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Big Data und das Wissen über Frauenwirklichkeiten

09. März 2021 Anne Schlüter

Es gibt nicht nur einen Gender Pay Gap, sondern in großem Ausmaß auch einen Gender Data Gap. Lücken des Wissens sind für alle Lebens- und Forschungsbereiche feststellbar, auch wenn die Frauenpolitik und die Frauen- und Genderforschung schon manche von ihnen gefüllt haben. Seit Jahrzehnten werden Gleichstellungsberichte verfasst, in denen auf Basis erhobener Daten auf Ungerechtigkeiten hingewiesen wird, doch noch immer finden sich weiße Flecken auf der „Landkarte“ der gegenwärtigen Wissensgesellschaft.

Forscher*innen haben – verstärkt seit den 1970er-Jahren – durch ihre Untersuchungen und Analysen Wissen über Frauen und deren Lebensbedingungen geschaffen. Sie kritisierten damit auch die herrschende Wissenschaft, weil diese lediglich die „Männerwelt“ im Blick hatte. Durch die Einführung von Computern ist es möglich geworden, viele Daten zu erzeugen und diese – auch international – zu nutzen, um zu Aussagen über menschliche Lebensverhältnisse zu kommen. Solche Daten liegen auch dem 2020 erschienenen Buch Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert von Caroline Criado-Perez zugrunde, das aus der Frage nach der Repräsentanz von Frauen im Internet entstanden ist.

Daten – Zahlen – Fakten

Die Autorin und Rundfunkjournalistin Caroline Criado-Perez, 1984 geboren, fragt: „Sind Frauen dafür prädestiniert, vergessen zu werden?“ (S. 47). Und sie behauptet auf der Basis ihrer Recherchen: Die Welt ist nicht für Frauen gemacht. Ihre Position gewinnt sie durch die Kritik am Selbstverständnis der männlichen Bevölkerung, die die Objektivität für die Erfassung der Realität für sich beanspruche und die von Frauen eingebrachten feministischen Perspektiven auf die Lebensgestaltung als ideologisch ablehne. Das männliche Selbstverständnis führte in der Vergangenheit dazu,  dass Frauen und Frauenleben als privat und bedeutungslos abgestempelt und damit in die Unsichtbarkeit gedrängt worden seien. Das „Mannsein als Maßstab“ für alles habe sogar zur Folge gehabt, dass Beschwerden vonseiten der Frauen über fehlende Berücksichtigung Erstaunen ausgelöst hätten, die in dem Satz gipfelten: „Warum kann eine Frau nicht mehr wie ein Mann sein?“ (S. 172f.). Männer sind es gewohnt, dass Frauen sich in jeder Hinsicht anpassen bzw. sich „zurechtbiegen“ lassen, sodass man ihre auch körperlichen Besonderheiten und Maße nicht extra berücksichtigen muss.

Aus dieser Perspektive scheint die Welt in spezifischer Weise für solche Frauen geschaffen, die es aushalten, in ihren Lebensbedürfnissen und Ansprüchen übersehen zu werden. Denen es nichts ausmacht, an der Seite von Männern und für deren berufliche Karrieren zu leben und sogar mit männlichem Maßstab bewertet zu werden. Deren Körper zwar begehrt werden, über deren Körper aber gleichzeitig wenig Wissen besteht, weil sich viele medizinischen Untersuchungsergebnisse ausschließlich auf Männer beziehen. Denn nur Männer waren lange Zeit Objekte medizinischer Forschungsprojekte. Wenn es zu wenig Zahlen über Frauen gibt, so kann angenommen werden, dass die statistisch gewonnenen Algorithmen auch mit zu wenig Wissen über Frauen entstanden sind, d. h., die Algorithmen können keine angemessenen Daten über Frauenalltag und Frauenleben generieren.

Datenlücken und Leerstellen

Das Buch beginnt mit dem Satz: „Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke“ (S. 11). Und es endet auf der letzten Seite mit der Forderung: „Wir müssen die Lücke in der Repräsentation von Frauen schließen“ (S. 419). Dazwischen liegen 400 Seiten, auf denen die vielen Leerstellen verdeutlicht werden.

Diese Leerstellen beziehen sich auf die Situation von Frauen und Männern im Alltagsleben, am Arbeitsplatz, im Umgang mit Instrumenten, in Bezug auf Technik und Technologien, beim Ärzt*innenbesuch, im öffentlichen Leben und bei der Bewältigung von Katastrophen. Zwar existieren keine nach Geschlecht aufgeschlüsselten Daten für jedes Land, doch ist erstaunlich, was Caroline Criado-Perez aus verschiedenen Ländern zusammentragen konnte. In vielen Ländern ist aufgrund von politischen Initiativen einiges bewegt worden. Und natürlich gab es oft Widerstand und Ungläubigkeit, wenn Frauen forderten, dass ihre Lebensbedingungen zu berücksichtigen seien.

Kann Schneeräumen sexistisch sein?

Hier sei ein Beispiel aus Schweden beschrieben: Die Gleichberechtigungsinitiative im schwedischen Karlskoga forderte 2011, dass die gesamte Stadtpolitik durch eine „Genderbrille“ neu betrachtet werden sollte. Dies geschah. Nach Prüfung vieler Bereiche scherzte ein Behördenmitarbeiter, dass wenigstens das Schneeräumen davon nicht betroffen sein könne: „Kann Schneeräumen sexistisch sein?“ (S. 51).

In Karlskoga wurden damals zuerst die Hauptverkehrsadern vom Schnee befreit; Geh- und Fahrradwege kamen zuletzt an die Reihe. Davon waren Männer und Frauen in verschiedener Weise betroffen, weil sich Männer und Frauen oftmals unterschiedlich fortbewegen. Männer benutzen für die einfachen Wege zum Arbeitsplatz und zurück häufig ihr Auto. Frauen erledigen 75 Prozent der unbezahlten Carearbeit und sind dabei nicht selten zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Zudem haben sie sich neben der Fahrt zur Arbeit vielfach auf mehrere Wege zu machen, um Kinder zur Schule zu bringen, Ältere zu Ärzt*innen und auf dem Heimweg noch Einkäufe zu erledigen. Während der Wintermonate ereignen sich wegen Glätte viele Unfälle, wobei es sich vor allem um Fußgänger*innen handelt. Mehrheitlich waren davon Frauen betroffen. Die damit verbundenen Ausfälle verursachten nicht allein Kosten im Gesundheitsbereich, sondern auch Produktionseinbußen – und die waren im Winter doppelt so hoch wie die Kosten für die Instandhaltung der Wege und Straßen.

Nachdem die Verkehrsabteilung die Wege mit speziellen Maschinen räumte, gingen die Unfälle um die Hälfte zurück. Es zeigt sich damit, dass die Lebensverhältnisse von Frauen verbessert werden können, wenn sie konsequent in die Planungen einbezogen werden.

Debatten über Geschlechterverhältnisse sind weiterhin notwendig

Mittlerweile werden in öffentlichen Debatten – intensiviert durch die Auswirkungen der Coronapandemie – die Strukturbedingungen für Frauenarbeit und Frauenleben stärker in den Blick genommen. Frauen verdienen weniger als Männer. Frauen sind häufiger im Carebereich beschäftigt. Frauen leiden öfter unter sexuellen Übergriffen und zeigen diese aus Scham und Sorge selten an. Frauen leisten wesentlich mehr Haus- und Erziehungsarbeit als Männer. Frauen gehen häufiger zu Fuß und benutzen öffentliche Verkehrsmittel.

Änderungen zugunsten von Frauen treten nur langsam ein. Dabei könnte eine geschlechtersensible Stadtplanung das Risiko sexueller Übergriffe reduzieren. Die Verletzung des Rechts auf öffentlichen Raum und die Gefahr von Unfällen könnten minimiert werden. Ängste schränken die Mobilität von Frauen ein. Criado-Perez zitiert Studien, die die Angst von Frauen, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, zum Thema machen (S. 82ff.). Die offiziellen Kriminalitätsstatistiken geben keinen Aufschluss über solche Verhaltensweisen, deshalb müsste man Frauen danach fragen. Sie haben Wissen über sich und ihre Lebenswelt.

Doch wir leben immer noch in einer männlich strukturierten und dominierten Welt, die ihren symbolischen Ausdruck in vielen Bildern findet. Denn wie viele Geldscheine zeigen Frauen? Wie viele Briefmarken weisen Frauenporträts auf? Wie viele Denkmäler sind Frauen gewidmet? Wie viele Straßen sind nach Frauen benannt? Und in wie vielen Geschichts- und Lehrbüchern fehlen die Leistungen von Frauen?

Rückblick in die Zukunft

Blickt man zurück in die Geschichte, lässt sich resümieren, dass viele Aktionen von Frauen nur mit langem Atem erfolgreich waren. Beharrlich für Veränderungen einzutreten, braucht immer wieder die Erinnerung daran, dass Frauen in dieser Gesellschaft Rechte haben und nicht nur Pflichten. Es braucht Bücher wie das hier vorgestellte, um Frauen sichtbar zu machen. Caroline Criado-Perez ist nicht allein mit diesem Anliegen.

Frauen sind Akteurinnen. Sie streiten und konkurrieren zwar untereinander, aber sie kooperieren auch miteinander – wie neuere Veröffentlichungen zeigen (Schlüter et al. 2020). Sie sollten ihre eigene Geschichte nicht vergessen. Sie wird ihnen zwar in großen Teilen verschwiegen, aber es gibt sie! (vgl. Schlüter 2020).

Das Buch Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert von Caroline Criado-Perez ist 2020 bei btb erschienen.

Literatur

Criado-Perez, Caroline (2020): Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. München: btb.

Schlüter, Anne (2020): Entwurf für eine neue Vergangenheit – Warum die Frauenbewegungen zur Disziplingeschichte gehören. In: Olaf Dörner/Anke Grotlüschen/Bernd Käpplinger/Gabriele Molzberger/Jörg Dinkelaker (Hrsg.): Vergangene Zukünfte – neue Vergangenheiten. Geschichte und Geschichtlichkeit der Erwachsenenbildung. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 285–297. https://doi.org/10.2307/j.ctv16t674x.26

Schlüter, Anne/Metz-Göckel, Sigrid/Mense, Lisa/Sabisch, Katja (Hrsg.). (2020): Kooperation und Konkurrenz im Wissenschaftsbetrieb. Perspektiven aus der Genderforschung und -politik. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. https://doi.org/10.2307/j.ctv16x2bbx

Zitation: Anne Schlüter: Big Data und das Wissen über Frauenwirklichkeiten, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 09.03.2021, www.gender-blog.de/beitrag/big-data-wissen-frauenwirklichkeiten/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210309

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Prof. (i. R.) Dr. Anne Schlüter

Prof. (i. R.) für Weiterbildung und Frauenbildung. Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin mit den Lehr- und Forschungsschwerpunkten Bildungs- und Ausbildungsgeschichte, Biographieforschung u. a. zu Bildungsmobilität, Frauen in Leitungsfunktionen im Erwachsenenbildungsbereich, Erwachsenenbildung/Bildungsberatung und Mentoring. Herausgeberin der Reihe „Weiterbildung und Biographie“, Mitherausgeberin der Zeitschrift GENDER.

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