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Queeres Wellenreiten: Kino in Krisen(zwischen)räumen

12. September 2023 Tabea Speder

Queersein ist eng mit dem Bewusstsein für Krisen verknüpft, da queere Communities durch Erfahrungen der Ablehnung, Verfolgung, Isolation entstehen. Seit jeher teilen sie Schmerz, Trauer und Verlust miteinander und navigieren gemeinsam durchs (Über-)Leben. In queeren Räumen finden sich folglich besondere und kreative Formen der Resilienz. Doch wie gehen queere Communities mit gegenwärtigen Krisen um?

Diese Frage begleitete auch 2022 das Hamburg International Queer Film Festival, das problematisierte, „was uns Kunst, Kultur und Kino in diesen fragilen Krisenzeiten geben kann″ (Programmheft 2022, 3). Gemeinsam mit älteren Besucher*innen erinnerten sich die Veranstalter*innen an die Anfänge der schwulen und lesbischen Filmtage, die noch komplett von Studierenden mit ihren selbstgedrehten Filmen organisiert wurden. Wir Zuschauenden sitzen in gepolsterten roten Kinosesseln, zwischen schweren Vorhängen und der großen Leinwand. Zwischen Licht und Dunkel. Zwischen ihren Erinnerungen und unserer gemeinsamen Gegenwart. Zwischen Krise und Post-Krise. Welche Rolle können queere Filmfestivals in diesen Krisen(zwischen)räumen einnehmen?

Queere Filmfestivals als Aushandlungsräume

Laut Filmkritiker*in B. Ruby Rich sind Filmfestivals generell Symbole soziokultureller Bestrebungen (Rich 2013, 36). Queere Filmfestivals zeichnet insbesondere die Herstellung einer Gemeinschaft aus, in der sich verschiedene queere Gruppen und Zugehörigkeiten als Publikum versammeln (ebd., 37). Wenn die Schaffung eines gemeinschaftlichen queeren Raumes als Gegenentwurf zur heteronormativen Gesellschaft gedacht wird, dann bezieht sich das ebenfalls auf deren Krisen. Ein Festivalpublikum hingegen, welches Rich zufolge nach „Gleichheit, Replikation, Reflexion“ (ebd., Übersetzung T. S.) strebt, muss immer durch die eigene Heterogenität enttäuscht werden.

Welches Publikum saß also im Kinosaal des 33. Hamburg International Queer Film Festivals? Allein die Krise der Covid-19-Pandemie hat uns unterschiedlich getroffen. Manche in ihren jugendlichen Findungsprozessen, manche inmitten ihrer Outing- und Community-Suche. Vielen haben die Isolationsmaßnahmen die Möglichkeit genommen, den Input einer queeren Bubble zu spüren. Andere traf die Krise in stabilen Lebenssituationen, mit etablierten queeren Beziehungen oder in einem Alter, welches bereits auf Ressourcen, Wissen und Resilienz aufbauen kann. Nicht umsonst heißt es, die Pandemie habe die bestehenden Differenzen noch verstärkt. Auf diese Weise unterschiedlich geprägt, teilen wir in diesem Moment dennoch einen Kinosaal und die Erfahrung dieses Festivals. Können wir in der Dunkelheit zusammenfinden?

Im Kinosaal

Die kurze, aber radikale Antwort lautet: Ja. Auf eine grundlegende Art und Weise haben wir bereits zusammengefunden. Wir bilden bereits eine Gemeinschaft. Denn hierbei geht es um kollektive Gefühle, Stimmungen und Berührungen. Hier werden nicht nur persönliche Biografien verhandelt, sondern eine gemeinsame Geschichte. Es geht um eine geteilte Perspektive und eine damit verbundene Lebensweise. „Bei Queerness geht es im Wesentlichen um die Ablehnung des Hier und Jetzt und um das Beharren auf dem Potential oder der konkreten Möglichkeit einer anderen Welt″, schreibt der kubanoamerikanische Theoretiker José Esteban Muñoz (Muñoz 2009, 1, Übersetzung T. S.). Denn warum sitzen wir in diesen gepolsterten roten Kinosesseln? Weil wir alternative Vergangenheiten und queere Archive, Gegenwarten und Zukünfte sehen wollen. Weil das Gedächtnis eines queeren Filmfestivals und seines Publikums immer auch neue Zukunftsvisionen eröffnet. Und vor allem, weil die Verneinung der heteronormativen, rassistischen, ableistischen und patriarchalen Gegenwart unsere gemeinsame Identität als Publikum überhaupt erst konstituiert.

Keine Zukunft ist auch eine Zukunft

Das Festival eröffnete mit dem dystopischen Film Três Tigres Tristes (2022) des Regisseurs Gustavo Vinagre. Sein Schauplatz ist ein futuristisches São Paulo, welches von verschiedenen Virus-Pandemien und fortgeschrittener kapitalistischer Umweltzerstörung geprägt ist. In den Gesprächen der drei jungen Protagonist*innen Isabella, Jonata und Pedro erfahren wir, unter welchen prekären Umständen sie (über)leben und konsumieren. Zwischen Desinfektionsmittel, Ansteckungsgefahr und Ausgangssperren warten sie auf die nächste Goldene Phase, denn das Zählen der pandemischen Wellen lohnt sich nicht mehr. Die Hauptgefahr des neuesten Virus ist großflächige Amnesie.

Mit der Angst vor dem Vergessen und Vergessenwerden gehen die drei Figuren unterschiedlich um. Anfänglich gibt es vage bekannte Strukturen, so wie das Lernen für eine Prüfung mit perspektivischem Abschluss oder ein Termin mit einem Kunden. Im Laufe des Filmes verlieren diese Strukturen aber immer mehr an Bedeutung, die Protagonist*innen haben ihren Lebensstil dem Ungewissen, der Krise komplett angepasst – es spielt kaum noch eine Rolle, in welcher Pandemiephase sie gerade sind. Vielmehr lassen sie sich durch die Straßen treiben, sprechen mit Gegenständen und lauschen der Sängerin Mirta in ihrem Antiquitätensalon. Bereits in den ersten Szenen wird klar, dass es egal ist, ob wir verstehen, welche Sounds und Szenen real sind und welche nicht, denn wir werden gezwungen, Isabella, Jonata und Pedro auf ihrem Weg zu folgen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Wir müssen uns den Wendungen und Effekten dieses Filmes ergeben, wir haben keine Kontrolle mehr darüber – ebenso, wie sich die Protagonist*innen der Unvorhersehbarkeit ihrer Zeit ergeben haben.

Três Tigres Tristes

In Três Tigres Tristes werden aktuelle Krisen und vor allem Ängste des Anthropozäns thematisiert: Wir haben keine Zukunft und keine Hoffnung mehr! Wir sind tödlichen Krankheiten ausgeliefert! Wir zerstören unsere Umwelt und uns selbst! Wir müssen isoliert und unsicher leben! Wir werden vergessen und unbedeutend sterben!

Aber der Film lässt uns mit diesen Ängsten nicht allein. Im Gegenteil: Sie affizieren uns als Gemeinschaft und wir erkennen uns gegenseitig in ihnen wieder. Diese geteilten Ängste verbinden uns mit den Protagonist*innen. Sie zeigen, dass die queere Antwort auf diese Dystopie solidarisch und inklusiv sein muss. Insofern entwirft Vinagre mit Três Tigres Tristes keine Welt ohne Zukunft. Denn wenn eines sicher zu sein scheint, dann, dass die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind. Und auch das ist eine Zukunft. Eine, welche die Weiterschreibung einer chrononormativen und neoliberalen Fortschrittsgeschichte radikal verneint.

Queeres Wellenreiten

Ebendiese Auseinandersetzung, verbunden mit dem Greifen nach einer grundlegend anderen Zukunft scheint Queerness zutiefst zu prägen. Und so befinden sich auch queere Filmfestivals in einer permanenten Aushandlung zwischen der Thematisierung der realen Schrecken dieser Welt und der Schaffung eines gemeinschaftlichen Ortes der queeren Freude und Zukunft.

Was kann uns also ein queeres Filmfestival in Krisen(zwischen)räumen geben? Es kann uns an die Lücken in unserer Gemeinschaft erinnern und damit auch an unsere Verwundbarkeit. Es kann uns in unseren Ängsten vereinen, genauso wie in unserer radikalen Ablehnung des Ist-Zustandes. Es kann uns queere Archive, queere Zukünfte zeigen und es kann uns die Hoffnung auf die nächste Phase geben. Es kann uns zeigen, wie sich aus dem Horizont, der hinter uns liegt, auch der Horizont vor uns ergibt. Und vor allem kann es uns beibringen, auf den Wellen zu reiten. Denn ein Filmfestival selbst ist wellenförmig: Auf die helle Realität folgt der dunkle Kinosaal, das Eintauchen in die Filmwelt, dann wird es erneut hell, die Szene wird verlassen, wir tauchen auf, diskutieren, reflektieren, dann tauchen wir wieder ab in den dunklen Kinosaal, hören zu, nehmen auf, dann wird es erneut hell und so fort. Wir bewegen uns zyklisch mit dem Programm mit, alle ein bisschen unterschiedlich, aber im selben Rahmen, in derselben Zeitrechnung. Zwischen Filmen und Pausen und Filmen.

Krisen und ihre Kipppunkte

Diese Wellenbewegung findet sich auch in den strukturellen Krisen, die unsere Gespräche, unsere Zeitlichkeiten und unsere Körper durchdringen. Sie verändern sich in ihrer Dringlichkeit und in ihren Auswirkungen. Sie kommen und gehen und überlagern sich und wir kämpfen, passen uns an, verweigern uns und entwerfen neue Strategien. Krisen funktionieren über Kipppunkte, sie treiben uns auf die hohen Berge und in die tiefen Täler der Wellen. Und nach jedem Überrolltwerden sehen wir nach, wer mit uns wieder aufgetaucht ist. Die goldene Welle und die rote Welle und die anderen unbekannten Wellen, das ist unsere Zukunft. Und Queerness (neben anderen widerständigen Existenzweisen) birgt das kreative Potenzial, außerhalb der Norm zu denken, sich neu zu ordnen und experimentieren zu können. Und vor allem, sich beim Überleben nicht auf staatliche Institutionen und ein historisches Gestern zu verlassen. So wie es aussieht, kommen die Krisen in Wellen – und wir reiten sie queer.

Ankündigung: Das 34. Hamburg International Queer Festival findet vom 17.10.–22.10.2023 statt.

Literatur

Muñoz, José Esteban, Cruising utopia. The then and there of queer futurity. New York, London 2009.

Programmheft 33. Hamburg International Queer Film Festival 2022, https://www.hiqff.de/downloads/P_Heft_HIQFF_2022_view_compressed.pdf [abgerufen am 21.08.2021].

Rich, B. Ruby, New Queer Cinema. The Director′s Cut. North Carolina 2013.

Zitation: Tabea Speder: Queeres Wellenreiten: Kino in Krisen(zwischen)räumen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 12.09.2023, www.gender-blog.de/beitrag/queeres-wellenreiten/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230912

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Tabea Speder

Tabea Speder hat Philosophie, Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig studiert. Derzeit befindet sie sich im Zwei-Fach-Master Gender Studies und Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Sie ist wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Transformation audiovisueller Medien unter der besonderen Berücksichtigung von Gender und Queer Theory.

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