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Forschung

Politische Partizipation von Frauen im gegenwärtigen Japan

04. Juli 2023 Hayley L. Basler

Seit der Aufnahme ihrer Regierungsgeschäfte im Dezember 2022 hat die ‚Ampel‘ mit umfassenden feministischen Projekten geworben. Ein wenig betrachtetes Feld bleibt die politische Partizipation von Frauen in der Bundesrepublik. Der Frauenanteil im Bundestag schwankt seit den frühen 2000ern zwischen 31 und 37 Prozent, innerhalb der Fraktionen erreichen ausschließlich Die Linke und Die Grünen/Bündnis 90 eine Frauenquote von über 50 Prozent. Ein oft in den Raum geworfener Vorschlag der letzten Jahre war eine gesetzliche Quotenregelung für die Parteien des Bundestags. Diese Idee wirft nicht nur verfassungsrechtliche Fragen auf, sie übersieht ein weit gravierenderes Problem: Bereits an der Parteibasis sind Frauen seltener aktiv als Männer.

Dieser Beitrag arbeitet am parlamentarischen System Japans heraus, welche Faktoren für diesen Umstand verantwortlich sind und was sich daraus eventuell für die Bundesrepublik lernen lässt. Systemvergleiche zwischen Japan und Deutschland haben in der Frauen- und Geschlechterforschung eine lange Tradition, nicht zuletzt deshalb, weil Japan Preußen und dann ab 1871 das Deutsche Reich als Vorbild für den Aufbau seines eigenen modernen Nationalstaates nutzte und auch seine Wahlrechtsreform 1994 durch das System der Bundesrepublik inspiriert war. 

Japan – ein Extrembeispiel

Im Ranking der Interparliamentary Union (IPU 2023) belegt Japan mit einem Anteil von 10,3 % im Unterhaus den 167. von 184 Plätzen in der Rangliste des Frauenanteils in nationalen Parlamenten. Man könnte argumentieren, dass die Parteiorganisationen und die Wähler_innen die Kandidatinnen abstrafen. Doch jüngste Forschungsergebnisse zum Parlamentarismus deuten auf eine komplexe Gemengelage hin: Auch wenn es unterschiedliche Kompetenzzuschreibungen zwischen den Geschlechtern gibt (Lee und Lee 2016), werden Frauen in Japan nicht als ungeeignet für die Politik empfunden. Bei der Wählerschaft entstehen ihnen kaum Nachteile auf Basis ihres Geschlechts (Asian Barometer 2016; Kage et al. 2019; Haerpfer et al. 2020). Auch die von der Regierung vorgeschlagene Quote von 35 % Kandidatinnen spricht für ein Bewusstsein innerhalb der Parteien, dass eine Erhöhung des Frauenanteils als sinnvoll erachtet wird (Nakamura et. al. 2021). Nichtsdestotrotz lag in 2021 der Anteil von Kandidatinnen nur bei 17,7 % (Cabinet Office 2022).

Begründungen

Theorien zur Begründung dieser fehlenden Bereitschaft lieferten uns die Politikwissenschaftler, Soziologen und Philosophen des 20. Jahrhunderts zahlreich, angefangen bei der ‚Andersartigkeit der Frau‘ bis hin zum ‚unpolitischen Wesen der weiblichen Sphäre‘. Heute wissen wir, dass diese Theorien nicht nur überholt sind, sondern das Kernproblem, eine patriarchalische Gesellschaft, welche die Partizipation von Frauen systematisch erschwert, nach wie vor existiert (Hoecker 1995). Zur Erforschung dieser Hürden erdachte Beate Hoecker das „magische Dreieck“. Die Sozialwissenschaftlerin schlug damit ein Modell vor, diese systematischen Erschwernisse in den Blick zu nehmen. Es differenziert zwischen drei Gruppen an Faktoren, die die politische Partizipation von Frauen beeinflussen: 1) die sozial-strukturellen Faktoren wie Bildungsstand, Alter, Wohlstand und Vernetzung;  2) die institutionellen Faktoren wie Verfassung, Wahlsystem und Parteienlandschaft und 3) die politisch-kulturellen Faktoren wie gesellschaftliche Rollenbilder. Dabei sind diese Faktoren eng miteinander verwoben und können nur aus analytischen Gründen voneinander getrennnt werden.

Das magische Dreieck

Die Situation in Japan lässt sich mit diesem Modell sehr gut erforschen: So zeigt uns beispielsweise die Auswertung des japanischen Arbeitsmarktes, dass das notwendige finanzielle Investment, das bei einer Kandidatur anfällt, Frauen vor größere Herausforderungen stellt als Männer. Während es mehr und mehr zu einer Angleichung der Beteiligung am Arbeitsmarkt kommt, sind 54 % der Frauen nach wie vor irregulär beschäftigt, gegenüber 22 % bei den Männern. Der geringere finanzielle Spielraum reduziert dabei die Möglichkeiten der Partizipation. Hinzukommend waren in 2020 nur 53 % der Frauen überhaupt erwerbstätig (Statistics Bureau of Japan 2021). Damit einhergehend sind Männer in der Regel besser vernetzt. Diese Karrierenetzwerke eröffnen Möglichkeiten, welche Frauen vorenthalten bleiben: außer sie stammen aus politischen Dynastien, wie beispielsweise die Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten Makiko Tanaka. Tatsächlich sind diese Einschränkungen so präsent, dass sich ein Wort dafür etabliert hat: sanban (Die Drei Ban). Damit gemeint sind der Wahlkreis (jiban), die Reputation (kanban) und die finanziellen Ressourcen für den Wahlkampf (kaban). Während Ersteres beide Geschlechter benachteiligt, wenn es sich bei den Kandidaten und Kandidatinnen um Newcomer handelt, benachteiligen Kanban und Kaban Frauen überproportional (Lee und Lee: 2016; Lenz und Mae 1997; Nakamura et al.: 2021). Institutionell betrachtet stellte lange vor allem das Wahlsystem ein Hindernis für Frauen dar. Diese Situation hat sich jedoch, auch wenn nach wie vor ein Bias herrscht, mit der Einführung eines Mischwahlsystems 1994 deutlich verbessert (Hendrix 2019; Holland-Cunz 2019; Inter Parliamentary Union; Kage et al. 2019; Nakamura et al. 2021).

Die M-Kurve

Von großer Bedeutung bei der Erklärung der geringeren Kandidatur von Frauen ist die politisch-kulturelle Dimension. Laut Umfragen existiert keine offensichtliche Ablehnung von Politiker_innenen durch die Wählerinnen und Wähler. Doch wirken komplexe Traditionen und die Geschlechterordnung von Arbeit nachhaltig weiter: So existiert noch heute eine rigide Geschlechtertrennung in familiären Strukturen. Die Aufteilung der Rollen innerhalb der Familie führt häufig dazu, dass sämtliche Care-Arbeit von Frauen getragen wird – sowohl in der Erziehung der Kinder als auch in der Pflege der Eltern des Ehemannes. Dies spiegelt sich in der traditionellen M-Kurve weiblicher Erwerbstätigkeit in Japan wider: ein regulärer Eintritt in den Arbeitsmarkt, ein Verlassen des Arbeitsmarktes zur Kindererziehung nach der Heirat und ein Wiedereintritt nach dem Heranwachsen der Kinder. Die Konsequenz ist dabei nicht nur monetärer Natur, sondern ist auch ein höheres Eintrittsalter in die Politik bei jenen Frauen, die sich zur  Kandidatur entschließen. Einige Parteien erwarten von ihren Kandidatinnen zudem einen Hintergrund als Hausfrau und Mutter, der den Frauen eine besondere Anerkennung und Authentizität verleiht.

Diese Vorstellung beruht auf Denktraditionen des Konfuzius (vermutlich von 551 v. u. Z. bis 479 v. u. Z.) wie danson johi (Verehrung des Mannes und Herabsetzung der Frau). Im Bild der treuen Hausfrau wurde dieses konfuzianische Konzept während der amerikanischen Besatzung (1945–1951) aktualisiert. (Dalton 2013; Lenz und Mae 1997; Nakamura et al. 2021; Osawa 2015; Statistics Bureau of Japan 2021). Des Weiteren führt die diskursive Rahmung des Politischen als ‚schmutziges Geschäft‘, das Dominanz und Aggression braucht – Eigenschaften die als unfeminin gelten – zu einer geringeren Bereitschaft zu kandidieren. Allerdings bricht dieses Bild mehr und mehr auf. Dazu tragen Frauen in der japanischen Politik bei, die mit ihrer Vorbildfunktion zu einem Abbau dieser Stereotype beitragen. Die bereits angesprochene Makiko Tanaka, aber auch die Gouverneurin Tokios, Yukiko Koike, gelten dabei als bekannte Beispiele (Etō 2021; Lenz und Mae 1997; Lee und Lee 2016; Lovenduski 2000; Holland-Cunz 2019; Nakamura et al. 2021).

Transkulturelle Ländervergleiche

Was kann diese transkulturelle Perspektive für eine Analyse der Situation in der Bundesrepublik leisten? Zunächst erscheint das eigene politische System über den Umweg der Analyse anderer Konstellationen in einer neuen, erweiterten Perspektive. Auch bei uns sieht es so aus, als sei die mangelnde Repräsentation von Frauen in den Parlamenten ein Problem der fehlenden Kandidatinnen.

Im Jahr 2020 veröffentlichte die Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW eine Tagungsdokumentation zur Parität in der politischen Partizipation. Sie ist nach wie vor aktuell und lässt sich auch über die in diesem Beitrag dargelegten Erkenntnisse bestätigen: Am Werk ist eine androzentrische politische Kultur, die sich durch bestehende Mechanismen beständig selbst fortschreibt (Kletzing 2020).

Die Frauenanteile in den Parteien untermauern diesen Eindruck. Wie lässt sich die Bereitschaft zur Partizipation steigern? Das Beispiel Japan zeigt, dass die einseitige Belastung durch Care-Arbeit nicht nur die Zeit zur politischen Partizipation reduziert, sondern auch verhindert, materielle und immaterielle Ressourcen zu erschließen, die zur Partizipation nötig sind. Die Corona-Pandemie machte deutlich, dass auch hierzulande die Belastung nach wie vor sehr einseitig ist. Dieses Problem anzugehen und die Situation zu verbessern, ist also nicht nur für wirtschaftliche Emanzipation zwingend, sondern auch die politische Emanzipation von Frauen wird davon profitieren. Mit anderen Worten: Der Blick auf Japan gibt uns gute Beispiele an die Hand, um von der Politik einen beherzteren und schnelleren Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten zu fordern und gesamtgesellschaftlich eine geschlechtergerechtere Aufteilung der Care-Arbeit einzuleiten.

Literatur

Asian Barometer (2016), Asian Barometer Data, Merged Dataset, Wave4 Japan, 2014–2016. https://asianbarometer.org [abgerufen am 04.07.2023].

Cabinet Office (2022), Gender Equality Bureau. Josei katsuyaku danjo kyōdō sankaku no genjō to kadai [Aktuelle Situation der Frauenförderung und Geschlechtergleichheit]. https://www.gender.go.jp/research/pdf/joseikatsuyaku_kadai.pdf [abgerufen am 04.07.2023].

Dalton, Emma (2013), „More ‚Ordinary Women‘: Gender Stereotypes in Arguments for Increased Female Representation in Japanese Politics.“ U.S.-Japan Women’s Journal, Nr. 44: 24–42.

Etō, Mikiko (2021), Women and Political Inequality in Japan: Gender Imbalanced Democracy. Routledge Contemporary Japan Ser. Milton: Taylor & Francis Grou.

Haerpfer, C., Inglehart, R., Moreno, A., Welzel, C., Kizilova, K., Diez-Medrano J., M. Lagos, P. Norris, E. Ponarin und B. Puranen (eds.) (2020), World Values Survey: Round Seven – Country-Pooled Datafile. Madrid, Spain & Vienna, Austria: JD Systems Institute & WVSA Secretariat. https://doi.org/10.14281/18241.1

Hendrix, Ulla (2019.), „Frauenquote: zwischen Legitimität, Effizienz und Macht“. In Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, herausgegeben von Beate Kortendiek, Birgit Riegraf, und Katja Sabisch, 993–1002. Geschlecht und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12496-0_111

Hoecker, Beate (1995), Politische Partizipation von Frauen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95761-0

Holland-Cunz, Barbara (2019), „Feministische Demokratiekritik: Geschlechterforschung als Theorie der Demokratisierung“. In Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, herausgegeben von Beate Kortendiek, Birgit Riegraf, und Katja Sabisch, 263–272. Geschlecht und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12496-0_24

Inter Parliamentary Union, Monthly ranking of women in national parliaments. https://data.ipu.org/women-ranking?month=5&year=2023 [abgerufen am 04.07.2023].

Kage, Rieko, Rosenbluth Frances M. und Tanaka, Seiki (2019). „What Explains Low Female Political Representation? Evidence from Survey Experiments in Japan“. Politics & Gender, 15(02): 285–309. https://doi.org/10.1017/s1743923x18000223

Kletzing, Uta (2020.), „Ohne Wandel der politischen Kultur keine Parität – ohne Paritätsgesetz kein Wandel der politischen Kultur!“ In Geschlecht. Politik. Partizipation. NRW auf dem Weg zur Parität, herausgegeben von Beate von Miquel, Essen, 20–30. https://www.netzwerk-fgf.nrw.de//fileadmin/media/media-fgf/download/publikationen/netzwerk_fgf_studie_nr_34_f_web_2.pdf [abgerufen am 04.07.2023].

Lee, Jinah und Lee Kwangho (2016), „Gendered reactions to women politicians in Japan: the role of media use and political cynicism“. Keio communication review. 38,3, 21–38.

Lenz, Ilse und Michiko Mae. Hrsg (1997), Getrennte Welten, gemeinsame Moderne? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-322-91404-0

Lovenduski, Joni (2000), Feminism and politics. 2. Aldershot: Ashgate.

Nakamura, Yoshie, Tomozumi, Mayuko Horimoto und Gary N. McLean (Hrsg) (2021), Japanese Women in Leadership. 1st ed. Current Perspectives on Asian Women in Leadership. Cham: Springer International Publishing Imprint Palgrave Macmillan.

Osawa, Kimiko (2015), „Traditional Gender Norms and Women’s Political Participation: How Conservative Women Engage in Political Activism in Japan“. Social Science Japan Journal. 18 (1): 45–61. https://doi.org/10.1093/ssjj/jyu041

Statistics Bureau of Japan (2021), Nihon tōkei nenkan [Japan statistical yearbook].

Zitation: Hayley L. Basler: Politische Partizipation von Frauen im gegenwärtigen Japan, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 04.07.2023, www.gender-blog.de/beitrag/politische-partizipation-japan/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230704

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Hayley L. Basler

Hayley L. Basler studiert Internationale Politische Ökonomie Ostasiens an der Ruhr-Universität Bochum und ist Absolventin des Bachelor Studiengangs Moderne Ostasienstudien -Gesellschaft, Wirtschaft, Politik. Sie ist in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung beschäftigt. In ihrer Bachelorarbeit schrieb sie über die Politische Partizipation von Frauen im gegenwärtigen Japan.

 

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