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Politik in der Populärkultur: Zur gender-relevanten Verhandlung von Un/Sichtbarkeit

27. Juni 2023 Sylvia Mieszkowski Sigrid Nieberle

Dass Sichtbarkeit als eine unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Anerkennungspolitik gelten muss, zählt zum kleinen Einmaleins queerfeministischer Wissenschaft. Darüber hinaus rückten erst in den letzten Jahren deren Risiken und Ambivalenzen in den Blick. Sichtbarkeit im übertragenen oder buchstäblichen Sinn kann ebenso Effekte des Unsicheren, Unwägbaren und Unverfügbaren erzeugen, wie es traditionell der Unsichtbarkeit und Intransparenz zugeschrieben wird.

Konzepte der Öffentlichkeit und das Populäre

Machtverhältnisse, Normen und Werte wie auch die Kommunikation über Un/Sichtbarkeiten werden popkulturell geprägt. Umgekehrt eröffnet die popkulturelle Ästhetik wiederum Räume für die politischen Aushandlungsprozesse. Es gilt also genauer hinzusehen und sowohl die Bedingungen als auch die Konsequenzen einer repräsentativen Un/Sichtbarkeit zu untersuchen. Mit Theorien zur Gender-Performativität (Butler), Hybridität (Bhabha) und Opazität (Glissant) wurden wichtige Impulse zu einer Diskussion soziokultureller Diversität und kritischer Anerkennungspolitiken gegeben, die vor allem der Komplexität und Dynamik postkolonialer Machtverhältnisse Rechnung zu tragen versuchen. Dabei gehen sowohl die Politik als auch das Populäre und ja, auch das Populistische, auf Konzepte der Öffentlichkeit aus der Antike zurück. Im Jahr 411 v. u. Z. wurde bei den Festspielen, die dem Gott Dionysos gewidmet waren, Aristophanes’ Komödie Lysistrata aufgeführt. Seither wurde das Stück bis in unsere Gegenwart immer wieder aktualisiert und für populäre Medien wie Operette, Film oder Comic angepasst. Das pazifistische Vorhaben der Frauen von Athen, den Peloponnesischen Krieg der Männer zu beenden, indem sie ihre sexuelle Verfügbarkeit bestreiken, lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf ihre Körper und macht sowohl die sexuelle Heteronomie, aber auch das Empowerment in der gebündelten Energie erst sichtbar:

„Ihr fürchtet euch vor uns, nicht wahr? Wir sind euch allzuviele,
Und doch ist’s kein Zehntausendstel von uns, was ihr hier sehet!“

Die repräsentative Demonstration einer Gruppe verweist immer auch auf die potenziellen Mitstreiter*innen, die sich mobilisieren ließen. Opak ist daher die Macht einer noch zu beziffernden Mehrheit.  

Ideologisch und ästhetisch wirkmächtige Codes

Somit stellt sich nicht die Frage, ob Populärkultur unter politischen Gesichtspunkten betrachtet werden kann, sondern wie. Die Film- und Medienwissenschaften konnten längst zeigen, dass die vermeintlich ‚unpolitische‘ Unterhaltungsindustrie großen Einfluss auf Einstellungen, Überzeugungen und den Wertekanon nehmen kann. Ideologisch und biopolitisch ist die Bedeutung des Revue-Films für den Nationalsozialismus oder das Filmgenre der RomCom für den turbokapitalistischen Neoliberalismus kaum zu unterschätzen. Wie die Filmindustrie produziert auch die Musikindustrie mit ihren sexistischen, rassistischen und klassistischen Verwerfungen seit jeher ideologisch und ästhetisch wirkmächtige Codes, wie die Forschung zum breiten Spektrum der popular music zwischen Schlager und Rap regelmäßig aufzeigen kann.

Ist von Politik in der Populärkultur die Rede – insbesondere im Hinblick auf den in/transparenten Politikbetrieb und die Netzwerke der Spin-Doctors und Lobbyisten –, denken manche aufgrund ihrer Mediensozialisation wohl als erstes an quality TV. Aaron Sorkins The West Wing (USA 1999–2006) gewährte nicht nur vermeintliche Einblicke in den Arbeitsalltag der Männer und Frauen, die im Weißen Haus arbeiten, sondern befriedigte in Zeiten von George W. Bushs Präsidentschaft auch Sehnsüchte nach einem gebildeten, wortgewandten Commander-in-Chief, der von einem kompetenten Team effizient darin unterstützt wird, seiner Aufgabe gerecht zu werden. „Were we ever that young?!“ können wir uns in der Ära des zweimal mit einem Amtsenthebungsverfahren konfrontierten und inzwischen 65-fach offiziell angeklagten Ex-Präsidenten Trump fragen.

Geschlechterpolitik und koloniale Machtbeziehungen

Neben den Kompetenzfantasien, die The West Wing produzierte, war auch Platz für die Aushandlung von Geschlechterpolitik auf der Mikroebene: etwa wenn C. J. Cregg, die Sprecherin des Weißen Hauses, dem ihr vorgesetzten Josh Lyman den Kopf zurechtrückt, weil er ihr mit seinem stetigen Online-Mansplaining die Arbeit erschwert; oder wenn die talentierte Ewig-Sekretärin Donna Moss – nach gefühlten 100 Bitten um ein Gespräch über ihre berufliche Zukunft, für das irgendwie nie Zeit ist – ihrem langjähren Boss den Job vor die Füße wirft und genau jenen Karrieresprung hinlegt, den er ihr nie zugetraut hatte. Narrative um Frauen in höchsten Ämtern spinnen andere Serien: Etwa Madame Secretary (USA 2014–2019), die vom Aufstieg einer CIA-Analystin zur Präsidentin erzählt; Borgen (Die Burg; DK 2010-2022) mit einem historisch gewachsenen Machtzentrum, in dem die Vorsitzende einer moderaten Minderheitenpartei wider Erwarten die erste dänische Präsidentin wird; oder Thin Ice (S/I/F 2020), eine Mini-Serie, die komplexe koloniale Beziehungen zwischen Dänemark und Grönland im Spannungsfeld von Ölgeschäft und Umweltpolitik ausleuchtet, wobei den Ministerinnen im Arktischen Rat nicht wenig Macht zugestanden wird.

Fragen der Sichtbarwerdung, Sichtbarkeit und Unsichtbarmachung

Obwohl Fernsehserien nicht die einzigen Produkte populärer Kultur sind, die den Politikbetrieb und die Geschlechterdifferenzen der Macht massentauglich kritisieren, muss nicht immer dann, wenn von ‚Politik‘ die Rede ist, auch notwendigerweise der Staatsapparat mit seinen Akteur*innen im Mittelpunkt stehen. Am Beispiel der zwei deutschen TV-Serien mit staatspolitischem Hintergrund, die in der aktuellen Ausgabe der GENDER analysiert werden – Babylon Berlin (2017) und Eldorado KaDeWe: Jetzt ist unsere Zeit (2021) –, ist gut zu erkennen, dass darüber hinaus die Analyse der Politisierung des öffentlichen Raums, seiner institutionellen und diskursiven Strukturen sowie der medialen Konstellationen, die ihn formen und (de)stabilisieren, dringend angezeigt ist.

Fragen der Sichtbarwerdung, Sichtbarkeit und Unsichtbarmachung sind jedoch in vielen weiteren soziokulturellen Kontexten virulent. Dazu zählen auch die weiteren Beitragsthemen des GENDER-Heftschwerpunkts Politik in der Populärkultur, z. B. die saisonale Mobilisierung der queer community durch die Werbeindustrie mittels entsprechender Plakate oder spezifische Zeitschriftenformate etwa für die trans* Community der Weimarer Republik. Im aktuellen Heft wird ein breiter Bogen der Medienformate und politischen Positionen gespannt: von Blogposts aus dem rechtsradikalen Spektrum, inklusive farblich abgestimmter Trad-Wife-Idylle, bis zur lesbischen stand-up comedy mit ihrer beherzten Offenlegung der politischen Seite des Allerpersönlichsten – nicht zuletzt um der Sichtbarkeit willen.

War Populärkultur jemals nicht politisch? Was ist die Pointe an einer Verbindung beider Begriffe, um über die Geschlechterverhältnisse des Un/Sichtbaren und Un/Sagbaren nachzudenken? Für den Heftschwerpunkt der aktuellen Ausgabe der GENDER (2/2023) haben wir uns auf exemplarische Analysen zur Gegenwart und zur Weimarer Republik konzentriert.

GENDER hier im Open Access sofort lesen: https://www.budrich-journals.de/index.php/gender/issue/view/3182

Zitation: Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle: Politik in der Populärkultur: Zur gender-relevanten Verhandlung von Un/Sichtbarkeit, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 27.06.2023, www.gender-blog.de/beitrag/politik-populaerkultur/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230627

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

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Prof. Dr. Sylvia Mieszkowski

Sylvia Mieszkowski (orcid.org/0000-0002-4251-9180) ist seit 2017 Professorin für Britische Literatur an der Universität Wien und forscht derzeit zu Un_Sichtbarkeiten in Zusammenhang mit Geschlecht und Begehren, zu neo-viktorianischer bio fiction und zum Refugee-Tales-Projekt.

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Prof. Dr. Sigrid Nieberle

Sigrid Nieberle ist Professorin für Neuere und neueste deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Gender und Diversität an der TU Dortmund. Ihre Arbeitsgebiete sind Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart mit Schwerpunkten um 1900, nach 1945 und in der Gegenwart, Geschlechterdifferenz und Diversität in Beziehung zur Literatur, Biografik und Erzählforschung, Intermedialität der Literatur, insbesondere zu Musik und Film.

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