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Für einen gerechten Kanon? Nicole Seiferts „Frauen Literatur“

30. November 2021 Tina Hartmann

Wer hätte bis vor kurzem gedacht, dass es literaturwissenschaftliche Kanonfragen bis ins Sachbuchprogramm eines großen Publikumsverlages schaffen? In Frauen Literatur: abgewertet, vergessen, wiederentdeckt fragt Nicole Seifert, wie es sein kann, dass Literatur von Frauen im Kanon der Weltliteratur, namentlich im deutschsprachigen, so extrem unterrepräsentiert sind, obgleich es ab der Mitte des 18. Jahrhunderts an schreibenden Frauen durchaus nicht mangelte. Bereits die ersten Kapitel verdeutlichen die politische Brisanz des Themas, da der literarische Kanon seit der Antike wie ein Brennglas gesamtgesellschaftliche Übereinkünfte verdichtet.

„Frauen dürfen wohl über die ihnen zugewiesenen Themen sprechen – das, was Gerhard Schröder später ‚Gedöns‘ nannte –, aber nicht über Politisches. Sie dürfen sich nicht in die öffentliche Sphäre, die Domäne der Männer, vorwagen […]. Andernfalls droht ihnen Verächtlichmachung und Gewalt bis hin zum Mord – ebenso innerhalb dieser Werke, wie in der Gesellschaft, die sie repräsentieren“ (S. 24).

Doppelte Unterdrückung

Die von der feministischen Literaturwissenschaft analysierten Strategien zur Unterdrückung weiblichen Schreibens verdichtet Seifert auf die Bereiche Produktion und Rezeption. Schreibende Frauen hatten nicht nur gegen einen in der Regel ungleich schlechteren Bildungshorizont anzukämpfen, sondern überdies gegen den Widerstand von Ehemännern und Familie, die bis zu Marlene Haushofer das Schreiben einer Ehefrau und Mutter unangemessen fanden. Was Seifert dabei leider zu wenig berücksichtigt, ist, wie jenseits persönlicher Beziehungsgeflechte publizistisches Schreiben systematisch männlich definiert wurde und schreibende Frauen im 19. und 20. Jahrhundert als unweibliche, verantwortungslose ‚Blaustrümpfe‘ diffamiert wurden, ihre Kinder zu vernachlässigen. Mit der Konsequenz, dass bis zu Ingeborg Bachmann die Entscheidung für professionelles Schreiben häufig einhergehen musste mit der Entscheidung gegen Mutterschaft. Noch gravierender ist zweifellos die unterdrückte Kanonisierung. Seifert stellt überzeugend dar, wie die Literatur von Autorinnen doppelt abgewertet wird, indem zum einen die von ihnen beschriebene weibliche Lebenswahrnehmung im androzentrischen Weltbild marginalisiert und trivialisiert wird, zum anderen formale Experimente bei Autoren als Innovation, bei Autorinnen hingegen als Formfehler gewertet werden (S. 92–93).

Alles passé?

Wer glaubt, dies seien Probleme der Vergangenheit, irrt gewaltig. Zwingend ist daher Seiferts Anwendung der historischen Ausgrenzung auf die aktuelle Literatur. Sie gilt nicht nur für den doppelten Standard, mit dem eine misogyne Literaturkritik, angeführt von Marcel Reich-Ranicki, bis in die 1990er-Jahre weibliches Schreiben als „Menstruationsliteratur“ oder „Fräuleinwunder“ abwertete. Sie zeigt sich auch aktuell in forciert misogynen Verrissen etwa von Inger-Maria Mahlkes Roman Das Archipel, der 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt. Doch warum nennt Seifert ausgerechnet hier plötzlich keine Namen mehr und weist die direkten Zitate nur noch verklausuliert nach? Müssen auch diese Autorin und ihr Verlag die Macht der kritisierten Kritiker so sehr fürchten? „Dass Männer in Machtpositionen Autorinnen damit gedroht haben, sie in ihrer Sendung nie wieder zu besprechen oder sie nie wieder in ihrem Literaturhaus auftreten zu lassen, ist unter Autorinnen kein Geheimnis“ (S. 175).

Noch immer stehen in den großen Feuilletons besprochene Bücher im Unverhältnis von 47 zu 16 zuungunsten der Autorinnen (exemplarisch erhoben im April 2018, S. 34–35), obgleich sich das Verhältnis der Neuerscheinungen mit 60 (Autoren) zu 40 (Autorinnen) der Parität nähert. Doch die strukturelle Misogynie der Literaturbewertung, nach der Männer innovativ schreiben und Frauen einfühlsam zu schreiben haben, zeigt sich perfiderweise auch dort, wo mutmaßlich Frauen sitzen, die sie internalisiert haben: in Agenturen und Lektoraten. Seifert referiert das Experiment der amerikanischen Autorin Catherine Nichols, die ein Romanexposé 50-Mal jeweils unter männlichem und weiblichem Namen an Agenturen versendete. 17-Mal wurde der vermeintliche Autor um das Manuskript seines „gut konstruierten“ und „cleveren“ Romans gebeten, die Autorin ganze zwei Mal (S. 155–156).

Weibliche Literatur = weibliches Leben?

Doch auch wenn die Abwertung der weiblichen Lebenserfahrung als nicht kulturfähig eine gesamtgesellschaftliche patriarchale Dominanzstrategie ist, kann die Lösung nicht sein, die Misere weiblichen Lebens zum zentralen Thema weiblichen Schreibens zu erheben, wie Seifert als Grundtenor ihres Buches fordert. Denn eine solche Festlegung perpetuiert die Ghettoisierung unter emanzipatorischen Vorzeichen und damit das von Seifert angeprangerte Ungleichgewicht: Frauen schreiben für Frauen – Männer für alle (S. 35).

Der Fokus von Seiferts historischer Analyse auf die englische Literatur des 19. Jahrhunderts und deren Autorinnen mag ein Grund für die Lastigkeit der Argumentation im Realismus sein, der mit seinem Fokus auf Familie(n) und Gesellschaft eine besondere Affinität zu Themen weiblicher Lebenserfahrung bot. Seiferts Gegenüberstellung von Gabriele Reuters und Theodor Fontanes Darstellung weiblichen Scheiterns ist überzeugend (S. 87–89). Es ist daher umso bedauerlicher, dass sich daran nicht die Frage anschließt, ob weibliches Schreiben Kraft seiner Unterdrückungserfahrung subversiv und innovativ wird und ob daher Autorinnen wie Reuter, Minna Kautsky und Hedwig Dohm die naturalistischen Texte in deutscher Sprache gelangen, die sich anders als die von Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf und Arno Holz international messen lassen könnten? Stattdessen wird – in deutlicher Paraphrase auf Kindlers Literaturlexikon – Henrik Ibsens Nora referiert (S. 79).

Zu fragen wäre nicht, wo das Leben von Frauen dargestellt wird – auch Autoren haben sich über alle Zeiten weiblicher Hauptfiguren bedient. Zu fragen wäre vielmehr: Macht(e) es für Kritik und Kanonisierung den zentralen Unterschied, ob ein Autor – Fontane – oder eine Autorin – Reuter – die sexuellen und emotionalen Nöte einer bürgerlichen Ehefrau beschreibt? Bezeichnend daher vielleicht, dass Seifert eine in der deutschsprachigen Literatur fraglos kanonische Autorin überhaupt nicht erwähnt, mit der sich ihre Thesen gleich in mehrfacher Weise produktiv erweitern ließen: Marie von Ebner-Eschenbach schrieb neben bösen Bestandsaufnahmen weiblichen Scheiterns am familiären wie gesellschaftlichen Patriarchat auch die wohl erste Utopie einer Verbindung von weiblichem Beruf (bzw. Kunst) und Familie und brillierte in der männlich konnotierten Gattung des Aphorismus.

Autorinnen in einem gerechten Kanon

Weibliche, Schwarze, proletarische, migrantische … Gegenkanones aufzustellen, ist zwar die unmittelbare materiale Voraussetzung. Doch ein gerechter Kanon ist nicht zu erreichen, indem Andersartigkeit botanisiert wird. So bedeutsam die Literarisierung von Care-Arbeit, Menstruation und weiblicher Sexualität ist, dem Androzentrismus der Literatur ist nur beizukommen, indem Autorinnen aktiv alle Themen und Respekt für ihre formalen Innovationen einfordern. Schließlich sieht der weibliche Blick auf die Welt nicht nur die Frau. Ein gerechter Kanon muss fassen, wie die Literatur von Autorinnen in ihrer Zeit und nach den Kriterien des von Autoren gemachten Kanons formal innovativ ist, an dem sie allen Hindernissen zum Trotz partizipiert. Nur dann lässt sich entscheiden, was wirklich lesenswert ist.

Frauen Literatur: abgewertet, vergessen, wiederentdeckt von Nicole Seifert ist 2021 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Cover Frauen Literatur

Literatur

Nicole Seifert (2021). Frauen Literatur: abgewertet, vergessen, wiederentdeckt. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Zitation: Tina Hartmann: Für einen gerechten Kanon? Nicole Seiferts „Frauen Literatur“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 30.11.2021, www.gender-blog.de/beitrag/nicole-seifert-frauen-literatur/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20211130

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Prof. Dr. Tina Hartmann

Tina Hartmann ist Professorin an der Universität Bayreuth. Die Literaturwissenschaftlerin und Opernlibrettistin arbeitet u.a. zu Literatur des 18. Jahrhunderts, Librettologie, Gender und Diversity, kritische Kanonforschung, Literatur und Architektur, Literatur multilingualer Autor*innen. Publikationen u.a. Goethes Musiktheater (Niemeyer 2004) und Grundlegung einer Librettologie (De Gruyter 2017). Sie ist Herausgeberin der Singspiele und Abhandlungen für die Oßmannstedter C.M. Wieland-Ausgabe.

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