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Das Mensch-Natur-Verhältnis in der sozial-ökologischen Krise

19. September 2023 Inken Behrmann

Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen: die klimatischen Bedingungen für das Leben auf der Erde verändern sich – und das Mensch-Natur-Verhältnis ist in der ökologischen Krise. Rund 130 Teilnehmer*innen der Konferenz „nature-society relations & the global environmental crisis“ diskutierten vom 4. bis 6. Mai 2023 an der Humboldt-Universität zu Berlin theoretische Fragestellungen und empirische Forschungen im Kontext der Klimakrise. Im Fokus der transdisziplinären Tagung standen Analysen der patriarchalen und kolonialen Gesellschaftsordnungen und die Frage, wie diese die Krise des Mensch-Natur-Verhältnisses einerseits produzieren und andererseits häufig Lösungsansätze determinieren.

Eine transdisziplinäre Perspektive

Die Relevanz einer transdisziplinären Perspektive angesichts der Klimakrise wurde bereits im breiten Organisationsteam der Tagung deutlich: Mit dem Team des Fachbereichs Gender und Globalisierung, der Ökonomin Christine Bauhardt, den Agrar- und Ernährungssoziologinnen Meike Brückner und Suse Brettin, der Literaturwissenschaftlerin Gabriele Jähnert vom Zentrum für transdisziplinäre Genderstudien sowie der Geografin Sandra Jasper, der Rechtswissenschaftlerin Petra Sußner und Ida Westphal von der DFG-Forschungsgruppe "Law-Gender-Collectivity" prägten die Veranstalterinnen bereits eine transdisziplinäre Forschungsdiskussion. Diesem Charakter entsprechend umfasste die Tagung Beiträge aus den Sozial-, Rechts- Kultur- und Naturwissenschaften, um eine kritische Gender- und Intersektionalitätsperspektive auf die Klimakrise und ihre gesellschaftliche und politische Bearbeitung zu werfen.

Die disziplinäre und inhaltliche Breite spiegelte sich auch im Programm der Tagung: In neun Keynotes und 13 Panels stellten internationale Wissenschaftler*innen ihre Forschung vor. Die Beiträge reichten von quantitativer Forschung über die Geschlechterverhältnisse in Umweltorganisationen über theoretische Beiträge zum Imperativ von feministischen, post- und dekolonialen Interventionen in Klimapolitik bis hin zu intersektionaler Forschung mit dem Fokus auf Klasse und Umweltpolitik sowie der Aufgabe, eine Just Transition voranzubringen. In den Diskussionen nach den Vorträgen und Panels kristallisierten sich einige Themen heraus, die wiederholt diskutiert wurden. Auf vier dieser Querschnittsthemen konzentriere ich mich im Folgenden.

Dekolonisierung von Wissenskonstruktion und -produktion

Fragen nach der Konstruktion und Produktion von Wissen standen in einem Fokus der Konferenz. In ihrer Keynote forderte Farhana Sultana (Syracuse University) eine „feministische Dekolonisierung“ von Klimapolitik sowie eine Theoriebildung „from the ground“ und „from embodied experiences“. Theorie müsse solchermaßen nicht vornehmlich im globalen Norden, sondern überall auf der Welt situiert und produziert werden, wir müssten transnationale Allianzen bilden und diese Dekolonisierung der Wissensproduktion als Prozess verstehen, so ihr Plädoyer.

Unter dem Stichwort des „Wissensextraktivismus“ merkten Teilnehmer*innen an, dass die Rezeption von Theorien aus dem Globalen Süden und praktischer Forschung dort auch dazu führen kann, dass europäische oder US-amerikanische Wissenschaftler*innen sich das situierte Wissen aneignen – ohne dass die Menschen, mit denen sie forschen, davon profitieren. Als weitere Problematik wurde auch die Dekontextualisierung von Theorien aus dem Globalen Süden benannt: So können bei unvollständigem Kontextbezug wichtige Theorieelemente um- und fehlgedeutet werden. Weiterhin wies eine Teilnehmerin in diesem Kontext auch auf die Notwendigkeit eines differenzierten Bezugs auf „dekoloniale“ Ansätze hin. Schließlich werden unter diesem Label Theorien auf der Grundlage sehr unterschiedlicher Kolonialismuserfahrungen beispielsweise in Indien und Südamerika subsummiert – die jedoch verschiedene praktische Implikationen sowie Antworten auf Probleme beinhalten können.

Deutlich wurde in den Diskussionen mit Blick auf die Wissensproduktion, dass die aktuelle, hauptsächlich weiße und westliche Wissensproduktion und -perspektive hinterfragt und verändert werden muss. Ein Teil dieses Prozesses muss dabei auch sein, genau diese weiße und westliche Perspektive zu deprivilegieren und zu verbreitern.

Intersektionalität in der Klimakrise und Klimapolitik

Gender, Race, Class: Diese Analyseperspektiven prägten die theoretischen und empirischen Analysen des Mensch-Natur-Verhältnisses, der Klimakrise, ihren Ursachen und der aktuellen Klimapolitik: Sumudu Atapattu (University of Wisconsin Madison) diskutierte in einer Keynote die verschiedenen Betroffenheiten vulnerabler Communities im Kontext der Klimakrise – beispielsweise Menschen, insbesondere Frauen, die schon heute als Klimaflüchtlinge displaced sind. Als Ursache der Klimakrise machte sie auf der anderen Seite in einer Klassenperspektive den extremen Reichtum und die Klimaverschmutzung der reichsten 200 Milliardäre aus.

Auf der Konferenz wurden diese Perspektiven um Klassismus-Analysen erweitert. Häufig haben wir in der globalen Analyse die Tendenz, Armut als eine Frage des globalen Südens zu sehen. Karen Bell von der University of Glasgow zeigte in ihrer Keynote jedoch, dass auch in Großbritannien und anderen Ländern im globalen Norden Klasse ein großer Einflussfaktor für die Betroffenheit von Umweltverschmutzung ist. Sie zeigte konkrete Einschränkungen für umweltpolitische Maßnahmen bei Menschen, die von Armut betroffen sind, auf: beispielsweise weniger freie Zeit, mehr Stress und weniger finanzielle Mittel. Darauf basierend analysierte sie, welche Umweltpolitiken aus den Lebensumständen heraus eher als problematisch oder als positiv wahrgenommen werden – und demonstrierte somit, warum „Klasse“ als Analysekategorie in der Klima- und Umweltpolitik auch im globalen Norden relevant ist.

Recht haben, Recht setzen: Legal Perspectives on Climate

Rechtliche Fragestellungen rund um Klimakrise- und politik, Geschlecht und Intersektionalität kamen immer wieder zur Sprache. Karen Morrow (Swansea University) beschrieb in ihrem Key-Input zunächst das Recht als „siloed system“, in dem die Klimakrise oder Geschlecht nicht intersektional, sondern immer einzeln in ihrem Rechtsbereich behandelt würden. Denn sowohl Geschlecht als auch die Klimakrise seien breite und komplexe Themen, mit denen nun in einem Rechtssystem umgegangen werden muss, dass nicht für sie konzipiert wurde. Rechtliche Perspektiven setzten sehr stark im Status quo an – und seien damit einerseits limitiert, könnten auf der anderen Seite aber konkrete Verbesserungen erreichen. Gerade auf der internationalen Ebene hätten Rechte bspw. wenig verbindlichen Umsetzungsdruck, könnten aber das Image von Staaten schädigen und diese so unter Druck setzen. Internationale rechtliche Rahmensetzungen seien, so Morrow, kein einfacher Hebel für Veränderung, aber dennoch ein vielversprechender.

Dieser eher positiven Sichtweise stand im Rahmenprogramm der Konferenz eine Lecture Performance unter dem Titel „Response_ability on Trial“ gegenüber: Die Künstler*innen und Wissenschaftler*innen setzten sich in einer Rap-Performance, visuellen und gesprochenen Textelementen mit dem „rechtlichen Anthropozän“ auseinander und warfen dabei kritische Fragen auf: Wessen Interessen werden im Rahmen von Rechten aufgenommen – wer hat Zugang zum Recht, wer wird gehört und wer marginalisiert? Sie problematisierten so die aktuelle rechtliche Rahmensetzung im Interesse der Mächtigen und hinterfragten auch die Rolle von Wissenschaft_ler*innen in diesem System.

Vom Wissen zum Handeln: Austausch mit Aktivist*innen

Einige Keynotes und Beiträge beschäftigten sich konkret mit der Umsetzungsperspektive von Klimaschutzmaßnahmen in politischen Institutionen und insbesondere den Vereinten Nationen. Darüber hinaus luden die Veranstalterinnen zur Konferenz und einer abendlichen Diskussion am ersten Tag Klima-Aktivist*innen ein, um Umsetzungsperspektiven zu debattieren.

Auf dem Diskussionspodium wurden nicht nur Unterschiede zwischen Wissenschaft und Aktivismus, sondern auch unterschiedliche Perspektiven innerhalb der aktivistischen Debatte sichtbar: Auf der einen Seite argumentierten Sara Bahadori (BIPoC Referat Bonn) und Sulti (non-binary activist) für ein Aktivismusverständnis, in dem von Rassismus betroffene Menschen auch im Klimaaktivismus stark im Vordergrund stehen sollten. Ein Hauptansatzpunkt waren dabei die Besetzung von Sprechpositionen und die Sichtbarkeit von People of Color im öffentlichen Raum. Auf der anderen Seite positionierte sich Stefanie Brander (Senior Women for Climate Protection, Schweiz) stärker für konkrete rechtliche Aktionen und Aktionsformen. Sie gehört zu einer Organisation von Frauen in der Schweiz, den Klima-Senior*innen, die über Klagen Klimaschutz durchsetzen. Während Sara Bahadori und Sulti „intersektionale Kämpfe“ forderten, fragte Stefanie Brander, was das konkret in der aktivistischen Praxis bedeute: „Mit wem wollt ihr für was kämpfen?“

Nicht zuletzt wurde auch in Panel-Diskussionen die Position von Wissenschaftler*innen selbst thematisiert: Wie sollten Professor*innen mit ihren zeitlichen und finanziellen Privilegien sowie ihrer besonderen Rolle in der Wissensproduktion umgehen? Sollten sie versuchen individuell etwas abzugeben oder aber ihre Position möglichst „gut“ im Sinn des feministischen und dekolonialen Wandels nutzen? Diese Fragen beschäftigen die Teilnehmenden auch über die Konferenz hinaus. Ein Band, der im Frühjahr 2024 bei Routledge erscheint, wird die Hauptvorträge der Tagung dokumentieren und so die wissenschaftliche Debatte fortführen.

Zitation: Inken Behrmann: Das Mensch-Natur-Verhältnis in der sozial-ökologischen Krise, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 19.09.2023, www.gender-blog.de/beitrag/sozial-oekologische-krise/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230919

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Inken Behrmann

Inken Behrmann ist Politik-, Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin. Derzeit promoviert sie an der Universität Bremen zu Regierungsweisen und Subjektivierungen im Kontext von Wasserknappheit in Deutschland. Ihre Forschungsinteressen sind Demokratie- und Hegemonietheorie, Energiepolitik und Wasserinfrastruktur. Auf dem Campact-Blog schreibt sie monatlich Texte gegen das Patriarchat.

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