19. Oktober 2021 Lea Rabe
Der Frauenanteil im neu gewählten 20. Bundestag ist wieder leicht gestiegen. 34,7 % der Abgeordneten sind weiblich – unter ihnen auch erstmalig zwei offen lebende trans Frauen. Der Anstieg lässt sich vor allem auf die Stimmenzuwächse bei den GRÜNEN zurückführen. Dennoch sind Frauen, verglichen mit der Gesamtbevölkerung, zahlenmäßig unterrepräsentiert. Das liegt an den Nominierungsverfahren und einer maskulinisierten Parteikultur, die Interessentinnen nach wie vor abschreckt und vor Vereinbarkeitsprobleme stellt. Die Analyse des Wahlergebnisses zeigt: Parteiinterne Wahllistenquotierungen bringen zwar mehr Frauen ins Parlament, doch nur parteiübergreifende Maßnahmen können zur Geschlechterparität führen. Ist ein Paritätsgesetz eine Lösung?
Innerparteiliche Quotierungen: Motor für geschlechtergerechte Repräsentanz
Nach dem Absacken in der 19. Legislaturperiode ist der Frauenanteil nun wieder angestiegen, erreicht allerdings nicht den Spitzenwert der Wahl 2013. Die GRÜNEN praktizieren seit 1986 eine paritätische Mindestquotierung für alle Wahllisten. SPD und LINKE zogen nach. Geschlechterquoten auf den Landeslisten führen zu einem gesteigerten Frauenanteil im Parlament. Das zeigt der in der Abbildung erkennbare Zuwachs von 1987 bis 1998, der mit den Quotenbeschlüssen zusammenfällt. Dieser Effekt hängt jedoch maßgeblich vom Wahlerfolg der Quotenparteien ab. Daher pendelt sich der Frauenanteil seit einigen Jahren um die 30 % ein und erreicht somit kein paritätisches Level. Der „Ausreißer“ nach oben in der 18. Wahlperiode kann mit dem Ausscheiden der männerdominierten FDP und dem relativ hohen Sitzanteil der Quotenparteien (50,7 %) begründet werden. In der anschließenden 19. Wahlperiode – der des „historischen Tiefs“ des Frauenanteils – waren es nur noch 30,9 % (Bundeswahlleiter 2017). Mit der FDP und AfD zogen damals zwei Parteien ohne Quotenregelungen und wenigen weiblichen Abgeordneten in den Bundestag (wieder) ein; der Frauenanteil sank. Im neuen Bundestag halten die Quotenparteien gemeinsam 49,4 % der Sitze.
Einzig die GRÜNEN nominierten auch in den Wahlkreisen paritätisch. Insofern machen sich deren erhebliche Zuwächse bei den Erststimmen (+5,9 Prozentpunkte), aber auch den Zweitstimmen (+5,8% Prozentpunkte) am Frauenanteil im Bundestag bemerkbar. Der größte Zustrom kam aus dem CDU-Lager. Dieses verließen vor allem Wählerinnen: Ein Effekt der Verabschiedung Merkels? Die Union warb jedenfalls vermehrt um weibliche Stimmen: Überraschenderweise quotierte auch die CSU ihre Wahlliste erstmals paritätisch.
Ungleichheit bei der Kandidat:innennominierung
Ausschlaggebend für den Frauenanteil unter den Gewählten ist allerdings nicht nur die Zahl der Nominierungen in den Wahlkreisen und auf den Listen, sondern auch deren „Qualität“.
Wahlkreise können, entsprechend den Ergebnissen vorheriger Wahlen, aussichtsreich oder weniger aussichtsreich sein. SPD (25 %) und CDU (21,1 %) nominierten Frauen deutlich seltener und erkennbar häufiger in aussichtsloseren Wahlkreisen (John/Bergen 2021). Aufgrund des hohen Direktmandatsanteils (73 %) unter den Unionskandidaturen ist allein die Wahlkreisvergabe bei der CDU von großem Einfluss für die Repräsentativität des neu gewählten Parlaments. Die SPD nominierte Kandidatinnen vermehrt auch in vorher nur knapp verlorenen Wahlkreisen; möglicherweise ein weiterer Grund für den Positivtrend beim Gesamtergebnis, denn die SPD gewann an Erststimmen (+1,8 Prozentpunkte) vor allem von der CDU, dazu (Neu/Pokorny 2021).
Bei den Listen zeichnen sich positive Effekte insbesondere bei der Quotierung nach dem Reißverschlusssystem ab. Ein entsprechender Trend war bei der SPD zu beobachten: Diese nominierte auf den Listen zwar nur 44,3 % Frauen, auf aussichtsreichen Plätzen allerdings 48,4 %.
Geschlechtergerechter Anstrich
Wie das geht, zeigte die NRW-SPD: Zwar setzte sie auf die Liste nur 27 % Frauen, vergab die ersten 45 Plätze aber nach dem Reißverschlussprinzip (EAF Berlin 2021). Ob eine Nominierung auf der Liste aussichtsreich ist, hängt neben dem Listenplatz auch von der zu erwartenden Verteilung der Erst- und Zweitstimmenergebnisse ab. Denn der nach dem Zweitstimmenergebnis zu besetzende Anteil an Mandaten wird bei der personalisierten Verhältniswahl zunächst über die Direktmandate aufgefüllt, bevor auf die Liste zurückgegriffen wird (§ 6 I, VI BWahlG). So können die Parteien unter Berücksichtigung ihrer „üblichen“ Ergebnisse den Frauenanteil unter den aussichtsreichen Kandidaturen beeinflussen und ihrer Nominierung einen geschlechtergerechten Anstrich geben, ohne die Mandatschancen für Frauen tatsächlich zu erhöhen. Insofern ging von der CSU-Listenparität allenfalls symbolische (wenn nicht vor allem wahltaktische) Wirkung aus; keine der Listenfrauen schaffte es ins Parlament. Die CSU generiert ihre Mandate regelmäßig über die Erststimmen.
Parteimitgliedschaften: Ist die Politik (k)ein Ort für Frauen?
In allen Parteien – außer der CDU und AfD – überstieg der Frauenanteil unter den Gewählten den der Parteimitglieder. In den Quotenparteien müssen sich Frauen bei einer Listenwahl nach dem Reißverschlussprinzip gegen weniger Konkurrenz durchsetzen, als ihre Kollegen: Denn auf das vorbehaltene 50-Prozent-Kontingent kommen weniger Wahlbewerberinnen als Bewerber. Frauen haben höhere Wahlchancen als Männer. Dass im Vergleich zur Bevölkerung dennoch zu wenig Frauen im Bundestag sitzen, liegt neben den Hürden des Nominierungsverfahrens am Frauenmangel in den Parteien (Niedermayer 2020). Dieser ist historisch erwachsen.
Die Parteipolitik ist zugeschnitten auf den Archetyp des von unbezahlter Arbeit unbelasteten, männlich gedachten Individuums: Die vergeschlechtlichte Trennung der „öffentlichen“ und „privaten“ Sphäre in der bürgerlichen Gesellschaft codierte Staatlichkeit männlich und verwies Frauen auf ihren vermeintlich „natürlichen“ Platz in der Familie (Pateman 1988; Rodríguez-Ruiz/Rubio-Marín 2012). Trotz einiger Fortschritte wird diese Dichotomie bis heute fortgetragen (Schmidt 2012; Abels/Ahrens/Blome 2018): Frauen leisten nach wie vor täglich eineinhalb Stunden mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer und geben signifikant häufiger an, die Hauptverantwortung im Haushalt zu tragen (BMFSJ 2017). Das Thüringer Babygate illustrierte die Vereinbarkeitsproblematik beispielhaft. Die „demokratische Verspätung“ (Laskowski 2017) der Frauen verstärkt das alles: Old-boys-Netzwerke durchziehen politische Strukturen. Sie kooptieren den Nachwuchs homosozial und schreiben die „Spielregeln“ der Parteipolitik (Holtkamp/Schnittke 2010). Sie terminieren Veranstaltungen und Sitzungen in den Abendstunden und am Wochenende – klassischen Familienzeiten, in denen Sorgearbeit Leistende besonders gefragt sind – und treffen die eigentlichen Entscheidungen häufig erst anschließend in den inoffiziellen ‚Gasthausrunden‘ (Davidson-Schmich 2016). Zudem ist der politische Raum nicht frei von Sexismus.
Paritätsgesetz als Lösung? Von der Notwendigkeit der Umverteilung
Die Abschreckungs- und Exklusionsmechanismen führen zur weiblichen Unterrepräsentanz in den Parteien, die sich in den Bundestag übersetzt. Daher diskutieren Politik, Medien und Wissenschaft seit einiger Zeit über Paritätsgesetze (Rabe 2021). Die obligatorische Reißverschlussquotierung soll parteiübergreifend zu einer fairen Listenaufstellung und zu inneren Umstrukturierungen führen, damit überhaupt mehr weibliches Personal gewonnen werden kann. Der Zuwachs an Zweitstimmen bei den GRÜNEN, die bei dieser Wahl über Dreiviertel ihrer Mandate durch die Listen besetzen, belegt den Effekt der Quoten; dieser ist allerdings beschränkt auf die erststimmenschwachen Parteien. Wie gezeigt wurde, werden Frauen auch bei der Generierung der Direktmandate benachteiligt. Insofern sollten Paritätsforderungen um Überlegungen zur geschlechterdemokratischen Kandidatur auch in den Wahlkreisen ergänzt werden (Brosius-Gersdorf 2019). Der Abbau von Hürden bei der Nominierung kann Frauen motivieren, sich parteipolitisch zu engagieren. Allerdings entlastet das Politiker:innen nicht von der „zweiten Schicht“: Um die Unterrepräsentativität des Bundestages anzugehen, bedarf es Umverteilungsmechanismen bei der vergeschlechtlichen Arbeitsteilung und einer Redefinition des independenten politischen Subjekts (Röhner 2018).
Grafikquellen: Bundeszentrale für politische Bildung; Der Bundeswahlleiter, Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021, Vorläufige Ergebnisse, 2021, S. 401.
Literatur
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Brosius-Gersdorf, Frauke (2019). Ergebnisparität oder Chancengleichheit? Quotenmodelle zur Steigerung des Frauenanteils im Parlament. Zugriff am 07.10.2021 unter https://verfassungsblog.de/ergebnisparitaet-oder-chancengleichheit-quotenmodelle-zur-steigerung-des-frauenanteils-im-parlament/.
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John, Stefanie/Bergen, Jette (2021). Chancen auf eine bessere Repräsentation von Frauen im Bundestag nach der Wahl 2021? Heinrich-Böll-Stiftung. Zugriff am 07.10.2021 unter https://www.boell.de/de/2021/09/21/chancen-auf-eine-bessere-repraesentation-von-frauen-im-bundestag-nach-der-wahl-2021.
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Zitation: Lea Rabe: Mehr Frauen im neuen Bundestag – Eine Analyse aus der Geschlechterperspektive, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 19.10.2021, www.gender-blog.de/beitrag/frauen-im-bundestag/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20211019
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