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Forschung

Heteronormativität herausfordern: Polyamorie als transformatives Konzept?

13. Juni 2023 Aileen Bierbaum

Seit Anfang der 2000er-Jahre hat in Deutschland eine Transformation hin zu einer diverseren und offeneren Gesellschaft stattgefunden. So wurden Gesetze zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare und deren Familien verabschiedet oder trans* und inter* Personen gesetzlich mehr und besser berücksichtigt. Dennoch werden von der Norm abweichende Lebensstile und Arten des Zusammenlebens meist von Politik, Medien und in gesellschaftspolitischen Diskursen als Besonderheit dargestellt (vgl. Ossmann 2017). So richtet sich in den Medien ein oft irritierter Blick auf nichtmonogame, vor allem polyamoröse Lebensweisen. Das wirft die Frage auf, wie sich Menschen fühlen, die entgegen der überwiegend heteronormativen und monogam ausgerichteten Gesellschaft, zum Beispiel polyamor, leben.

Eine transformative Kraft?

In meiner kürzlich begonnenen Dissertation setze ich mich empirisch mit der Selbstwahrnehmung und Lebensrealität polyamor lebender Menschen in einer heteronormativ monogam orientierten Gesellschaft auseinander. „Polyamorie“ als Neologismus setzt sich zusammen aus dem griechischen ‚polys‘ für ‚viele‘ und dem lateinischen ‚amor‘ für ‚Liebe‘ (Baumgartner 2020: 194). Polyamorie ist ein Beziehungskonzept, bei welchem Menschen Liebesbeziehungen zu mehr als einer Person führen. Voraussetzung hierfür ist, dass alle Beteiligten über den nichtmonogamen Lebensstil Bescheid wissen und diesen befürworten (vgl. Klesse 2007: 316).
Mich beschäftigt insbesondere die Frage, ob konsensuelle Nichtmonogamie als Lebens- und Liebeskonzept eine Transformation in der Gesellschaft anstoßen könnte, indem sie beispielsweise Care-Arbeit in Familienkontexten vereinfacht. Dazu aber müsste das Prinzip heteronormativer Lebensweisen aufgebrochen werden – eine große Herausforderung.

Heteronormativität als Ordnungsprinzip

Die Heteronormativität kann als gesellschaftliches Ordnungsprinzip gelten, das Sexualität und Geschlecht kategorisiert und begrenzt, ein hierarchisches Verhältnis zwischen ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ schafft und ein auf das jeweilige Gegengeschlecht ausgerichtetes Begehren vorschreibt (vgl. Dreier/Kugler/Nordt 2012: 5). Dabei werden ein binäres Geschlechtersystem, Heterosexualität, Monogamie und die Kohärenz von sex, gender und Begehren als „natürliche Gegebenheit“ (Dreier/Kugler/Nordt 2012: 5) postuliert, wodurch Personen aus- und abgegrenzt werden, die aufgrund sexueller oder geschlechtlicher Identität nicht dieser Norm entsprechen (vgl. Klapeer 2015: 25).
Heteronormativität wird in westlichen Gesellschaften weniger dadurch definiert, dass das Nichtnormale ausgeschlossen wird, sondern viel mehr über „normalisierende Einschlüsse“ (Engel 2003: 235) des ‚Anderen‘. Dies wird vor allem dadurch sichtbar, dass beispielsweise Verbote und Repression gegen gleichgeschlechtliche Lebensweisen an Bedeutung verloren haben, die Heterosexualität aber weiterhin als ‚Norm‘ oder das ‚Normale‘ gesehen und als dieses auch reguliert wird (vgl. Haberler et al. 2012: 17). Diese Tatsache wird selbst normalisiert, indem alles, was nicht dieser Norm entspricht, genau dazu beiträgt, Heteronormativität erst zu definieren.

Die Intervention der Queer-Theories

Bereits Michel Foucault ging davon aus, dass Sexualität im Allgemeinen kein ‚natürlicher Trieb‘, sondern ein kulturelles Konstrukt sei und eine ‚naturgegebene‘ heterosexuelle Sexualität und Identität die Konstruktion abweichender Sexualitäten voraussetzt (Foucault 1983: 16). Er machte damit deutlich, dass die westliche Gesellschaft Heteronormativität als normalisierende Konstruktion aufrechterhält.
Verschiedene queertheoretische Ansätze der vergangenen Jahrzehnte haben aufgezeigt, dass Sexualität, Identität und die Vorstellungen darüber, wie Subjekte sein ‚sollen‘, eine soziale Konstruktion sind (vgl. Perko/Czollek 2022: 22). Die Aufgabe queertheoretischer Ansätze ist nach Gudrun Perko (2005) einerseits, auf die Transformation von normalisierten und heteronormativen Sexualitäts-, Begehrens- und Körpervorstellungen hinzuwirken und andererseits, die gesellschaftliche Wirklichkeit über Normierungen kritisch in den Blick nehmen (vgl. Haberler et al. 2012: 15).

So liegt Judith Butlers Werk Das Unbehagen der Geschlechter und seinem dekonstruktivistischen Ansatz letztlich eine Normativitätskritik zugrunde: Die in unserer Gesellschaft als ‚normal‘ bezeichneten Verhaltensweisen sollen kritisch hinterfragt, die normative Begrenzung bewusst gemacht und im besten Fall überschritten werden (vgl. Bierbaum 2020: 13). Butler zeigt, dass vergeschlechtlichte Subjekte über Handlungen konstruiert werden, oder einfacher gesagt: „Geschlechter sind Ergebnisse von Identitätsdiskursen“ (Butler 1991: 110). Die sogenannte Norm ist keine Regel oder festgelegtes Gesetz, sondern ein normalisierender Effekt sozialer Praktiken (vgl. Butler 2009: 84). Heterosexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität sind Produkte sozialer Normen; sie sind „eine Form sozialer Macht, die das intelligible Feld der Subjekte hervorbringt, und ein Apparat, durch den die Geschlechterbinarität eingerichtet wird“ (Butler 2009: 84).

Grenzverschiebung durch Transformation

Die Grenze zwischen der Norm und den Abweichungen davon ändert sich fortlaufend durch gesellschaftliche Transformationsprozesse, die durch Kritik oder Proteste von verschiedenen sozialen Bewegungen ausgelöst werden können. Umso mehr muss verwundern, dass Monogamie auch in der Wissenschaft gewöhnlich als Norm betrachtet wird (Baumgartner 2020: 200). In der Familiensoziologie werden beispielsweise nach wie vor „heterosexuelle, weiße, monogame Paarbeziehungen als Referenzpunkt und Norm gesetzt“ (Bauer 2014: 149). Alles, was sich davon unterscheidet, wird als Abweichung gewertet und seltener als Gegenstand von Forschung betrachtet (Baumgartner 2020: 198).

Dies möchte ich mit meiner Dissertation ändern, indem ich polyamor lebenden Menschen in Form von Interviews zuhöre und mit ihnen spreche, anstatt nur über sie zu sprechen. Aus ersten Interviews konnte ich bereits Erkenntnisse sammeln: Rechtliche Aspekte, Wohnraum oder Care-Arbeit zeichnen sich als herausfordernde Alltagsbereiche ab für Menschen, welche entgegen der heteronormativ monogamen Gesellschaft leben. Dies wirft wiederum die Frage auf, wie können, sollten und müssen Grenzen verschoben oder erweitert werden, damit sich Menschen nicht mehr „anders“, sondern genauso als Teil der Gesellschaft fühlen, ohne Angst haben zu müssen, beäugt, hinterfragt, ausgeschlossen, diskriminiert oder gar attackiert zu werden?
Ziel meiner Dissertation ist es, Ansätze für eine Transformation von Heteronormativität zu finden und einen Weg dorthin aufzuzeigen. Dazu möchte ich zunächst die Chancen und Herausforderungen bei der Verschiebung heteronormativer Grenzen, vor allem im Hinblick auf Polyamorie, auf individueller, struktureller und (gesellschafts)politischer Ebene herausarbeiten. Daran anschließend soll es auch darum gehen, welchen Einfluss die Verschiebung dieser Grenzen auf Individuen und gesellschaftliche Systeme hat.

Literatur

Bauer, Robin (2014): MonoPoly: Monogamie-Norm und Polyamorie auf dem Spielfeld von Besitzansprüchen, Treue und Bekanntgehen. In: Nagelschmidt, Ilse/Borrego, Britta/Beyer, Uta (Hrsg.): Interdisziplinäres Kolloquium zur Geschlechterforschung II. Frankfurt/Main: Academic Research, S. 145–168.

Baumgartner, Renate (2020): ‚Viele Lieben‘ – Polyamorie als Identität und Praxis. In: Timmermanns, Stefan/Böhm, Maika (Hrsg.): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 194–210.

Bierbaum, Aileen (2020): „Das fehlt mir noch…“. Quantitative Erhebung zur Ermittlung des Handlungsbedarfs bei pädagogischen Fachkräften im Stadtgebiet München in Bezug auf LGBTQI*-Themen. München: Katholische Stiftungshochschule (unveröff. Masterarbeit).

Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Butler, Judith (2009): Gender-Regulierungen. In: Butler, Judith (Hrsg.): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 71–96.

Dreier, Katrin/Kugler, Thomas/Nordt, Stephanie (2012): Glossar zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Kontext von Antidiskriminierung und Pädagogik. Online abrufbar unter https://www.genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/_content/pdf/Glossar-von-Queeformat_Queerhistorymonth.pdf [Stand 17.06.2022].

Engel, Antke (2003): Wie regiert die Sexualität? Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität im Kontext queer/feministischer Theoriebildung. In: Guttiérez Rodríguez, Encarnación /Pieper, Marianne (Hrsg.): Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault. Frankfurt/Main: Campus, S. 224–239.

Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Haberler, Helga/Hajek, Katharina/Ludwig, Gundula/Paloni, Sara (2012): Que[e]r zum Staat. Heteronormativitätskritische Perspektiven auf Staat, Macht und Gesellschaft. Berlin: Querverlag GmbH.

Klapeer, Christine (2015): Vielfalt ist nicht genug! In: Schmidt, Friederike/Schondelmayer, Anne-Christin/Schröder, Ute (Hrsg.): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02252-5_2

Klesse, Christian (2007): Polyamory – von dem Versprechen, viele zu lieben. Zeitschrift für Sexualforschung, 20(4), 316–330. https://doi.org/10.1055/s-2007-981350

Ossmann, Stefan F. (2017): Zur medialen Repräsentation polyamoröser Beziehungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In: Nieradzik, Lukasz (Hrsg.): „Kinship Trouble“. Dimensionen des Verwandtschaftmachens in Geschichte und Gegenwart. Wien: Verlag des Instituts für Europäische Ethnologie, S. 49–84.

Perko, Gudrun (2005): Queer-Theorien. Ethische, politische und logische Dimensionen plural-queeren Denkens. Köln: PapyRossa Hochschulschriften.

Perko, Gudrun/Czollek, Leah C. (2022): Lehrbuch Gender, Queer und Diversity. Grundlagen, Methoden und Praxisfelder, 2. überarb. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Zitation: Aileen Bierbaum: Heteronormativität herausfordern: Polyamorie als transformatives Konzept?, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 13.06.2023, www.gender-blog.de/beitrag/heteronormativitaet-herausfordern-polyamorie/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230613

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Aileen Bierbaum

Aileen Bierbaum ist Sozialpädagogin, arbeitet als Lehrbeauftragte an der Katholischen Stiftungshochschule München im Bereich der Gender Studies und promoviert derzeit in Soziologie im Rahmen eines Promotionskollegs zum Thema „Polyamorie und Transformation der Heteronormativität“.

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