEIT-online vom 12. Mai 2020. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/familie-corona-krise-frauen-rollenverteilung-rueckentwicklung [abgerufen am 11.10.2023].

Biesecker, Adelheid (1999), Kooperative Vielfalt und das ‚Ganze der Arbeit‘. Überlegungen zu einem erweiterten Arbeitsbegriff. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Paper P00504 der Querschnittsgruppe Arbeit und Ökologie. Berlin: WZB, https://www.econstor.eu/dspace/bitstream/10419/50298/1/311841341.pdf [abgerufen am 11.10.2023].

Biesecker, Adelheid/Hofmeister, Sabine (2006), Die Neuerfindung des Ökonomischen. Ein (re)produktionstheoretischer Beitrag zur Sozialen Ökologie. München: oekom.

Birnbacher, Birgit (2023), Wovon wir leben. Wien: Paul-Zsolnay-Verlag. 

Davies, Karen (1990), Women and Time. The Weaving of the Strands of Everyday Life. Aldershot: Avebury.

Held, Martin/Geißler, Karlheinz (Hg.) (1993), Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße. Stuttgart: S. Hirzel.

Hofmeister, Sabine/Spitzner, Meike (Hg.) (1999), Zeitlandschaften. Perspektiven öko-sozialer Zeitpolitik. Stuttgart: S. Hirzel.

Mölders, Tanja/Hofmeister, Sabine (2021), Die Krise in der Krise. Sozial-ökologische Perspektiven auf Zuschreibungen, Bestätigungen und Verluste des ‚Reproduktiven’ in Zeiten von ‚Corona’. In: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft. 13/2, S. 48-63, https://doi.org/10.3224/gender.v13i2.04

Zitation: Sabine Hofmeister: Gendered Timescapes: (re)produktives Arbeiten in sozial-ökologischer Perspektive, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.11.2023, www.gender-blog.de/beitrag/gendered-timescapes/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231110

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Prof. Dr. Sabine Hofmeister

Sabine Hofmeister, Prof. Dr.-Ing., seit 1999 Forschungs-und Lehrgebiet Umweltplanung im Institut für Sustainability Governance, Fakultät Nachhaltigkeitswissenschaft, Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind nachhaltige Raumentwicklung, ‚Ökologie der Zeit’ sowie Geschlechterverhältnisse und Nachhaltigkeit; Sie ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) (seit 2002) und der Tutzinger Projektgruppe zur ‚Ökologie der Zeit’ (seit 2008).

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