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Debatte

Ein Feld für sich allein. Geschlechtsspezifische Gewalt beseitigen

21. November 2023 Andreea Zelinka

Frauen und Mädchen sind am stärksten von Hunger sowie Unter- und Mangelernährung betroffen. Laut der Welternährungsorganisation (FAO) leiden derzeit 783 Millionen Menschen (Tendenz steigend) weltweit unter Hunger. Davon sind 60 % Frauen und Mädchen [1]. Und das, obwohl sie eine zentrale Rolle in der Produktion, Verarbeitung von und Versorgung mit Lebensmitteln spielen. Diese strukturelle Gewalt findet oft noch viel zu wenig Beachtung. Ein Grund mehr, am Aktionstag zur Beseitigung jeglicher geschlechtsspezifischer Gewalt einen Blick auf diese zu werfen. Denn eines ist klar: Nichts daran ist natürlich oder selbstverschuldet, sondern Ergebnis patriarchaler Machtverhältnisse. Und diese lassen sich ändern.

Vielfache Momente der Gewalt und Gefährdung

Eine Frau kann als Versorgerin, Konsumentin und Produzentin von Lebensmitteln Gewalt erleben (Bellows & Lenderedjian 2016, S. 111f.). Wenn sie als Versorgerin die Erwartungen von Partner, Ehemann und Familienmitgliedern nicht erfüllt, weil sie etwa nicht ‚gut genug‘ kocht, kann häusliche Gewalt eine Folge sein. Diese wird häufig von anderen Familienmitgliedern, auch den weiblichen, legitimiert, da Sorgetätigkeit und Gehorsam innerhalb der patriarchalen Ehe als Pflichten der Frau gelten. Als Versorgerin, aber auch als Konsumentin, kann eine Frau von Vergiftung, Mangelernährung und Hunger betroffen sein. Denn als Köchin hantiert sie mit pestizidverseuchten Lebensmitteln und nicht selten essen Frauen und Mädchen als letztes oder erhalten am wenigsten. Schließlich kann eine Frau als Produzentin ökonomischer Gewalt ausgesetzt sein. Denn obwohl sie Teil der Lebensmittelproduktion ist – neben der Versorgung von Familie und Haushalt auch noch im Garten, im Wald oder auf dem Feld arbeitet – besitzt sie fast nie das Land, das sie bewirtschaftet. Diese Ausgrenzung von Ressourcen schränkt ihre Selbstbestimmung sowie gesellschaftliche und politische Teilhabe ein und gefährdet ihre körperliche Unversehrtheit und die ihrer Kinder.

Eine Frage der Verteilung

Arbeitskraft in der Landwirtschaft kommt laut der FAO zu rund 43 % von Frauen (SOFA Team/Doss 2011). Auch wenn dieser Wert je nach Land und Kontinent zwischen 16 % (z. B. Lateinamerika und die Karibik) und knapp 50 % (z. B. Afrika) rangiert, gehen Expert:innen davon aus, dass die vorhandenen Daten die Beteiligung der Frauen sogar unterschätzen, da Bereiche wie Nutztierhaltung, aber auch Gartenarbeit und die Zubereitung der Lebensmittel nicht einbezogen worden sind.

Für gewöhnlich heißt es, dass Frauen 1–2 % der landwirtschaftlichen Fläche weltweit besäßen. Tatsächlich ist es komplizierter: So besitzen Frauen in Subsahara-Afrika und Asien zwar weniger Land als Männer, doch in allen Fällen sind es mehr als 2 %. Allerdings ist unter Kleinbäuer:innen nur der geringste Teil des Lands mit individuellen Landtiteln versehen, denn bis zu 48 % der landwirtschaftlichen Fläche besitzen Frauen und Männer gemeinsam. Das meiste Land ist also über Gewohnheitsrechte verwaltet, in kollektivem Besitz oder im Besitz des Staates, dann haben Kleinbäuer:innen nur das Recht, es zu nutzen (Doss et al. 2018, S. 71).

Gemeinschaftlicher Besitz bedeutet nicht automatisch, dass Frauen mehr Gleichberechtigung erfahren. Sowohl bestehende Rechtssysteme als auch Geschlechternormen machen es Frauen sehr schwer, Zugang zu Land zu erhalten und es selbstbestimmt nutzen zu können. Erbschaftsregelungen bevorzugen vielerorts immer noch männliche Verwandte. Und wenn Frauen dann doch Land oder Ressourcen erben, steigt der soziale Druck auf sie enorm an.

Privileg statt Grundrecht

„Ohne gesicherten Zugang zu Land, gibt es keine Ernährungssicherheit. Das ist die Basis für all jene Menschen, die heute und zukünftig vom Land leben wollen und müssen“, sagt Stefanie Lemke, Leiterin des BOKU-Instituts für Entwicklungsforschung [2]. Land in Besitz von Frauen bzw. gestärkte Nutzungsrechte, aber auch Zugang zu Krediten, technischen Hilfsmitteln und Informationen, würden ihre Lebenssituation beträchtlich verbessern. Das ist eine Absicherung gegen Armut, stärkt den ökonomischen und sozialen Status, vergrößert ihre Verhandlungs- und Entscheidungsmacht. „Land gibt Frauen Unabhängigkeit und die Garantie, über Ressourcen und Geld zu verfügen, ohne von ihrem Ehemann oder ihrer Familie abhängig sein und sich unterordnen zu müssen“, erklärt Ingrid Paola Romero Niño, leitende Koordinatorin von FIAN Kolumbien [2].

Doch Land zu besitzen, ist oft ein Privileg statt ein Grundrecht. Und viele Männer befürchten umgekehrt, von ihren Frauen verlassen zu werden, sobald diese selbst Land besitzen. Aus Angst vor dem Verlust des Respekts und der Veränderung bestehender Machtverhältnisse kann es durchaus zu einem Anstieg an Partnergewalt kommen (Lemke 2022), denn Eigentum in Händen von Frauen bedroht das patriarchale Machtgefüge.

Gesetzliche Regelungen allein bieten keine Sicherheit

Kulturelle Normen sind beim Zugang zu Land häufig die größte Herausforderung. Auch in Ländern, in denen für Frauen per Gesetz ein gleichberechtigter Zugang zu Land besteht, wird dieser oft durch lokale patriarchale Strukturen verhindert. So wurden in Honduras zwischen 1961 und 1991 nur 4 % der Frauen durch die Agrarreform begünstigt (FIAN Deutschland, S. 2). In Südasien besitzen nur ein Bruchteil der Frauen Land, obwohl es in der Mehrheit der Dörfer ein Recht auf Erbe und Eigentum für Frauen gibt (Baruah 2010, S. 7). In Kenia, Tansania, Mali und Guinea ist der Zugang von Frauen zu Land rechtlich national festgeschrieben, doch diese Rechte lassen sich in ländlichen Regionen schwer einfordern (Lemke 2022). Bei Ableben des Ehemannes oder einer Trennung gehen Landrechte oft entweder an den nächsten männlichen Verwandten oder einfach verloren. Das auch als Family Landgrabbing bekannte Phänomen macht deutlich, dass eine rein formale Anerkennung von Zugang zu Land nicht ausreicht, um Frauen abzusichern. Um das zu ändern, braucht es Dialog und männliche Verbündete, meint Lemke:

„Wenn jüngere und ältere Männer zur Gemeinde sprechen und sagen: ‚Wir müssen unsere Frauen mehr einbeziehen und ihnen die gleichen Rechte geben‘ hat das eine unglaubliche Wirkung. Und vor allen Dingen muss das aus den Gemeinden selber kommen. Das kann niemand von außen machen. Allerdings kann die Zivilgesellschaft diese Prozesse unterstützen, wie unser Projekt ‚Women's Communal Land Rights‘ zeigt.“ [2]

Besitz, nicht Besitzerin

In einem Interview erklärt die Philosophin Eva von Redecker (2018), Männlichkeit bedeute, potenziell Eigentümer zu sein. Das umfasse das Haus, den Hof, aber auch Frau und Kinder – letztere werden gleichsam zur Ressource gemacht. Im Prozess der ursprünglichen Akkumulation nach Karl Marx, also der Anhäufung von Kapital in Form von Land mit Hilfe der Durchsetzung privater Eigentumstitel und Verfügungsrechte, wurden Frauen einerseits als Produzentinnen von ihren Produktionsmitteln getrennt. Andererseits ermöglichen sie bis heute mit ihrer Sorge- und Reproduktionsarbeit überhaupt erst eine kapitalistische Wirtschaftsweise. Diese Arbeit ist un- oder schlecht bezahlt, weil sie als natürlich gilt. Auch der Körper der Frau wird mit Natur und Land gleichgesetzt. Sie sind keine Besitzerinnen, weil sie selbst als Besitz gelten.

Die Parallele zwischen Land/Territorium und (FLINTA*-)Körper haben indigene Feminist:innen in Lateinamerika als Körper-Territorium herausgearbeitet. Der eigene Körper wird als Territorium erlebt und umgekehrt. Auf ihm artikulieren sich Herrschaftsverhältnisse, sei es Patriarchat, Kapitalismus oder Kolonialismus. Auch die Ausbeutung des Territoriums hängt mit der Unterwerfung und Gewalt an Frauen zusammen (Gago 2021, S. 105; Borzacchiello 2019).

„Ein Bergbauprojekt nimmt nicht nur das Wasser zum Trinken oder Bewässern der Pflanzen. Es macht krank, weil es das Wasser verseucht und die Luft verschmutzt. Die vielen männlichen Arbeiter fördern Prostitution. Die Perspektive des territorialen Körpers stellt eine direkte Verbindung her zwischen der Weise, wie Frauen leben, ihren Körpern und der Umgebung, die sie bewohnen,“ erklärt Ingrid Paola Romero Niño. [2]

Den Frauen ihr Land

Auch in Europa kennen wir patriarchale Normen in der Landwirtschaft, heißt es doch bspw. in Österreich weiterhin: „Willst du Bäuerin werden, heirate einen Bauern!“ (Fehlinger 2013). Die Frage danach, wer Zugang zu Land hat, wer es besitzen, aber auch nutzen darf, ist eine Frage nach Machtverhältnissen. Man könnte am Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (und jeden Tag) für Kleinbäuerinnen ein „Feld für sich allein“ fordern – äquivalent zur Forderung von Viriginia Woolf nach einem „Zimmer für sich allein“. Doch es geht hier nicht um das individuelle Begehren, sich von allem (auch der Reproduktionsarbeit) zurückziehen zu können, um sich selbst (literarisch) zu verwirklichen. Ein eigenes Feld, das ohne individuelle Landtitel, aber mit starken Nutzungsrechten selbstbestimmt von einer Frau bewirtschaftet wird, ermöglicht ihr nicht nur, die eigene, sondern die Lebensgrundlage ihrer ganzen Familie zu sichern und letztlich möglichst gewaltfrei zu leben.

 

[1] Da es nur wenig gegenderte Daten zu diesem Thema gibt und diese nur die binären Geschlechter weiblich und männlich erfassen, schreibe ich von Frauen, wohl wissend, dass viele der aufgeführten Gewaltverhältnisse auch Lesben, inter-, nicht-binäre und trans Personen betreffen.

[2] Die aufgeführten Zitate sind Auszüge aus Interviews von mir mit den angegebenen Personen.

Literatur

Baruah, Bipasha (2010). Women and Property in Urban India. Vancouver: UBC Press.

Bellows, Anne C. & Lenderedjian, Anna (2016). Violence and Women's Participation in the Right to Adequate Food and Nutrition. In Anne C. Bellows, Flavio L.S. Valente, Stefanie Lemke & María Daniela Núñez Burbano de Lara (Hrsg.), Gender, Nutrition, and the Human Right to Adequate Food. Toward an Inclusive Framework (S. 108–161). New York: Routledge.

Borzacchiello, Emanuela (2019). Unsere Körper sind unsere Territorien. Rosa Luxemburg Stiftung. Zugriff am 16.11.2023 unter https://www.rosalux.de/publikation/id/40077/unsere-koerper-sind-unsere-territorien.

Doss, Cheryl; Meinzen-Dick, Ruth; Quisumbing, Agnes & Theis, Sophie (2018). Women in agriculture: Four myths. Global Food Security (16), 69–74. https://doi.org/10.1016/j.gfs.2017.10.001

Fehlinger, Julianna (2013). Ich möchte einen Hof bewirtschaften, ohne einen Bauern zu heiraten! ÖBV-Via Campesina. Zugriff am 16.11.2023 unter https://www.viacampesina.at/ich-moechte-einen-hof-bewirtschaften-ohne-einen-bauern-zu-heiraten/.

FIAN Deutschland (2012). Ackerland in Frauenhand. Zugang zu Land aus einer Genderperspektive. Fact Sheet 2012/1. Zugriff am 16.11.2023 unter https://www.fian.de/wp-content/uploads/2021/06/2012-1_Factsheet_Gender_Land.pdf.

Gago, Verónica (2021). Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern. Münster: Unrast.

Kendall, Mikki (2020). Hood Feminism: notes from the women white feminists forgot. London: Bloomsbury.

Lemke, Stefanie (2022). Frauen und Landrechte: Gesetze sind gut – Zugang zu Gemeindeland noch besser. Welternährung, 12/2022. Zugriff am 16.11.2023 unter https://www.welthungerhilfe.de/welternaehrung/rubriken/wirtschaft-menschenrechte/frauen-und-land-rechte-in-der-gemeinde-staerken.

Redecker, Eva von (2018). Eigentum und Männlichkeit ­– Teil 4. Humboldt-Universität zu Berlin. Zugriff am 16.11.2023 unter https://www.youtube.com/watch?v=zgin_JHcHY4.

SOFA Team & Doss, Cheryl (2011). The role of women in agriculture. ESA Working Paper No. 11-02, March 2011. Zugriff am 16.11.2023 unter https://www.fao.org/3/am307e/am307e00.pdf.

Segato, Rita (2021). Wider die Grausamkeit. Für einen feministischen und dekolonialen Weg. Wien, Berlin: Mandelbaum.

Zitation: Andreea Zelinka: Ein Feld für sich allein. Geschlechtsspezifische Gewalt beseitigen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 21.11.2023, www.gender-blog.de/beitrag/geschlechtsspezifische-gewalt-beseitigen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231121

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Andreea Zelinka

Andreea Zelinka hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Kultur- und Sozialanthropologie in Wien und Barcelona studiert. Sie ist Redakteurin bei der frauen*solidarität, Radioredakteurin bei den Women on Air bei Radio Orange 94.0. Darüber hinaus arbeitet sie in der Öffentlichkeitsarbeit für die österreichweiten Filmtage "Recht auf Nahrung - Hunger.Macht.Profite" und schreibt Lyrik, u.a. für Literarische Diverse und COPE Magazin.

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