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Debatte

Mangelernährung als strukturelle Gewalt: Frauen* und Mythen zu Nahrungsanreicherung

12. Dezember 2023 Christine Löw

Globale Hungerkrisen und gestiegene Nahrungsmittelpreise sind aktuell in deutschsprachigen feministischen Debatten kaum ein Thema. Dies ist überraschend, da Fragen zu Ernährungsgerechtigkeit und Ernährungsdemokratie unmittelbar mit Klimawandel, sozial-ökologischer Transformation und intersektional-geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in Verbindung stehen – und von drängender politischer Bedeutung sind. Das an Profit- und Konzerninteressen ausgerichtete globalisierte Ernährungsregime ist nicht nur durch neokoloniale Machtverhältnisse in Produktion von und Zugang zu ausreichendem gesundem Essen strukturiert, sondern auch durch mehrdimensionale Gender-Ungleichheiten (Zentgraf 2023). Zudem hat sich in den letzten Jahren eine entpolitisierte Debatte um Hunger etabliert, in der einflussreiche Akteure (z. B. Gates-Stiftung, transnationale Life-Science-Unternehmen) auf schnelle ‚Techno-Fix-Lösungen‘ drängen, ohne die tiefer liegenden politischen und sozio-ökonomischen Gründe zu benennen. Im Folgenden wird am Beispiel von Indien deutlich gemacht, wie diese verschiedenen Bereiche zusammenhängen.

Strukturelle Ursachen von Ernährungsunsicherheit

Momentan wird in der EU diskutiert, ob existierende Regelungen zu gentechnischen Verfahren in der Landwirtschaft gelockert werden sollen. Einige Wissenschaftler:innen (u. a. Christiane Nüsslein-Volhard, Matin Quaim) fordern, die Vorbehalte gegenüber gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln angesichts des Klimawandels und zugunsten einer Sicherung der Welternährung bis 2050 aufzugeben (Reimer 2023; kritisch dazu Then et al. 2021). Solche Forderungen blenden aus, dass Hungersnöte Menschen nicht aus heiterem Himmel treffen, sondern auf strukturellen Ursachen für Armut, Unterdrückung, Ausbeutung von bestimmten Gruppen basieren: Ungleiche Verteilung von Macht, Rechten, Eigentum, Finanzen und Ressourcen führen zu Nahrungsmangel, geringen Bildungschancen, unzureichender Gesundheitsversorgung, eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten, niedrigen Einkünften etc. Geschlechterverhältnisse allein sind für Armut, Eisenmangel und Exklusion nicht relevant; vielmehr sind sie verflochten mit Diskriminierungen von Gruppen entlang Kaste, Religion, Klasse und Ethnie bzw. Indigenität. In Indien sind es v. a. Frauen* aus benachteiligten Gruppen, wie Dalits (Kastenlose), Adivasi (Indigene) und landlose Frauen*, die als Nahrungserzeugerinnen von Anämie, Untergewicht und Ernährungsunsicherheit betroffen sind (Rao/Pradhan/Roy 2017). Auch die Enteignungen gemeinschaftlicher Ressourcen, die Aushöhlung lokaler Wissenssysteme und die Verminderung biologischer Vielfalt vergrößern die intersektional-geschlechtsspezifischen Ungleichheiten. Die dramatisch schlechte Ernährungs- und Gesundheitssituation von mehrfach unterdrückten Frauen* in Indien muss deshalb als eine Form „struktureller Gewalt“ (Rao 2020) begriffen werden.

Die Vorherrschaft des Nutrionismus

In Debatten zum Recht auf Nahrung lässt sich gegenwärtig ein neuer Fokus auf (Mikro-)Nährstoffe erkennen, der sog. Nutrionismus (Scrinis 2008). Dadurch wird Hunger individualisiert und als persönliches Nährwertproblem betrachtet, losgelöst von komplexen gesellschaftlichen Gründen. Ebenso werden Mangelerscheinungen hauptsächlich als technische Frage verstanden, die durch Technologien zu lösen ist. Obwohl vorgeblich genderneutral, ist Nutrionismus ohne intersektional-ungleiche Geschlechterverhältnisse nicht denk- und umsetzbar: Im Kampf gegen Vitamin- und Mineralienmangel stehen v. a. Frauen* im globalen Süden in ihren ‚reproduktiven Funktionen‘ im Mittelpunkt. Sie werden biopolitisch angehalten, durch angereicherte Babynahrung Ernährung und Gesundheit ihrer Säuglinge nach der Geburt zu verbessern, während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Stillen mit Muttermilch für die ersten sechs Monate empfiehlt (Kimura 2013). Auch die 2021 von der Modi-Regierung gestartete Reisanreicherung mit Nährstoffen zielt v. a. auf die Behandlung von Blutarmut bei Frauen*. Aktuelle Studien für 2019–21 demonstrieren eine hohe Prävalenz von Anämie bei Frauen* benachteiligter Gruppen (Sharif/Das/Alam 2023). Auch hier wird Fortifikation als kosteneffiziente Lösung genutzt, ohne tieferliegende Ursachen von Eisenmangel aufgrund von Unterdrückung, Ausbeutung sowie Herrschaft des brahmanischem Patriarchats und neoliberalen Kapitalismus zu berücksichtigen (Ramdas 2021: 280).

Kontrolle an gemeinschaftlichen Existenzgrundlagen zurückgewinnen, das kapitalistische brahmanische Patriarchat bekämpfen

Vor diesem Hintergrund hat sich 2009 das sozial-ökologische Netzwerk Food Sovereignty Alliance India (FSA) in Südindien organisiert, um den Enteignungen von Wald, Land, Wasser, biologischer Vielfalt und eigenem Wissen entgegenzutreten (FSA 2014). FSA fordert öffentliche Investitionen der Regierung, um traditionelle Ernährungsweisen und Nahrungssysteme zu erhalten und das systematische Wissen von Kleinbäuerinnen über Nahrung, Ernährungswerte sowie Landwirtschaft sichtbar zu machen, aufzuwerten und institutionell zu fördern (FSA 2018: 39). Die Kleinbäuer:innen aus Dalit-, Adivasi- und muslimischen Communities verlangen, kommunale Kontrolle über Nahrungs- und Landwirtschaftssysteme zurückzugewinnen, indem Ernährungssouveränität durch lokale Institutionen Hand in Hand mit der Bekämpfung patriarchaler Strukturen einhergeht: Die Verteidigung der Rechte auf natürliche Ressourcen ist nur durch eine Bewegung möglich, in der Frauen* die Führung innehaben (Löw 2023a). Die zentrale Botschaft von FSA lautet, dass das industrielle Nahrungs- und Landwirtschaftssystem Leben, Existenzgrundlagen sowie die Umwelt weltweit dezimiere, Hunger, Armut und soziale Ungleichheit vertiefe und ein Treiber der Energie- und Klimakrise sei (FSA 2014).

Frauen* im Kampf für Ernährungssouveränität und gegen ‚goldenen‘ Reis

Um die Qualität ihrer Existenzgrundlagen eigenständig zu untersuchen, wurden sechs Dörfer mit ca. 1.735 Haushalten verschiedener Adivasi- und Dalitgruppierungen, Klein- und Marginalbäuer:innen sowie Agro-Hirt:innen in agrar-ökologisch verschiedenen Regionen innerhalb des Netzwerks ausgewählt. Es zeigte sich, dass diverse und nährstoffreiche Nahrungssysteme in allen bei FSA organisierten Gemeinschaften vorhanden sind. Analysen zu Ernährungswerten verdeutlichten, dass lokale Nahrungsgrundlagen Mangelernährung entgegenwirken und vor allem Vitamin-A-Mangel verhindern können (FSA 2018). Zudem bewahren die Beteiligten reiches Wissen über resiliente Ernährungssysteme (Herstellung, Aufbewahrung, nährstoffbezogene und medizinische Eigenschaften), das auf gelebten Erfahrungen basiert.

Daten zum Vorkommen von Beta-Carotin – eine Vorstufe von Vitamin A – sind wichtig, um die Versprechen grüner Gentechnik zu entmythologisieren. Während die letzte Version des synthetisch hergestellten Goldenen Reises (GR2E) über 126 Milligramm Beta-Carotin pro 100 g Reis enthielt, offenbaren Ergebnisse der FSA-Studie, dass der Vitamin-A-Gehalt (Karotinoide) vor Ort erhältlicher Nahrungsmittel wie Spinat (5.824 mg/100 g essbare Portion), grüner Amaranth (21.449 mg/100 g) oder Koriander (13.808 mg/100 g) wesentlich höher ist (FSA 2018: 48ff.). Die wissenschaftlichen Resultate dienen FSA auch als Grundlage, um sich der Implementation großer Regierungsprogramme zur flächendeckenden Anreicherung von Reis mit Eisen, Folsäure und Vitamin-A zu widersetzen, die 800 Millionen Inder:innen ungefragt top down erreichen sollen (Wienold 2023).

Gerade für mehrfach benachteiligte Frauen* kann das obligatorische Essen von fortifiziertem Reis kombiniert mit wöchentlichen zusätzlichen Eisengaben in der National Iron Plus Initiative gegen Anämie zu Bluthochdruck, Diabetes, Vergiftungen führen (ASHA-Kisan Swaraj/ASHA 2023; Kurpad/Muralidharan 2023). Forciert wurde die verpflichtende Anreicherung in Indien v. a. durch Lobby- und aggressive Öffentlichkeitsarbeit fünf transnationaler Konzerne, u. a. BASF und der holländischen DSM auf einem Markt, der mehr als 72 Millionen Euro wert ist (Jalihala 2023).

Ein Weg zu transnational-feministischem Engagement: Bildet Allianzen mit dem Ziel des guten Lebens für Alle!

Netzwerke wie FSA streben an, ländliche und intersektional unterdrückte Frauen*Gruppen in Graswurzel- und popularen Bewegungen im globalen Süden als zentrale Subjekte im Kampf für Ernährungssouveränität zu positionieren sowie politische Forderungen zu intersektional und dekolonial-feministischer Ernährungsgerechtigkeit zu schärfen (Khaled-Ibrahim 2022; Menon-Sen/Wichterich 2018). Der Einsatz transnationaler feministischer Gruppen für eine Demokratisierung von Lebensmittelerzeugung, Kommunalisierung natürlicher Ressourcen, Anerkennung kleinbäuerlichen Wissens, selbstbestimmte Entwicklung und die Durchsetzung von intersektionaler Geschlechtergerechtigkeit ist beispielhaft (Löw 2023b). Mit Blick auf die gegenwärtigen Überlebenskrisen, bietet sich für systemtransformative feministische Akteur:innen auch in Deutschland – gemeinsam mit Bewegungen für Klimagerechtigkeit und sozial-ökologischen Wandel – eine Gelegenheit, sowohl die komplexen gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Hunger (geschlechtsspezifische Armut, unfaire internationale Handels- und Entwicklungsabkommen, Intensivierung exportorientierter Landwirtschaft, land grabbing für Biodiesel) sichtbar zu machen als auch Bereiche wie Ernährung, Essen, Nahrungsmittelproduktion als zentrale feministische und politökologische Themen anzuerkennen. Es ist dringend notwendig, die globale Hungerkrise, gestiegene Nahrungsmittelpreise sowie Ernährungsfragen als ein relevantes feministisches Thema über gesellschaftliche Ungleichheiten, massive intersektionale Ungerechtigkeiten und für eine Zukunft des guten Lebens für Alle zu politisieren.

Literatur

Alliance for Sustainable & Holistic Agriculture (ASHA-Kisan Swaraj)/Right To Food Campaign (ASHA) (2023): Report of the Fact-Finding Visit to Jharkhand on Rice Fortification Visit Dates: May 8-11, 2022. Zugriff am 29.11.2023 unter http://www.kisanswaraj.in/wp-content/uploads/Fact-Finding-Khunti-Jharkhand-Iron-fortified-rice-11th-May-FINAL.pdf.

Food Sovereignty Alliance India (FSA) (2014): Who we are. Zugriff am 29.11.2023 unter https://foodsovereigntyalliance.wordpress.com/about/.

Food Sovereignty Alliance India (FSA) & Catholic Health Association of India (2018): Exploring the Potential of Diversified Traditional Food Systems to contribute to Healthy Diet. Hyderabad. Zugriff am 29.11.2023 unter https://foodsovereigntyalliance.files.wordpress.com/2018/12/Report-1.pdf.

Jalihala, Shreegireesh (2023): A Bonanza For Dutch Firm: Modi’s Decision Forcing Half of India to Eat Fortified Rice. Zugriff am 29.11.2023 unter https://www.reporters-collective.in/trc/fortification-part-3.

Khaled-Ibrahim, Radwa (2022): Hunger mit System, Medico International, 20.05.2022. Zugriff am 29.11.2023 unter https://www.medico.de/blog/hunger-mit-system-18629.

Kimura, Aya Hirata (2013): Hidden Hunger: Gender and the Politics of Smarter Foods. Ithaca, New York: Cornell UP. Zugriff am 29.11.2023 unter https://library.oapen.org/viewer/web/viewer.html?file=/bitstream/handle/20.500.12657/30793/642709.pdf?sequence=1&isAllowed=y.

Kurpad, Anura/Muralidharan, Jananee (2023): Iron fortification: health risks of excessive iron intake. 27.05.2023. The Hindu. Zugriff am 29.11.2023 unter https://www.thehindu.com/sci-tech/science/iron-fortification-health-risks-of-excessive-iron-intake/article66900357.ece.

Löw, Christine (2023a): Technologische Lösungen gegen Mangelernährung? Für eine Re-Politisierung von Hunger, Nahrungssouveränität und Geschlechterverhältnissen. GENDER, (2), 101–116. https://doi.org/10.3224/gender.v15i2.08

Löw, Christine (2023b): Wider die falschen Antworten der grünen Gentechnik. Sozial-ökologische und feministische Bewegungen im Kampf für Ernährungssouveränität. FIAN FoodFirst-Magazin, (3), 20–21.

Menon-Sen, Kalyani/Wichterich, Christa (2018): Ernährungssouveränität als feministische Strategie und Praxis. Rosa Luxemburg Stiftung. Zugriff am 29.11.2023 unter https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/das-recht-nein-zu-sagen/.

Ramdas, Sagari (2021): Towards Food Sovereignty: Dismantling the Capitalist Brahminic‑Patriarchal Food Farming Regime. Development 64, 276–281. https://doi.org/10.1057/s41301-021-00307-y

Rao, Nitya (2020): The achievement of food and nutrition security in South Asia is deeply gendered. Nature Food, 1, 206–209. https://doi.org/10.1038/s43016-020-0059-0

Rao, Nitya; Pradhan, Mamata & Roy, Devesh (2017): Gender Justice and Food Security in India: A Review. IFPRI Discussion Paper 1600. Zugriff am 29.11.2023 unter https://ebrary.ifpri.org/utils/getfile/collection/p15738coll2/id/131054/filename/131265.pdf.

Reimer, Jule (2023): Grüne Gentechnik. Was die EU-Kommission in der Landwirtschaft plant. Deutschlandfunk, 06.07.2023. Zugriff am 29.11.2023 unter https://www.deutschlandfunk.de/gruene-gentechnik-landwirtschaft-100.html.

Scrinis, Gyorgy (2008): On the Ideology of Nutritionism. Gastronomica, 8(1), 39–48. https://doi.org/10.1525/gfc.2008.8.1.39

Sharif, Noswah/Das, Bhaswati/Alam, Asraful (2023): Prevalence of anemia among reproductive women in different social group in India: Cross-sectional study using nationally representative data. PLoS ONE 18(2), e0281015. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0281015

Then, Christoph/Bauer-Panskus, Andreas/Tippe, Ruth (2021): Neue Gentechnik und Nutzpflanzen: disruptive Einflüsse von Patenten auf Pflanzenzucht, Lebensmittelproduktion und die politische Debatte. München: Testbiotech e.V. Institut für unabhängige Folgenabschätzung in der Biotechnologie. Zugriff am 29.11.2023 unter https://www.testbiotech.org/sites/default/files/Patente%20_Neue%20Gentechnik.pdf.

Wienold, Hanns (2023): Indien: Reis-Anreicherung statt ausgewogener Ernährung. FIAN FoodFirst, (3), 22.

Zentgraf, Lisa (2023): Gender. Power. Food. – Warum die Ernährungskrise eine Gender-Care-Krise ist. Politische Ökonomie, 12.03.2023. Zugriff am 29.11.2023 unter https://politischeoekonomie.com/gender-power-food-warum-die-ernaehrungskrise-eine-gender-care-krise-ist/.

Zitation: Christine Löw: Mangelernährung als strukturelle Gewalt: Frauen* und Mythen zu Nahrungsanreicherung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 12.12.2023, www.gender-blog.de/beitrag/mangelernaehrung-strukturelle-gewalt-nahrungsanreicherung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231212

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Dr. Christine Löw

Christine Löw ist assoziierte Postdoktorandin in Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt/Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Post-/Dekoloniale Feminismen; Entwicklung; Klima-, Umwelt- und Ressourcenpolitik; Neue soziale Bewegungen und globalisierte Ungleichheiten; Finanzialisierung und New Materialism sowie Kritische Gesellschaftstheorie.

Kontakt: Loew [at] em.uni-frankfurt.de

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