Skip to main content
Headergrafik: Mirko Raatz/Adobe-Stock

Themenwochen , Zeit

Zeit und Geschlecht: ungleich verteilter Zeitwohlstand im Lebensverlauf

06. November 2023 Elisabeth Schilling

Ob Zeit gleich Geld ist, mag umstritten bleiben. Dass es aber Zeitwohlstand gibt, der entlang der Geschlechtergrenze ungleich verteilt ist, wird in diesem Beitrag diskutiert. Grundsätzlich hat jeder Mensch, unabhängig vom Geschlecht, die gleiche Ressource von 24 Stunden pro Tag zur Verfügung. Alle Menschen müssen Zeit für Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen, Arbeit und soziales Leben investieren. Bei genauerer Analyse allerdings zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf die Zeit. Frauen und Männer leben unterschiedlich lang und haben somit unterschiedlich viel Zeit in ihrem Leben. Gleichzeitig verwenden sie diese Zeit ihres Lebens sehr unterschiedlich: Verschiedene Ausbildungs- und Berufswege, Freizeitpräferenzen und unbezahlte Verpflichtungen machen Ungleichheitsdimension auch in Bezug auf Zeit sehr bedeutsam. Nicht immer sind ihre Zeitverwendungsentscheidungen selbstgewählt. Oft sind sie von außen auferlegt und erzwungen und können weitreichende Konsequenzen für den weiteren Lebensverlauf haben.

Perspektiven auf Zeit und Geschlecht

Die Beziehung zwischen Zeit und Geschlecht kann aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Zum einen können wir den Lebensverlauf analysieren. Zum anderen ist der berufliche Werdegang für die Herstellung und Zementierung ungleicher Verhältnisse hochrelevant, insbesondere die Zeit der Erwerbstätigkeit. Darüber hinaus lassen sich Unterschiede in Bezug auf die Zeitnutzung bei verschiedenen Aktivitäten im Tagesverlauf sowie über längere Phasen – Wochen, Monate oder Jahre – im gesamten Leben feststellen.

Die Auswahl und die Menge an Aktivitäten unterscheidet sich hier entlang der Geschlechtergrenze. Es wäre auch wichtig, hier die Zusammenhänge zwischen der unterschiedlichen Zeitverwendung und anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit zu berücksichtigen, etwa finanzielle Ressourcen, Selbstbestimmung oder Stress bzw. physische und psychische Gesundheit. Die folgende Darstellung folgt einem typischen Lebensverlauf im gegenwärtigen Deutschland.

Zeitverwendung von Kindern und Jugendlichen

Bereits in den jungen Jahren zeigen sich unterschiedliche Interessen von Jungen und Mädchen, die sich in der unterschiedlichen Zeitverwendung für verschiedene Freizeitaktivitäten zeigen. Laut Zeitbudgetstudien des statistischen Bundesamtes (Wirth 2017, S. 121) verwenden Mädchen im Alter zwischen 10 und 17 Jahren deutlich mehr Zeit für soziale Tätigkeiten während Jungen körperliche Aktivitäten oder technische (und sonstige) Hobbies, Sport und Spiele favorisieren. Außerdem verrichten heranwachsende Mädchen deutlich mehr Hausarbeit (durchschnittlich 67 zu 47 Minuten täglich), wovon sie sich eine zusätzliche Zeit erholen müssen. Diese Zeit fehlt anschließend an anderen Stellen, zum Beispiel für die eigenen Interessen und Hobbies. Wie freiwillig diese Wahl der Freizeitaktivitäten ist, geht aus der Studie nicht hervor. Allerdings wird darin vermutet, dass es sich dabei um das Lernen am Modell handelt und dass die Kinder dabei geschlechtsspezifische Zeitverwendung ihrer Bezugspersonen (in der Regel Eltern) nachahmen. Dies geschieht teilweise unbewusst, sodass die Frage nach der Freiwilligkeit nicht ganz korrekt wäre. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch internationale Zeitverwendungsstudien (vgl. Gershuny/Vega-Rapun/Lamote (2020); Eurostat 2022).

Berufswahl

Diesen Pfad verfolgen Heranwachsende auch bei der Wahl ihrer beruflichen Ausbildung. Frauen und Männer wählen unterschiedliche Branchen für ihre spätere Erwerbstätigkeit. Männer entscheiden sich häufiger für technische Berufe und Frauen für soziale Berufe. Diese Entscheidung über die Zeitverwendung im Beruf hat weitreichende Konsequenzen. Denn wenn man die Bezahlung in verschiedenen Branchen und Berufen betrachtet, so scheint die Zeit in technischen Berufen mehr wert zu sein. Obwohl viele soziale Berufe systemrelevant und unverzichtbar sind, ist ihre Ausübung mit finanziellen Nachteilen verbunden.

Gender Time Gap

Auch nach der Ausbildung weist der berufliche Lebenslauf deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der Zeitverwendung auf. Nach Berechnungen des Eurostat (Eurostat 2022) existiert in allen EU-27 Ländern ein sog. Gender Time Gap, ein Indikator, der die Differenz zwischen der durchschnittlichen Arbeitszeit von abhängig beschäftigten Frauen und Männern berechnet. In Deutschland ist diese Differenz am dritthöchsten (nach den Niederlanden und Österreich) und betrug 7,7 Stunden pro Woche im Jahr 2021 (WSI 2023). Auch wenn diese Kennzahl in den letzten Jahren immer geringer wird, bleibt die zeitbezogene Ungleichheit bestehen.

Noch vor kurzem waren die Lebensverläufe vieler Frauen mit Kindern von einem Drei-Phasen-Modell geprägt: Nach der Ausbildung und anschließendem Berufseinstieg folgte oft eine mehrjährige Erwerbspause nach der Geburt des ersten Kindes, um sich um Kinder und den Haushalt zu kümmern, gefolgt von einer Teilzeiterwerbstätigkeit (vgl. Beckmann 2020). Nun sind die Unterbrechungen kürzer geworden und die Phasen der Teilzeitarbeit seltener. Dennoch unterscheidet sich der Lebenslauf von Müttern drastisch von dem Lebenslauf der kinderlosen Frauen. Dagegen unterscheidet sich der Lebenslauf eines Vaters im Durchschnitt kaum von dem eines kinderlosen Mannes, obwohl Männer zunehmend häufiger Elternzeit in Anspruch nehmen. Auch die Reduktion der Arbeitsstunden ist bei Männern mit Kindern eher selten. Durchschnittlich arbeiten Väter sogar mehr Stunden in der Woche als kinderlose Männer (Panova et al. 2017).

Gender Care Gap

Betrachtet man die tägliche Zeitverwendung in dieser Lebensphase, werden auch geschlechtsspezifische Unterschiede sichtbar. Im Vergleich zu Männern wenden Frauen mit Kindern in der rush hour of life deutlich mehr Zeit für Pflegeaufgaben auf (Panova et al. 2017). In den letzten Jahren deuten sich einige Veränderungen bei der Gestaltung des Alltags in jungen Familien an: Die Anzahl der Arbeitsstunden, die von Frauen und Männern im Haushalt geleistet werden, bewegt sich aufeinander zu. Dennoch weisen die aggregierten Durchschnittszahlen noch auf deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern hin (Panova et al. 2017, S. 51f.). Im Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (2019) wurde der Begriff Gender Care Gap eingeführt, der eine geschlechtsspezifische Lücke im zeitlichen Aufwand für unbezahlte Sorgearbeit bezeichnet. Dies beinhaltet sämtliche unbezahlte Arbeiten im Haushalt, Kinderbetreuung, Sorge für pflegebedürftige (ältere) Erwachsene und auch das ehrenamtliche Engagement (vgl. Allmendinger 2021, S. 45). Die letzte Zeitverwendungserhebung 2012/2013 stellte fest, dass Frauen für die unbezahlte Arbeit im Haushalt durchschnittlich 3:49 aufwenden, während Männer für diese Aktivitäten durchschnittlich nur 2:24 Stunden täglich verbrauchen (Statistisches Bundesamt 2015, S. 145). Das sind 85 Minuten Unterschied oder ein Gap von 62,8 %.

Finanzielle Ungleichheit und soziale Benachteiligung im Lebensverlauf

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und ihre Auswirkungen auf die Zeitverwendung sind eng mit der gesellschaftlichen Geschlechterordnung verbunden. Unsere Gesellschaftsstrukturen beruhen auf der Trennung von Erwerbs- und Sorgearbeit, die sich auf geschlechtsspezifische Zuordnungen ausgeweitet hat. Auch jenseits der Phase der Familiengründung bleiben einige Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen. Frauen sind weniger Stunden erwerbstätig und arbeiten häufiger in Teilzeit (vgl. Beckmann 2020). Es lässt sich also festhalten: Männer wenden mehr Zeit für bezahlte Arbeit auf, Frauen investieren mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Verhältnis zwischen Zeit und Geschlecht in verschiedenen Bereichen über das ganze Leben besteht. Insbesondere in der Sorgearbeit zeigen sich die Unterschiede in der Zeitverwendung von Frauen und Männern. Diese Unterschiede wirken sich auf viele Aspekte aus und haben u. a. finanzielle Ungleichheit und soziale Benachteiligung zur Folge.

Literatur

Allmendinger, Jutta (2021), Es geht nur gemeinsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen, Berlin: Ullstein.

Beckmann, Sabine (2020), Geschlecht. In: Schinkel, Sebastian/Hösel, Fanny/Köhler, Sina-Mareen/König, Alexandra/Schilling, Elisabeth/Schreiber, Julia/Soremski, Regina/Zschach, Maren (Hg.), Zeit im Lebensverlauf. Ein Glossar. Bielefeld: transcript, S. 155–160. https://doi.org/10.14361/9783839448625-025

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2019), Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Eine Zusammenfassung. www.bmfsfj.de/resource/blob/122398/87c1b52c4e84d5e2e5c3bdfd6c16291a/zweiter-gleichstellungsbericht-der-bundesregierung-eine-zusammenfassung-data.pdf [abgerufen am 19.10.2023].

Eurostat (2022), Household Budget Surveys (HBS) – Overview. https://ec.europa.eu/eurostat/web/household-budget-surveys [abgerufen am 19.10.2023].

Gershuny, Jonathan/Vega-Rapun, Marga/Lamote, Juana (2020), Multinational Time Use Study. Centre for Time Use Research, UCL IOE, University College London.

Panova, Ralina/Sulak, Harun/Bujard, Martin/Wolf, Lisa (2017), Die Rushhour des Lebens im Familienzyklus. Zeitverwendung von Männern und Frauen. In: Statistisches Bundesamt (Hg.), Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland. Wiesbaden, S. 45–63. Abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Zeitverwendung/_inhalt.html#_4t666an6h.

Statistisches Bundesamt (2015): Zeitverwendungserhebung. Aktivitäten in Stunden und Minuten für ausgewählte Personengruppen. Zeitverwendung 2012/2013. Wiesbaden.www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Zeitverwendung/Publikationen/Downloads-Zeitverwendung/zeitverwendung-5639102139004.pdf?__blob=publicationFile (abgerufen am 26.10.2023)

Wirth, Heike (2017), Die Zeitverwendung von Kindern und Jugendlichen – Lernen am Modell? Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Zeitverwendung für Haushaltstätigkeiten. In: Statistisches Bundesamt (Hg.), Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland. Wiesbaden, S. 117–134. Abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Zeitverwendung/_inhalt.html#_4t666an6h.

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) (2023), Zeit. https://www.wsi.de/de/zeit-14621.htm [abgerufen am 19.10.2023].

Zitation: Elisabeth Schilling: Zeit und Geschlecht: ungleich verteilter Zeitwohlstand im Lebensverlauf, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 06.11.2023, www.gender-blog.de/beitrag/zeit-geschlecht-zeitwohlstand/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231106

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Mirko Raatz/Adobe-Stock

Elisabeth Schilling

Elisabeth Schilling ist Professorin für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Abteilungen Köln (bis 2012) und Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Zeit, Bildung, Migration, Gender, Biografie und Verwaltung. Aktuell leitet sie u. a. ein Projekt zum Thema „Zeitperspektive und die Arbeitsmarktintegration traumatisierter Geflüchteter aus der Ukraine“.

Zeige alle Beiträge

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.