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Headergrafik: Tom Trambow - Filmstill aus "MUTTER"

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Wenn Mütter sprechen

09. Mai 2023 Petra Schmitz

Die Darstellung von Muttersein in Filmen orientiert sich oft an Konfliktlagen: ungeplante Schwangerschaft, Minderjährige, Abtreibung, Alleinerziehende, Probleme in der Beziehung mit den Partner:innen, eine Geschichte entwickelt sich zwischen den Personen und die Zuschauer:innen nehmen daran Anteil.

Anders geht die Regisseurin und Filmemacherin Carolin Schmitz in ihrem Film mit dem Universalität beanspruchenden Ein-Wort-Titel MUTTER um: sie versammelt acht Berichte zu den alltäglichen Lebenslagen, Wünschen und Belastungen im Leben mit Kindern und dem Muttersein; sie lässt diese O-Töne durch eine einzige Schauspielerin, Anke Engelke, auf der Leinwand darstellen und zeigt sie in äquivalenten Situationen des Alltagslebens – vom Abfallbeseitigen bis zum Wäschefalten.

Vom Individuellen zum Allgemeinen

„Mich interessieren grundsätzlich Phänomene mehr als Geschichten“, sagt Carolin Schmitz im Interview [1] mit mir zu ihrem Film. „Ich wollte keine Einzelschicksale erzählen, sondern Mutterschaft aus mehreren Positionen heraus beschreiben“.

Wie geht sie vor, um einerseits das Dokumentarische einzelner Aussagen stehen zu lassen und andererseits eine Spannung und ein Interesse der Zuschauenden für die Übertragung dieser Aussagen auf die eigenen Erfahrungen herzustellen? Das Konzept und diverse Mittel, mit denen sie einen eigenen Sog im Laufe des Films MUTTER herstellt, sind ungewöhnlich.

Die Berichte sind chronologisch nach den Lebensphasen der Mütter und Kinder geordnet: vom Kinderwunsch über Schwangerschaft und Geburt, über die notwendige Zeiteinteilung zwischen Kinderbetreuung und Beruf, die Einbeziehung von Großeltern, Partner:in oder dem Wunsch, das Kind alleine groß zu ziehen, über die Schulzeit der Kinder, verschiedene Erziehungsstile, Beziehungskonflikte und Trennungen, über die Krisen der heranwachsenden Kinder bis zum Start in ein Leben ohne die Kinder.

Auf der Tonspur sind die Stimmen dieser Mütter zu hören in ihrer eigenen Art zu sprechen, mit Dialektanklängen, in hohen oder tieferen Stimmlagen, mit ihren Versprechern, stolpernden Ansätzen für passende Formulierungen, den „Ähms“ und den „Pffs“. Die Stimmen berichten vom inneren Erleben der Mütter mit ihren Kindern und Partner:innen, von körperlichen Reaktionen auf die Anstrengung Mutter zu sein wie von Arrangements für die zeitliche Aufteilung der Kindererziehung:

„So war das, dass ähm dass die Zwillinge gleich entsprechend aufgeteilt wurden. Die Haushälterin hat sich gefreut, dass sie die Kinder betreuen durfte und wickeln durfte und hhhh am Nachmittag, wenn meine Haushälterin weg war, kamen meine Schwiegerleute und die haben sich natürlich auch riesig gefreut. Ein Kind bei der Oma, ein Kind beim Opa. Und so ging das jeden Tag. Als dann meine Naomi kam, war das mein Kind, das mir keiner mehr wegnehmen durfte.“

„Da gleich darauf kam, da kam die Stefanie im selben Jahr. Also vierein-, vier Kinder innerhalb von viereinhalb Jahren. Und da war an Malen überhaupt nicht mehr zu denken. War nix…“

„Ich kann mich einmal erinnern, dass ich einkaufen ging, Aldi hatte gerade ähhh in der Nähe ein ein Geschäft aufgemacht, ich ging da mit dem, dem Einkaufswagen durch die Regale, der ganze Einkaufswagen war voll. Und dann stand ich in der Schlange, wartete und dann beka- überkam mich eine solche, solche mhm Aggressivität oder oder oder Wut, dass ich einfach den Wagen ganz, den Wagen wo ich alle Sachen, die ich eingekauft hatte, die ich auch benötigte, einfach stehen ließ und mit dem Auto einfach wegfuhr.“ [2]

Diese Zitate aus dem Originaltranskript sind Grundlage für das gewählte Verfahren in diesem Film. Anke Engelke leiht den Stimmen ihren Körper und visualisiert so die Aussagen, bewegt zu den Texten lautsynchron ihre Lippen, geht dabei alltäglichen Verrichtungen der Haushaltsführung nach, die die Kamera (Bildgestaltung Reinhold Vorschneider) in langen Einstellungen ins Bild setzt: Fensterputzen, Bügeln, Blumen arrangieren, Autofahren, Kaninchenkasten säubern und immer wieder auch körperbezogene Instandsetzungsszenen der Mutter selbst vom Baden bis zum Toupieren der Haare.

„Kennenlernen war nie eine Option“

Die Einheit von Aussagen einer Person und ihrer Anwesenheit im Bild gilt im Dokumentarfilm gemeinhin als Nachweis der Echtheit der Personen wie ihrer Aussagen. Carolin Schmitz zerreißt den Zusammenhang, so wie sie dies schon in früheren Filmen gemacht hat, indem sie andere Bilder zu den im Off zu hörenden Erfahrungen ihrer Protagonist:innen zeigt. In MUTTER rekonstruiert die Filmemacherin den Zusammenhang von Ton und Bild nun mit künstlichen Mitteln und das ist neu. Die Zuschauer:innen bemerken dies spätestens nach dem zweiten oder dritten O-Ton, weil die Stimmen in ihrer individuellen Originalität erhalten sind und dies zunächst irritiert. Die Wahrnehmung wird einerseits abgezogen von den Stimmen und wendet sich den Aktionen der sehr gut anzuschauenden Schauspielerin Anke Engelke zu, die betont sachlich und unterkühlt agiert. Andererseits geht die Aufmerksamkeit auf die Stimmen, weil die Berichte den Bildern erst Sinn und Kontext geben.

Die Leistung von Anke Engelke bei der lippensynchronen Wiedergabe der Stimmen ist stupend und die Bewunderung dafür wächst proportional zu den ablaufenden Minuten des Films. Anke Engelke hat Erfahrungen mit der Synchronisation von Stimmen für Animationsfilme. So spricht sie die Rolle der Marge Simpson, der Ehefrau von Hector, in der auf Pro 7 zu sehenden Animationsserie „Die Simpsons“.

In einem Interview im Online Magazin Cinetastic erklärt sie dazu:

„Es dauerte ein paar Wochen, bis ich wusste, wie ich die Stimmen lernen muss. Dann hatte ich drei Monate lang einen strikten Ablauf. Morgens bin ich gelaufen. Ich habe eine 80-Minuten-Strecke. Der Text ist 50 Minuten lang. Ich habe ihn jeden Tag auf dem Kopfhörer beim Laufen einmal ganz durchgehört, immer in der Reihenfolge, wie er später gedreht werden sollte, und dann manchmal zusätzlich in Fragmenten. Dadurch habe ich die Stimmen regelrecht verinnerlicht und in mich rein gesogen. Irgendwann spricht man mit, das ist wie mit Lieblingssongs.“ [3]

Sie wollte die Sprecherinnen nicht kennenlernen noch Fotos von ihnen sehen:

„Kennenlernen war nie eine Option. Aber Carolin hat durchaus gefragt, ob ich noch mehr über die Biografien wissen wollte. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte auch keine Fotos sehen, weil ich mit all dem überfordert gewesen wäre. Ich fand es genug Arbeit, alle Stimmen auswendig zu lernen. Es hätte mich überlastet, wenn während des Lernens noch Filme in meinem Kopf abgelaufen wären. Ich wollte, dass der einzige Film, den ich habe, die Tonspur ist.“ [3]

Abstrakt und doch konkret

Die Wirkung auf die Zuschauenden durch die gewählten Mittel ist frappierend. Statt einer vorschnellen Identifizierung mit Einzelaussagen und ihren Emotionen entsteht Distanz. Dieser Verfremdungseffekt lenkt die Aufmerksamkeit auf vergleichbare Alltagsstrukturen, die die einzelnen Zuschauer:innen im Kinosaal, im Weiteren die Freundin, die eigene Mutter, die Schwester einschließen. Es entsteht eine Reflexionsebene, die Bildertableaus laden den Blick ein, über die Kinoleinwand zu wandern und nach Details der Ausstattung und der Verkörperung des Mutterseins durch die Schauspielerin zu suchen, die mit der eigenen Situation vergleichbar wären. Carolin Schmitz stellt durch diese Mittel eine Überhöhung der Bilder her, die an das Theater erinnern.

Zugleich legt der Film den Zuschauenden seine Mittel offen, er zeigt Tonspur und Bildspur getrennt und wie durch die Montage (Stefan Oliveira-Pita & Annett Kiener) neue Zusammenhänge und Aussagen geschaffen werden. Zugleich bleiben Räume für die Zuschauenden offen, in denen eigene Erfahrungen ergänzt werden können. In seinem Aufsatz „Die realistische Methode und das sogenannte ‚Filmische‘“ hatte Alexander Kluge dies schon 1975 für den Dokumentarfilm gefordert [4]. Die Methode, die Carolin Schmitz mit diesem Film entwickelt, ist jedoch auch Alexander Kluge nicht eingefallen.

Das Offenlegen der filmischen Mittel setzt sich im Abspann fort, die Namen zu den „Originalstimmen“ werden veröffentlicht, die interviewten Frauen waren damit einverstanden und sie bestätigen auf diese Weise ihre Berichte, die sie der Filmemacherin mitgeteilt hatten.

Dokumentarfilm oder Spielfilm?

Carolin Schmitz sagt im Interview: „Der Film war schwer zu finanzieren. Niemand konnte sich vorstellen, was das werden soll“ [1]. Im weiteren Verlauf des Films variiert sie die Verbindung von oralen Berichten und visuell inszenierten Situationen und lässt die Schauspielerin Anke Engelke zur Bühnenfigur werden; sie dreht einige der Aussagen als Theaterszenen und in Räumen, die mit dem Theater zu tun haben, wie der Kostümschneiderei oder in der Maske. Carolin Schmitz: „Was mich daran interessiert hat, war die Möglichkeit, dem Text nochmal eine andere Ebene zu geben als Probentext oder Aufführungstext“ [1].

Die Preise und Würdigungen für den Film kommen mit dieser hochartifiziellen wie transparenten filmischen Form bis heute nicht eindeutig klar. Die Vorauswahl des deutschen Filmpreises 2023 kategorisiert ihn als Spielfilm. Die Jury des Hessischen Dokumentarfilmpreises lobt ihn als Dokumentarfilm und gibt eine Empfehlung, ihn sich auf jeden Fall anzuschauen: „Eine kluge Filmkomposition, deren Wirkung noch lange nachwirkt, da wir uns intensiv mit ganz grundsätzlichen Begriffen rumschlagen müssen, wie: Mutter, Vater, Partnerschaft, Weiblichkeit, Kinder, Emanzipation, Schmerz und Entscheidungen“ [5].

Literatur

[1] Interview der Autorin mit Carolin Schmitz per E-Mail vom 20.03. und 21.03.2023.

[2] Überlassung des O-Ton-Transkripts, das auch als Arbeitsgrundlage für Anke Engelke diente, durch Carolin Schmitz am 21.03.2023.

[3] Gutting, Peter (2022): Interview mit Anke Engelke und Carolin Schmitz zu „Mutter“, 30.09.2022. Zugriff am 24.04.2023 unter www.cinetastic.de/2022/09/interview-mit-anke-engelke-und-carolin-schmitz-zu-mutter/.

[4] Kluge, Alexander (1999 [1975]): Die realistische Methode und das sogenannte „Filmische“, in Christian Schulte (Hrsg.), In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik (S.114–122). Berlin: Vorwerk 8.

[5] filmportal.de (2022): Hessischer Filmpreis für Dokumentarfilm geht an „Mutter“ von Carolin Schmitz, 25.11.2022. Zugriff am 24.04.2023 unter www.filmportal.de/nachrichten/hessischer-filmpreis-fuer-dokumentarfilm-geht-an-mutter-von-carolin-schmitz.

Zitation: Petra Schmitz: Wenn Mütter sprechen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 09.05.2023, www.gender-blog.de/beitrag/mutter-carolin-schmitz/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230509

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Petra Schmitz

Als Leiterin der dfi-Dokumentarfilminitiative in den letzten 20 Jahren mit der dokumentarischen Filmarbeit in allen Facetten beschäftigt, faszinieren mich Dokumentarfilme und Filme auch nach der Übergabe meines Amtes immer noch. Tätigkeit als freie Journalistin zu den Themen Film, Dokumentarfilm, Kultur, Ästhetik.

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