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Headergrafik: Christoph Burgstedt /Adobe-Stock

Interview

Gendermedizin als Emerging Field: Institutsgründung an der Universität Duisburg-Essen

05. März 2024 Anke Hinney Andrea Kindler-Röhrborn Sandra Beaufaÿs

Am 8. März 2024 wird das Institut für Geschlechtersensible Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen feierlich eröffnet. Was zunächst als Wahlfach für Studierende und Forum für interessierte Dozent:innen angeboten wurde, wird damit institutionalisiert. Auf dieser neuen Basis können nun z. B. Forschungsanträge gestellt werden. Sandra Beaufaÿs sprach mit den Initiatorinnen Anke Hinney und Andrea Kindler-Röhrborn.

Wie sind Sie beide zum Thema gendersensible Medizin gekommen? Das konnten Sie ja zu Ihrer Studienzeit noch nicht als Wahlfach belegen.

Anke Hinney: Ich habe mich zunächst nicht primär für Geschlechterunterschiede interessiert. Ich bin Genetikerin, Biologin in der LVR-Universitätsklinik Essen und wir beforschen schon lange genetische Mechanismen der Gewichtsregulation und betrachten dabei besonders Essstörungen, vor allem die Magersucht (Anorexia nervosa). Es gibt eine Vielzahl von Genvarianten, die das Körpergewicht beeinflussen. Zunächst haben wir uns noch keine Geschlechtereffekte angesehen, aber konnten einige Gene finden, die für das Körpergewicht relevant sind. Dabei gab es schon Effekte, die bei Frauen stärker ausgeprägt waren. Als ich dann die Professur mit der Teil-Denomination Gendermedizin hier an der Uni Duisburg-Essen innehatte, habe ich mich stärker mit der Geschlechterfrage auseinandergesetzt. Vielleicht denken Sie, das müsste man ja sowieso immer!  Das denke ich jetzt auch. Aber das macht man eben nicht automatisch, weil wir für unsere Analysen große Fallzahlen brauchen – wenn ich das Kollektiv halbiere, halbiere ich die Fallzahl und kann dann vielleicht manche Effekte nicht mehr sehen. Es gibt aber auch Effekte, die wir verpassen, wenn wir beide Geschlechter immer gemeinsam analysieren.

Wie war das bei Ihnen?

Andrea Kindler-Röhrborn: Ich bin eigentlich Wissenschaftlerin in der Tumorforschung und habe verschiedene Tests mit Versuchstieren gemacht. Wenn man bestimmte Substanzen benutzt, die Tumoren hervorrufen, werden bei männlichen Tieren viel mehr Tumoren gefunden als bei weiblichen. Das ist nicht nur eine einzelne Beobachtung von mir, sondern auch von anderen Wissenschaftler:innen, die ganz andere Methoden benutzt haben als ich. Und das entspricht auch dem, was man bei Menschen beobachtet: Weltweit entstehen 1,4-mal mehr Tumoren bei Männern als bei Frauen. Berücksichtigt man die Tumoren im Reproduktionstrakt nicht, ist der Unterschied sogar noch größer. Und dafür muss es ja Gründe geben. Ich habe dann geschaut, welche Gene bzw. Gen-Orte eventuell dafür verantwortlich sind und habe gesehen, dass weibliche Tiere durch bestimmte Genorte eher geschützt werden. Das war für mich die entscheidende Begegnung mit dieser Art von Wissenschaft und ich habe mich dann weiter dafür interessiert.

Sie haben dann zusammen den Bereich an der Universität aufgebaut…

A.H.: Als ich Andrea über das Essener Kolleg für Geschlechterforschung (EKfG) kennengelernte, haben wir gedacht, wir müssen eigentlich mehr dazu machen, „Geschlechtersensible Medizin“ in der medizinischen Fakultät mehr verankern, dieses Thema mehr publik machen. Wir wollten es am liebsten im Curriculum haben, sodass die Studierenden dieses Thema wirklich wählen müssen, und es nicht nur eine Option ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, aber dafür war die Zeit noch nicht reif; und dann haben wir gedacht: Dann machen wir doch ein Wahlfach zu Gendermedizin. So hat das angefangen vor etwa sechs Jahren. Dann haben wir es 2020 das erste Mal stattfinden lassen und waren begeistert, wie interessiert die Studierenden waren. Wir haben auch unter den Kolleg:innen immer mehr Interesse für dieses Thema wecken können. Während wir zu Anfang die Kolleg:innen ansprechen mussten, kommen sie jetzt auf uns zu. Das hat so eine Dynamik bekommen tatsächlich.

Jetzt haben Sie ein Institut gegründet. Ich habe so etwas in Deutschland nur an der Charité gefunden, dann gibt es eine Arbeitsgruppe in Bielefeld. Gibt es schon andere Vorläufer?

A.H.: In Bochum gibt es ein Institut für Diversitätsmedizin.

A.K.-R.: Dann gibt es an der Medizinischen Hochschule Hannover ein Kompetenzzentrum, das ist kein Institut im eigentlichen Sinne, sondern ein Forum für alle Forschenden, die sich dafür interessieren. Seit Kurzem gibt es noch ein Institut im Saarland, die sind wahrscheinlich ähnlich weit wie wir. Und dann gibt es viele Forschende, die aus anderen Arbeitsgruppen stammen und sich nur gelegentlich treffen.

Das ist also alles noch sehr neu. Wie kam die Gründung Ihres Instituts zustande?

A.H.: Das Wahlfach hat uns wirklich motiviert, weil wir gemerkt haben, dass ganz viele plötzlich dieses Thema für sich entdeckt haben. Wir haben zum Beispiel eine Kollegin aus dem onkologischen Bereich, die immer vorträgt bei uns im Wahlfach und neue Daten vorgestellt hat. Und dann sah das so spannend aus – das steht noch nicht in Lehrbüchern, noch nicht in Leitlinien, sondern ist tatsächlich ganz neu! Daraufhin hat sie Kolleg:innen angesprochen, die zu einer anderen onkologischen Erkrankung arbeiten, aber ähnliche Daten haben. Auf einmal war sie mit ganz vielen Gruppen im Kontakt. Das war plötzlich für viele ganz spannend, weil vielleicht ein hochkarätiges Paper dabei herauskommt. Dann kommen sie von überall her und sagen: „Ah, ich will das auch mitmachen“.

Aha, das scheint also ein innovativer Bereich zu sein, bei dem Sie aufpassen müssen, dass nicht jemand schneller ist?

A.H.: Da muss man sehr aufpassen, dass nicht plötzlich irgendeiner von deinen Kolleg:innen da vorne steht. Die Kollegin hat das jedenfalls weitergeführt und schreibt gerade das Paper. Und das wäre natürlich total gut für uns, weil man dann nachweisen kann: Das ist so relevant, dass es für die Patient:innen einen Unterschied macht. Und dass es dann auch gut publizierbar ist, dass das Renommee der Forschenden verbessert wird und dass vielleicht Leitlinien geändert und Patient:innen besser behandelt werden. Viel mehr geht nicht. Und dann hat dieses Thema plötzlich ein anderes Interesse. Es ist etwas, was den Forscher, die Forscherin voranbringt, aber vor allen Dingen auch die Patient:innenversorgung verbessert. Die Berücksichtigung des Geschlechts führt dazu, dass Patient:innen besser behandelt werden, richtiger behandelt werden. Das versuchen wir in alle Bereiche zu bringen. Und wir haben gedacht, die Strahlkraft nach außen ist größer, wenn es ein Institut ist.

A.K-R.: Man muss natürlich auch sagen, dass viel an hochkarätiger Literatur schon existiert. Was auch ein Anreiz für die Forscher:innen ist, die sich um diese Dinge bisher gar nicht gekümmert haben. Und deswegen haben wir gesagt, wir müssen ein Institut haben, wir müssen das strukturieren, wir müssen probieren, Verbundanträge, die ja überall dringend gefordert werden, in Bewegung zu setzen. Dazu gibt es jetzt eine sehr vernünftige Basis. In diesem Rahmen können Genderforschende im eigentlichen Sinne, die sich also mit den soziokulturellen Hintergründen beschäftigen, mit der Medizin zusammenarbeiten. Ein weiterer Vorteil ist, dass wir mittlerweile sehr gut vernetzt sind. Zum Beispiel sind wir auch im Netzwerk „Geschlechtersensible Forschung“, das die Bielefelder:innen in Gang gesetzt haben.

A.H.: Wir sind NRW-weit vernetzt, und das geht sicherlich an anderen Standorten auch. Wir sind erstmal wie eine Dachorganisation und versuchen die verschiedenen Player der Fakultät zusammenzubringen, um dieses Thema in seiner Breite voranzubringen.

Sind Sie an der Universität eigentlich auf Widerstände gestoßen bei der Institutsgründung?

A.H.: Nee, nicht wirklich.

A.K-R.: Es ist natürlich auch interessant, weil die Approbationsordnung geändert werden soll, voraussichtlich in 2027. Und dann muss man die Geschlechterthemen in die grundständige Lehre integrieren. Das ist bis jetzt nicht der Fall – ein Wahlfach ist ja for pleasure sozusagen, da gehen die Studierenden hin, die sich dafür interessieren, aber dann wird es in die Pflichtlehre eingehen. Dazu geben wir praktisch die Steilvorlage. Es ist in vielleicht drei, vier Jahren interessant, aber die Fakultät ist glücklicherweise weitsichtig genug, um zu wissen, dass es sinnvoll ist, jetzt damit anzufangen.

Dann sind sie auch vorn dabei sozusagen…

A.H.: Richtig, das haben wir auch versucht, zu vermitteln: Dass es gut ist, wenn man die geschlechtersensible Medizin mit der Universität Duisburg-Essen verbindet. Und das ist natürlich dann auch ein Verkaufsargument gewesen. Aber es war wirklich problemlos, es hätte nicht einfacher gehen können. Diejenigen, die Verbundanträge stellen, wissen, dass sich das gut macht, wenn sie das angeben können. Da sind wir genau zur richtigen Zeit gekommen.

Was versprechen Sie sich selbst von Ihrem neuen Institut?

A.H.: Uns geht es darum, dass das Thema in den Köpfen verankert wird, dass die Kolleg:innen wirklich Geschlecht mitdenken oder entsprechend ihre Forschung darauf ausrichten. Und wenn wir das schaffen, dann haben wir schon viel geschafft. Wir sind schon hinterher in Deutschland, die USA und Kanada machen das ja schon viele Jahre vor und zeigen uns, dass es da viel Forschungsbedarf gibt und viel Verbesserungspotenzial.

A.K.-R.: Wir sind auf dem Weg, die Medizin besser zu machen. Und darin sehe ich eigentlich den größten Mehrwert.

 

Das Institut für Geschlechtersensible Medizin wird am Freitag, den 8. März 2024, auf der 25-jährigen Jubiläumsfeier des Essener Kollegs für Geschlechterforschung (EKfG) in Essen feierlich eröffnet. Das Programm finden Sie hier: https://www.uni-due.de/ekfg/jubilaeum2024.php#programm.

Zitation: Anke Hinney, Andrea Kindler-Röhrborn im Interview mit Sandra Beaufaÿs: Gendermedizin als Emerging Field: Institutsgründung an der Universität Duisburg-Essen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 05.03.2024, www.gender-blog.de/beitrag/gendernedizin-institutsgruendung-duisburg-essen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240305

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

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Prof. Dr. Anke Hinney

Anke Hinney ist Netzwerkprofessorin und Prodekanin für wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversität der Medizinischen Fakultät, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Molekulargenetik von Adipositas und Essstörungen unter Berücksichtigung von geschlechtsspezifischen Aspekten.

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PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn

Andrea Kindler-Röhrborn ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Medizin im Institut für Pathologie und Mitglied im Vorstand des Essener Kollegs für Geschlechterforschung (EKfG) an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der geschlechtersensiblen Medizin.

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Dr. Sandra Beaufaÿs

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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