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Debatte

herrschaftsfrei? Mit Maria Mies weiterdenken

06. Februar 2024 Uta von Winterfeld

Die Verhältnisse haben sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht zum Besseren gewendet, vielmehr sind sie dazu angetan, dass auch der Wissenschaft wie der Politik angesichts der vielen Krisen Hören und Sehen vergehen. So aber kann Zukunft weder gut gedacht noch nachhaltig gestaltet werden. Mit Maria Mies analytisch und visionär weiterdenken heißt dagegen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken und das Handeln nicht den Sachzwängen zu unterwerfen.

Den Herrschaftsdschungel durchdringen

Herrschaft ist nicht einfach zu begreifen. Sie verbirgt sich in abstrakten und heute digital verstärkten Niemandsverhältnissen (Narr 2015). Sie erscheint als Retterin, wenn die ökologische Krise mittels noch mehr und besserer Naturbeherrschung überwunden werden soll. Sie wirkt vermeintlich oder vordergründig emanzipativ, wenn es um die Befreiung aus der Naturnotwendigkeit bzw. der Abhängigkeit von der Natur geht.

In der Morgendämmerung der Moderne sind Konturen von Herrschaft offensichtlicher. So hat der Naturbeherrschungsphilosoph Francis Bacon ein Wachstums- und Fortschrittsversprechen formuliert, dass sich auf die Formel ‚Wohlstand durch Naturbeherrschung‘ bringen lässt (Bacon 1990 [1620]). Er konzipierte eine ‚tätige Wissenschaft‘, die mittels der ‚mechanischen Künste‘ die durch den Fluch Gottes widerspenstig gemachte Natur den menschlichen Anliegen unterwirft. Zugleich ist es eine männlich konzipierte, virile Wissenschaft. Es sind Helden und Supermänner, die die neue Zeit hervorbringen. Solcherart patriarchale Herrschaftsphantasien zeigen sich am unverhülltesten im Textfragment ,Die männliche Geburt der Zeit'.  

Maria Mies wirft gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen die Frage auf, weshalb denn die prophezeiten paradiesischen Verhältnisse nicht eingetreten sind, sondern vielmehr der Kapitalismus des späten 20. Jahrhunderts weiterhin Gewalt und Unterdrückung hervorruft und braucht.

Das Unterdrückte und Abgespaltene sichtbar machen

Mit Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomsen arbeitet sie die Voraussetzungen und Schatten des „Normalarbeitsverhältnisses“ heraus (auch Bielefelder Ansatz genannt, siehe Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1988). Bevor sich Kapital und Lohnarbeit als Widerspruch gegenübertreten, hat der Kapitalismus die Sichtbarkeit der Hausarbeit der Frauen und die Subsistenzarbeit der Kleinbäuer*innen zum Verschwinden gebracht. Sie erscheinen nicht als Objekte patriarchaler Herrschaft und auch nicht als Arbeit, sorgen aber in deren Schatten dafür, dass normale Erwerbsarbeit überhaupt möglich ist. All dies spielt sich eben nicht draußen und in vorkapitalistischen, traditionellen oder rückständigen Verhältnissen ab. Vielmehr braucht kapitalistische Wertbildung die Ausbeutung von Frauen, anderen Völkern und Natur. Den Knotenpunkt dieser drei „Kolonien“ bildet eine herrschaftsakrobatisch erzeugte Niemandslandschaft. In und mit Natur lebende und arbeitende Menschen werden naturalisiert. Damit muss ihre Ausbeutung nicht legitimiert werden, denn sie sind gesellschaftsfern und eigentlich gar nicht da.

Mit Maria Mies weiterzudenken bedeutet, herrschaftssensibel auf das Unterdrückte, Abgespaltene und zum Verschwinden gebrachte „Andere“ zu blicken. Und aus dieser Perspektive heraus die ins Nirgendwo bannenden Herrschaftsmechanismen und -praktiken kritisch zu analysieren.

Sich vom Emanzipationsdilemma befreien

Aus der Herrschaftskritik von Maria Mies folgt eine Freiheitsvorstellung, die in dem ‚klassischen‘ Sinn von Frauenemanzipation mittels Gleichstellung nicht aufgeht.

Das Emanzipationsdilemma liegt vor allem darin, dass Emanzipation von Natur zu deren Beherrschung – und Emanzipation von patriarchaler Unterdrückung zur Unterdrückung Anderer führt. Vorstellungen einer Emanzipation der Menschen von ihrem Ausgeliefertsein an Natur haben eine lange Geschichte. Schon die Antigone (Sophokles 1957 [442 v. Chr.]) handelt auch von prekärer und von Geschlechterkonflikten durchzogener Beherrschung der Natur. Daher bleibt zu fragen: Wie kann eine Emanzipation gelingen, die Herrschaft über das Andere der Natur und über andere Menschen nicht braucht (Winterfeld 2020)?

Auch Maria Mies kritisiert die Bindung von Emanzipation an Naturbeherrschung. Gemeinsam mit Vandana Shiva entwickelt sie die Perspektive des „Ökofeminismus“ und denkt über die Befreiung von Frauen, Natur und unterdrückten Völkern nach. Beide stellen Befreiung und Emanzipation als gegensätzlich dar und einander gegenüber:

„Das bedeutet die Ablehnung der Vorstellung, dass die Freiheit und das Glück der Menschen von einem fortwährenden Emanzipationsprozess von der Natur abhängen und auf der Unabhängigkeit von natürlichen Prozessen und ihrer Beherrschung durch Rationalität und Verstand beruhen.“ (Mies, Shiva 2016 [1995], S. 16)

Befreiung mit Maria Mies und Vandana Shiva anders zu denken, bedeutet zum einen, den Widerstand gegen die Ausbeutung und Zerstörung von Natur zu unterstützen. Zum anderen sind mit dieser Freiheitsvorstellung auch Rechte verbunden: Ein Recht auf Zugang zu Wasser und Land sowie darauf, die eigenen Lebensmittel herzustellen und den eigenen Lebensunterhalt in und mit Natur arbeitend zu erwirtschaften – also ein Recht auf Subsistenz. Maria Mies hat dem Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften in seiner Gründungsphase angehört. Als drittes Handlungsprinzip vorsorgenden Wirtschaftens formuliert das Netzwerk die „Orientierung am für das gute Leben Notwendigen“. Dieses Handlungsprinzip wie auch der Subsistenzansatz ruhen auf der Prämisse, dass bei der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft vom Elementaren auszugehen ist.

Gemeinsam herrschaftsarm ist auch nicht so einfach

Ökofeministische Ansätze sind vor allem deshalb kritisiert worden, weil sie die Naturnähe von Frauen behaupten – und Frauen als bessere Menschen hinstellen würden. Das ist nachvollziehbar, trifft aber mein eigenes Unbehagen eher nicht. Denn ich habe die Zeiten der konstruktivistischen Hegemonie auch so erlebt, dass nur das Wort „Essentialismus“ fallen musste – und schon war eine Position diskreditiert. Auch das ist herrschaftlich.

Mein Unbehagen bezieht sich eher darauf, dass mir Bielefelder und ökofeministische Ansätze zu selbstgewiss vorkommen. Gerade so, als würden Herrschaft und Unterdrückung nur von den Anderen ausgeübt. Herrschaft aber gründet eben auch in uns selber (Narr 2015), deshalb ist ihr so schwer beizukommen. Da hilft wenig, wenn unser kritisches Vermögen bei den eigenen dunklen Seiten blindfleckig wird.

Daher ist es nicht einfach, von der Herrschaftskritik zum Zusammenhandeln zu kommen. Manchmal hilft Ironie, wie sie in Berlin Kreuzberg einst auf die Mauer geschrieben wurde: „Gemeinsam sind wir unausstehlich“. Manchmal hilft die Erinnerung an den eigenen Anspruch: Das Andere und die Anderen wahrzunehmen und anzuerkennen – als Anderes, das von sich aus ist. Und schließlich hilft das, was auch Maria Mies und andere als veränderte Wissenschaft angestrebt haben: Die Überwindung der herrschaftlichen Anordnung von Forschungssubjekt und Forschungsobjekt in der Wissenschaft. Theodor W. Adorno zufolge führt diese herrschaftliche Trennung dazu, dass das forschende Subjekt blind für und taub gegenüber seinem zu beforschenden Objekt wird. Damit die Geschichte anders erzählt werden kann, bedarf es der Fähigkeit, sich dem Objekt zuzuneigen und seine Stimme zu hören (Adorno 1997 [1966], S. 24, 36 u. 56).

Was für ein (transdisziplinäres) Abenteuer, wenn der „Forschungsgegenstand“ selbst zu sprechen beginnt, weil endlich jemand zuhört.

Weiter denken und handeln

Die Verhältnisse – sie sind nicht so, sagt Bertolt Brecht. Deshalb ist es so wichtig, (gemeinsam) zu handeln, sagt Maria Mies. Die Verhältnisse sind sozusagen (be)handlungsbedürftig. Und es zeigt sich ein Hoffnungsschimmer da, wo viele Menschen an vielen Orten über die sie umgebenden Verhältnisse und Bedingungen hinaus handeln. Sei es in der ökologischen Landwirtschaft, im naturnahen Waldbau oder im Erdenken kleiner Wärmenetze, die Natur in ihrer Regenerationsfähigkeit unterstützen.

Andrea Baier und Adelheid Biesecker haben mir beim Schreiben Gesellschaft geleistet und mich mit wertvollen Anregungen und Hinweisen unterstützt. Danke.

Literatur

Adorno, Theodor W. 1997 [1966]: Negative Dialektik, Gesammelte Schriften 6, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 7-408.

Bacon, Francis 1990 [1620]: Neues Organon. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Krohn. Hamburg: Felix Meiner Verlag.

Mies, Maria; Shiva, Vandana 2016 [1995]: Ökofeminismus. Die Befreiung der Frauen, der Natur und unterdrückter Völker. Eine neue Welt wird geboren. Komplett überarbeitete und aktualisierte Neuauflage. Neu Ulm: AG SPAK.

Narr, Wolf-Dieter 2015: Niemands-Herrschaft. Einführung in Schwierigkeiten, Herrschaft zu begreifen. Herausgegeben von Uta v. Winterfeld, Hamburg: VSA.

Sophokles 1957: Antigone. In: Die Tragödien. Aus dem Griechischen übersetzt und eingeleitet von Heinrich Weinstock. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, S. 253-313.

Werlhof, Claudia von; Mies, Maria & Bennholdt-Thomsen, Veronika 1988: Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Winterfeld, Uta von 2020: Vom Emanzipationsdilemma – Nachdenken mit und über Friedrich Engels. In: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft (spw), 5. Jg., S. 72-76.

Zitation: Uta von Winterfeld: herrschaftsfrei? Mit Maria Mies weiterdenken, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 06.02.2024, www.gender-blog.de/beitrag/herschaftsfrei-maria-mies/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240206

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Dr. habil. Uta von Winterfeld

Uta von Winterfeld ist Projektleiterin in der Abteilung Zukünftige Energie- und Mobilitätsstrukturen am Wuppertal Institut. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Naturbeherrschung und gesellschaftliche Naturverhältnisse, Nachhaltigkeit und Gender, Partizipation, Governance und Demokratie.

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