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Queer-Sein im Glasgow der 90er – Douglas Stuarts „Young Mungo“

11. Juli 2023 Sandra Beaufaÿs

Was bedeutet es, als queerer Jugendlicher im Arbeiter*innenmilieu aufzuwachsen? Dieses Themas hatten sich bereits die Franzosen Didier Eribon und Eduard Louis autobiografisch angenommen, auch der US-vietnamesische Autor Ocean Vuong behandelt ein ähnliches Sujet im Rahmen der eigenen familiären Migrationsgeschichte. Der gebürtige Schotte Douglas Stuart legte 2022 mit dem Roman „Young Mungo“ nach. Seine wirklichkeitsnahen Schilderungen lassen keinen Zweifel daran, dass der Autor weiß, wovon er schreibt – der Plot ist im Umfeld seiner Kindheit in einem Arbeiter*innenviertel im Glasgow der 1990er-Jahre angesiedelt –, die Erzählung ist jedoch eindeutig fiktional und ein echter Pageturner. In die deftige Handlung ist die unglaublich zarte und berührende Geschichte einer ersten Liebe hineingewoben.

Ein Mann sein, ein Mann werden

Der Roman ist in zwei Erzählstränge aufgeteilt, die kapitelweise alternieren und unterschiedliche Schauplätze eröffnen: Auf der einen Seite die Stadt Glasgow bzw. vorwiegend ein Viertel mit trostlosen Mietskasernen, in denen der 15-jährige Mungo mit seiner Familie wohnt, auf der anderen Seite ein See in einer abgeschiedenen Gegend Schottlands, die nicht genauer lokalisiert wird. Das Buch beginnt mit dem Handlungsstrang am See, der chronologisch ans Ende der Geschichte gehört. Der Hauptprotagonist wird von seiner Single-Mutter dazu gedrängt, mit zwei wildfremden Typen aus ihrem Kreis der Anonymen Alkoholiker zum Fischen zu fahren, um „ein Mann zu werden“. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, was sich den Leser*innen erst nach und nach erschließt: Der hübsche Mungo gilt als schwach und unmännlich, verdächtig queer – für sein Umfeld ist das ein größeres Vergehen als alle Verbrechen, die im Laufe der Handlung tatsächlich begangen werden.

Die ihm nahestehenden Personen verlangen von ihm, ein Mann zu sein oder zu werden, was zumeist gleichbedeutend ist mit gewalttätig, draufgängerisch und dissoziiert. Doch er kann nicht werden wie sein älterer Bruder Hamish, der ungeachtet seiner Kassenbrille und wenig imposanten Körpergröße das gesamte Viertel mit seiner Gang terrorisiert und seine minderjährige Freundin schwängert. Für die alleinerziehende Mutter Maureen stellt dieser Sohn allerdings kein nennenswertes Problem dar. Eine größere Herausforderung ist für sie die bildungshungrige und streitlustige Tochter Jodie, die sich zeitweise um den jüngsten Bruder Mungo kümmert, wenn die schwer alkoholkranke Maureen, selbst erst Anfang Dreißig, ihrem Liebesleben aushäusig nachgeht und dafür wochenlang von der Bildfläche verschwindet.

Der Taubenschlag

Mungo, krank vor Sehnsucht und Sorge um die abwesende Mutter, geht schließlich seiner eigenen erwachenden Leidenschaft nach. Er lernt den Nachbarjungen James kennen, einen Einzelgänger, der sich mit seinem selbstgezimmerten Taubenschlag beschäftigt. Dieses durchaus männliche Hobby der Taubenzucht, auch im Ruhrgebiet bekannt als Zeitvertreib der Arbeiter, hat der Junge von seinem Vater gelernt. Der – ebenfalls zumeist abwesende – Vater ist ansonsten jedoch kein Vorbild für seinen Sohn, der bereits um seine eigene Homosexualität weiß.

Die Szenen der ersten Treffen von Mungo und James finden vor der Kulisse des Taubenhauses statt. Die Bilder, die Stuart dabei entwirft, scheinen die Gefangenschaft in der heteronormativen Welt um die beiden Protagonisten herum widerzuspiegeln, gleichzeitig wird James zu einem Künder des bislang undenkbaren Auswegs, der Flucht aus der Enge des Viertels: „If one of my birds leaves me, how can I be angry? It’s my fault […]. You’d fuck off if you were unhappy, right?” (S. 79) Er selbst plant, sobald wie möglich wegzugehen, was für seinen Freund Mungo zunehmend zum Problem wird, da er selbst sich aus den vermeintlichen Verpflichtungen, die ihn an sein längst zerbrochenes zu Hause fesseln, nicht lösen kann. James verzeiht seinem Freund nahezu alles, muss allerdings am Ende dafür bitter bezahlen, nicht zuletzt, da er als Katholik in einem protestantisch dominierten Viertel lebt.

Die Stadt, das Viertel und der Weg hinaus

„Ah just felt ye needed somethin’ of Glasgow. It was probably the only thing your father really loved. Ah thought it could help bring some peace” (S. 182) – so erklärt die Mutter dem Sohn seinen ungewöhnlichen, zu Spott herausfordernden Vornamen. Vorbild war der erste Bischof von Glasgow, Schutzpatron der Stadt, St. Mungo. Mungos Vater starb in einer Messerstecherei mit „Fenians“, so wird die katholische Seite der rivalisierenden Jugendgangs im Viertel genannt. Umso erstaunlicher, dass die protestantische Maureen ihren Sohn nach einem Heiligen benennt und dies als Friedensangebot versteht.

Die Stadt, mehr noch das Viertel, ist für die Protagonist*innen ein Ort, von dem zu fliehen nicht nur kaum denkbar erscheint, sondern auch tatsächlich schwer möglich ist. Der Weg hinaus führt über Kultur und Natur, erstere repräsentiert beispielsweise durch das Schloss, zu dem Hamish seinen Bruder mithilfe eines gestohlenen Autos eskortiert oder letztere durch eine offene Flusslandschaft, bis zu der es Mungo zusammen mit seinem Freund per ebenfalls entwendetem Fahrrad schafft, um dort gemeinsam einige Stunden unbeobachtet zu verweilen. Das Schloss sieht Mungo zum ersten Mal in seinem Leben, da ihm das Geld für die Schulausflüge dorthin von der Mutter vorenthalten wurde – zu teuer erschien ihr etwas so Unwichtiges. Die ungewohnt wilde, unberührte Natur um den Angelsee herum empfindet Mungo später als heilsam, wenngleich die fremde Umgebung für ihn – buchstäblich eingepfercht zwischen zwei übergriffigen Alkoholikern – zu einer grausamen Falle wird.

Die geliebte Schwester Jodie schließlich erkämpft sich den Weg hinaus über den Gang an die Universität. Ihre Klugheit und unerbittliche Disziplin helfen ihr dabei. Für ihren jüngeren Bruder scheint dieser Ausweg nicht möglich.

Poor-Wee-Chickee

Eine weitere interessante und tragische Figur wird in dem Nachbarn Mr Calhoun sichtbar. Wir begegnen ihm zunächst, wie er, beschrieben aus Mungos Perspektive und von dessen Wohnungsfenster aus beobachtet, die Straße heruntergeht:

„The man walked with nipped footsteps; he tucked his arms neatly by his side, careful to take up no more room than was his to enjoy. […] There was a stiffness in his arms but there, at the tips of his fingers, was a slight feathering. You could barely see it. Everybody could see it.“ (S. 138f.)

Auch Mr Calhoun scheint wie Mungo und James im Viertel fehl am Platze, wird von Youngsters offen verlacht als „poofter“, „bender“, „fag“, pejorative Begriffe für schwule männliche Personen, und von anderen hinter seinem Rücken als „Poor-Wee-Chickee“ (etwa: armes kleines Hühnchen) bezeichnet. Der bereits ältere Herr hat seine eigene Strategie des Umgangs damit entwickelt – er ignoriert schlicht freundlich den Hohn und Spott, der ihm teils unverhohlen, teils weniger offen begegnet. Das einsame Schicksal des „Bachelors“ ist einerseits Blaupause für Mungos eigene mögliche, aber noch ungewisse Zukunft, andererseits wird dieser Nachbar auch zu einem Verbündeten.

Hope for the underrated youth

„Young Mungo“ kann Freund*innen des Hyperrealismus mit handfesten Gewaltszenen und alltagsgetreuen Dialogen überzeugen. Allerdings hebt der Roman zum Ende hin ins Unwahrscheinliche ab, auch auf Kosten einiger bereits angelegter, aber nicht ausgeführter Plotdetails. Es wird dabei ersichtlicher, weshalb die Hauptfigur den Namen eines Heiligen trägt – die Geschichte wird zu einem Passionsweg mit fast mythologischer Qualität. Mungo besiegt in der Manier eines Drachentöters sein eigenes vorgezeichnetes Schicksal und geht aus dem Erlittenen wie ein Heiligenbildchen hervor, dem man das Blut abwäscht, um es wieder golden glänzen zu lassen. Im letzten Kapitel treffen die zwei Erzählstränge ‚Stadt‘ und ‚See‘ auf einer Verkehrsinsel in Glasgow zusammen. Darauf steht Maureens Frittenbude. Mungo trifft hier auf seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder. Gleichzeitig meint er den verloren geglaubten James an einer Ampel auf der anderen Straßenseite zu erblicken, und er erkennt, wohin er gehört. Obgleich der Held sich nicht nur körperlich versehrt, erschöpft und mutmaßlich schwer traumatisiert in dieser Szene wiederfindet, zeigt sich so etwas wie ein Silberstreifchen am Horizont. Der Autor selbst bekennt seine Vorliebe für ein Happy End der besonderen Art:

“I believe in happy endings, I believe in the redemption of love and I believe in hope. But the hope that I like is quite a brave courageous hope, it’s not a huge sunrise […]. […] it’s just the hope that my characters have, when they get up and dust themselves and they keep going.” (Douglas Stuart im Interview in “The Book Show”, Podcast von John Donahue, #1764, 10. Mai 2022)

Das Buch erschien im Februar 2023 in deutscher Sprache. Obgleich die Übersetzungsarbeit von Sophie Zeitz allseits sehr gelobt wird, möchte ich empfehlen, es in der Originalversion zu lesen, denn insbesondere die Dialoge vermitteln eine authentische Atmosphäre, die nicht in eine andere Sprache herübergerettet werden kann. Der Story sollte auf jeden Fall eine Triggerwarnung vorangestellt werden, der zärtlichen Widmung zum Trotz: „For Alexander, and all gentle sons of Glasgow“.

Literatur

Stuart, Douglas (2022): Young Mungo. London: Picador, Pan Macmillan.

Deutsche Übersetzung von Sophie Zeitz, erschienen Februar 2023 im Hanser Verlag.

Zitation: Sandra Beaufaÿs: Queer-Sein im Glasgow der 90er – Douglas Stuarts „Young Mungo“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 11.07.2023, www.gender-blog.de/beitrag/queer-young-mungo/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230711

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Dr. Sandra Beaufaÿs

Sandra Beaufaÿs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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