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Themenwochen , Zeit

Queer Time/Queer History

07. November 2023 Helmut Puff

Ein Interesse an Zeit, Zeitlichkeit und Verzeitlichung lässt sich bis auf die Anfänge der Queer Studies zurückverfolgen. Deren Theoriebildung hat sich unter anderem an der Gültigkeit von Kategorien in der Zeit entzündet. Heterosexualität, Homosexualität, Bisexualität oder Asexualität halten demnach das Versprechen nicht, welches diesen Begriffen eingeschrieben ist. Aus queerer Perspektive sind wie auch immer geartete sexuelle Seinsweisen situativ, wechselhaft und performativ. In In a Queer Time and Place macht Jack Halberstam etwa auf die prekäre Zeitlichkeit der mit HIV infizierten Menschen aufmerksam (vgl. Halberstam 2005). Queer time fasst demnach eine Zeiterfahrung, deren Rhythmen anders sind als die auf Dauer angelegten Strukturen von Arbeit, Familie, Freizeit und Staaten. Diese Reflexionen sind bereits in den Überlegungen zum Begriff queer aus den Anfängen der Queer Studies angelegt (vgl. Cleto 1999; Chauncey 1994, S. 14–23; Somerville 2020; Jagose 1996, S. 1; Halperin 1995, S. 62). In diesem Sinn umreißt der Terminus queer Irritation, Dissonanz, Distanz oder Dissenz. Queer avisiert somit eine Opposition zum Status Quo und diese Opposition ist wandelbar.

Queer Touch

Auch vergangene Zeiten werden in der Regel im Gewand einer monumentalen Zeitlichkeit präsentiert. Carla Freccero hat deswegen dazu aufgerufen, „alternative, queerer, more fantasmatic approaches to history“ (Freccero 2006, S. 31) auszutesten – ein Aufruf, welcher sich gegen etablierte Erzählmuster, Progressionsnarrative und zeitliche Linearität in den Geschichtswissenschaften richtet. Carolyn Dinshaw erkundet die asynchrone Vielzeitigkeit im Zeiterleben in Mittelalter und Gegenwart (vgl. Dinshaw 2012). In diesen und anderen Studien werden „wissenschaftliche Zeitkategorien und Epochenbestimmungen der Historiker selbst befragt“ (Koselleck 1989, S. 13).

In diesem Zusammenhang hat Dinshaw in einem früheren Aufsatz den queer touch als einen Ansatz entwickelt (vgl. Dinshaw 1995). Die Mediävistin verknüpft die Canterbury Tales behutsam mit Produkten und Dingen aus ihrer eigenen Gegenwart. Die suggestive Taktilität von touching the past ist dabei mehr als nur Metapher. Sie ist Plädoyer und Provokation zugleich. In dieser Kritik an gängigen Verzeitlichungsformen in der Historie stehen die Queer Studies den Postcolonial Studies nahe. Freccero verweist auf Johannes Fabian. Dessen Time and the Other (vgl. Fabian 2014 [1983]) zeigt, wie Arbeitsweisen von Ethnolog:innen außereuropäische Gesellschaften systematisch in einer anderen Zeitlichkeit platzieren. Mit dieser gleichsam unüberbrückbaren Zeitdifferenz zwischen Wissenschaftler:innen einerseits und den Studiensubjekten andererseits schreiben Sozialwissenschaften die Tradition kolonialer Wissensformen fort. Dipesh Chakrabarty spricht deswegen bildkräftig vom „Wartezimmer“, in dem die Machtlosen von heute oder Menschen von gestern ihr Leben fristen; sie werden in einer anderen Zeit als der Moderne verortet (Chakrabarty 2011).

Zeitschichten und Affekte

Heather Love (vgl. Love 2009) erinnert daran, dass die Queer Studies nicht nur der kritischen Erfassung unserer Gegenwart verhaftet bleiben sollten. Schließlich sind sie nach gut dreißig Jahren selbst in die Jahre gekommen. Wie also ist das radikale Potential der Queer Studies am Leben zu halten? Im viktorianischen und postviktorianischen England habe es, so Love, Schriftsteller:innen gegeben (Walter Pater, Willa Cather, Radclyffe Halle und Sylvia Townsend Warner), deren Queerness aus einer Flucht vor der unsicheren Gegenwart in die Vergangenheit bestand. Was Heather Love in Feeling Backward decouvriert, sind die höchst widersprüchlichen Gefühlslagen im Umgang mit verschiedenen Zeitschichten. Die Queer Studies können aus diesem Grund nicht ohne Historie auskommen, und deren Geschichte müsse Narrative der Isolation, des Leidens und des Traumas einschließen. ‚Queer‘ war schließlich lange Zeit ein Schimpfwort; sich ‚queer‘ verhaltende Menschen waren der Diskriminierung ausgesetzt. Gerade in solchen affektiv-emotionalen Verbindungslinien zu einer schmerzbesetzten Vergangenheit liege eine Quelle queerer Gemeinschaftsbildung mit Blick auf Zukünftiges: „The future is queerness’s domain“ (Muñoz 2019 [2009], S. 1). 

Historizität und Zeitlichkeit

Kurzum, Historizität und Zeitlichkeit lassen sich auf ebenso vielfältige wie queere Weise miteinander verquicken. Die geschichtswissenschaftliche Praxis im Umgang mit der Zeit ist allerdings meiner Ansicht nach bunter, als diese Kritiker:innen andeuten. Schon die Geschlechtergeschichte hatte ein gespanntes Verhältnis zu etablierten Periodenbegriffen und gängigen Verzeitlichungsmustern der Geschichtswissenschaften. Denn historische Epochen wurden nicht mit Blick auf Gender, sondern meist im Hinblick auf politische oder andere Geschichten entworfen. So erwies sich der Epochenbegriff der Renaissance aus geschlechtergeschichtlicher Sicht als wenig brauchbar; andere Periodenbezeichnungen mussten im Zuge des geschlechtergeschichtlichen Zugriffs verändert, variiert oder korrigiert werden (vgl. Hunt 1998). Die besondere Zeitlichkeit der Geschlechtergeschichte manifestiert sich nicht zuletzt in der Beharrlichkeit von Genderstereotypen. Selbst wenn patriarchale Strukturen immer wieder neu verankert werden und sich verändert haben, so haben sie doch beharrlich überdauert (vgl. Bennett 2006). Es ist diese Argumentationslinie feministischer Geschichtswissenschaft, welche die Queer Studies weiterentwickeln. Dass Perioden und Periodisierungen Konstrukte sind, wird dort zum Anlass, zeitliche Narrative, welcher Art auch immer, im wissenschaftlichen Schreiben anders und neu zu gestalten. Mehr noch, Queer History liefert Ideen, wie historische Zeiten kritisch zu denken, kreativ zu ordnen und anders zu strukturieren sind – nicht ein für alle Mal, sondern eben immer nur für je bestimmte Zusammenhänge und Gegenwarten.

Literatur

Bennett, Judith (2006), History Matters. Patriarchy and the Challenge of Feminism, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, https://www.jstor.org/stable/j.ctt3fhtgm (abgerufen am 23.10.2023).

Chakrabarty, Dipesh (2011), The Muddle of Modernity. In: American Historical Review, 116(3),  S. 663–675.

Chauncey, George (1994), Gay New York. Gender, Urban Culture, and the Making of the Gay Male World, 1890–1940. New York NY: Basic Books.

Cleto, Fabio (1999), Introduction: Queering the Camp. In: Cleto, Fabio (Hg.), Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject: A Reader, Edinburgh: Edinburgh University Press, S. 1–42. https://doi.org/10.1515/9781474465809-003

Dinshaw, Carolyn (1995), Chaucer's Queer Touches / A Queer Touches Chaucer. In: Exemplaria, 7(1), S. 75–92. https://doi.org/10.1179/exm.1995.7.1.75

Dinshaw, Carolyn (2012), How Soon Is Now? Medieval Texts, Amateur Readers, and the Queerness of Time. Durham: Duke University Press. https://doi.org/10.1515/9780822395911

Fabian, Johannes (2014 [1983]), Time and the Other: How Anthropology Makes Its Object. New York: Columbia University Press. https://doi.org/10.7312/fabi16926

Freccero, Carla (2006), Queer / Early / Modern. Durham: Duke University Press. https://doi.org/10.1515/9780822387169

Halberstam, J. (2005), In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York: New York University Press. https://doi.org/10.18574/nyu/9780814790892.001.0001

Halperin, David (1995), Saint Foucault. Towards a Gay Hagiography, New York: Oxford Univ. Press.

Hunt, Lynn (1998), The Challenge of Gender History. In: Trepp, Anne-Charlott/Medick, Hans (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte, Göttingen: Wallstein, S. 59–97.

Jagose, Annamarie (1996), Queer Theory. An Introduction. New York: New York University Press.

Koselleck, Reinhart (1989), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Love, Heather (2009), Feeling Backward. Loss and the Politics of Queer History, Cambridge: Harvard Univ. Press.

Muñoz, José Esteban (2019 [2009]), Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity. New York: New York University Press.

Somerville, Siobhan B. (2020), Queer. In: Burgett, Bruce/Hendler, Glenn (Hg.), Keywords for American Cultural Studies, New York: New York University Press, 3. Aufl., S. 198–202. https://doi.org/10.18574/nyu/9781479867455.003.0055

Zitation: Helmut Puff: Queer Time/Queer History, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 07.11.2023, www.gender-blog.de/beitrag/queer-time-queer-history/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231107

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Prof. Dr. Helmut Puff

Helmut Puff ist Professor der Geschichte, Germanistik und Genderstudien an der University of Michigan in Ann Arbor (USA). Seine Publikationen umfassen Beiträge zur Geschichte der Sexualitäten, Reformationsgeschichte, Stadtgeschichte, Literaturgeschichte sowie zu visual history. Gerade erschienen ist "The Antechamber: Toward a History of Waiting" (2023).

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