16. November 2021 Rita Schäfer
Am Sonntag, den 24. Oktober 2021, wurde der simbabwischen Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In ihren Werken setzt sie sich literarisch und cineastisch mit der Situation von Frauen in Simbabwe auseinander. Auch im realen Leben erhebt sie ihre Stimme.
Ihr frauen- und menschenrechtliches Engagement im postkolonialen Simbabwe, einem 1980 unabhängig gewordenen Staat im südlichen Afrika (Marx 2017), gilt politisch Verfolgten, die unter einem repressiven Regime (Schäfer 2012) sowie einer seit Jahren andauernden ökonomischen Abwärtsspirale täglich um ihre Existenz kämpfen müssen. Drakonische Gesetze und deren willkürliche Auslegung brachten insbesondere während der Corona-Krise und einem von Militär und Polizei kontrollierten Lockdown viele zivilgesellschaftliche Aktive in bereits überfüllte und völlig desolate Gefängnisse (Schäfer 2020).
Mit einem persönlichen Protest gegen die institutionalisierte Korruption forderte Tsitsi Dangarembga am 31. Juli 2020 Situationsverbesserungen (siehe Interview im ZDF). Umgehend wurde sie festgenommen, ihr wird Anstiftung zu öffentlicher Gewalt vorgeworfen. Im Dezember muss sie sich wieder vor Gericht verantworten, es ist die zehnte Anhörung.
(Post)koloniale Gewalt
Während ihrer Rede (siehe Dangarembga 2021) anläßlich der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche (siehe Video im ZDF) zeigte Tsitsi Dangarembga anschaulich die Strukturen (post)kolonialer Gewalt auf und benannte ausdrücklich deren geschlechtsspezifische Dimensionen, wie die Kontrolle über Frauenkörper. Konkret leitete sie heutige Gewalt aus den brutalen Machtstrukturen der Siedlerherrschaft her. Seit Ende des 19. Jahrhunderts beanspruchte die weiße Minderheit gewaltsam das Land, in den 1970er-Jahren führten junge Schwarze Frauen und Männer einen Unabhängigkeitskrieg gegen die rassistische rhodesische Regierung, benannt nach dem britischen Imperialisten Cecil Rhodes. In dieses Rhodesien wurde Tsitsi Dangarembga 1959 geboren.
Ihre Eltern zählten zu den wenigen Schwarzen mit einer akademischen Ausbildung, ihre Mutter war die erste Schwarze Frau mit einem akademischen Abschluss und während ihrer Kindheit lebte die junge Tsitsi mit ihren Eltern zunächst in Großbritannien. Englisch wurde zu ihrer Muttersprache – neben dem Shona, das sie erst lernte, nachdem die Familie wieder nach Simbabwe zurückkehrte. Diese Zweisprachigkeit und die frühe Nutzung des Englischen als Ausdrucksform beeinflusste später das Schreiben der jungen Frau (siehe Biografie in Postcolonial Studies @ Emory). Dafür musste sie den institutionalisierten Rassismus in einer kirchlichen Sekundarschule für Töchter der städtischen weißen Elite ertragen, die einzelnen Schwarzen Mädchen einen Ausbildungsplatz einräumte.
Bildungsideale und Realitäten
Bildung war damals nur wenigen Schwarzen vorbehalten, die Lehrkräfte, Prediger oder rangniedrige Verwaltungsmitarbeiter in der kolonialen Bürokratie werden sollten. Vor allem Schwarzen Mädchen (siehe Database on Gender in Sub-Saharan Africa) blieben Schulen meistens verschlossen. Diese strukturelle Diskriminierung, die auf der Verbindung von rassistischen mit sexistischen Stereotypen und Vorurteilen in der von weißen Männern dominierten Siedlergesellschaft beruhte und konservative Rollenmuster in der Schwarzen Mehrheitsgesellschaft verstärkte (Tsitsi Dangarembga im Interview mit Michael Roesler-Graichen), behandelt Tsitsi Dangarembga literarisch (Marabout).
Für ihren 1988 veröffentlichten Roman Nervous Conditions (in deutscher Übersetzung: „Der Preis der Freiheit“ (1991) und „Aufbrechen“ (2019)) erhielt sie 1989 den Commonwealth Writer’s Prize (Basu 1997), 2018 wurde er in die BBC-Liste der 100 besten afrikanischen Bücher aufgenommen. Er war der erste Roman einer Schwarzen Autorin in Simbabwe, für den Dangarembga in ihrem Mutterland zunächst keinen Verlag fand und der zuerst bei Women’s Press in London erschien. Er bildete den Auftakt zu einer Trilogie, denn 2006 folgte The Book of Not (Chigwedere 2016) und 2018 This Mournable Body (in deutscher Übersetzung: „Überleben“ (2021)); dieser Roman wurde 2020 für den Booker Prize nominiert. 2021 erhielt die Autorin den PEN International Award for Freedom of Expression und den PEN Pinter Prize für ihr Gesamtwerk.
Tambudzai-Trilogie
Die junge Protagonistin der Trilogie, Tambudzai (Coetzee 2020), ein Shona-Wort für Frauen in familiären Problemsituationen, kommt aus dem ländlichen Milieu mit konservativen Normen und Rollenerwartungen an Mädchen. Im Roman Nervous Conditions verlässt sie ihr Elternhaus, um bei einem Onkel zu wohnen und eine Missionsschule zu besuchen – doch der Aufbruch zu befreiender Bildung bringt neue disziplinierende Beschränkungen mit sich. Das anschließende Ausbrechenwollen aus unterdrückerischen Machtstrukturen – und sei es nur aus dem eigenen Körper (Bahri 1994) durch Magersucht – durchzieht den Roman. Es ist das erste Buch, das diese psychische Krankheit in (post)koloniale Kontexte einordnet und die Folgen der wechselseitigen zerstörerischen Verstärkereffekte von Patriarchat und Kolonialismus für Schwarze Simbabwerinnen literarisch veranschaulicht.
Die alltägliche Konfrontation mit strukturellem Rassismus im herablassenden Verhalten älterer weißer Frauen und gleichaltriger Mädchen (Habila 2006), erdrückender Konservativismus in der Schwarzen Bildungselite und ländlichen Gesellschaft, der Kampf um weibliche Selbstbestimmung und gegen Selbsthass auf die eigene Hautfarbe sowie verunsichernde Minderwertigkeitsgefühle (Chigwedere 2016) sind Themen in The Book of Not. Im Schlusswerk der Trilogie, This Mournable Body, ist die Protagonistin Tambudzai, kurz Tambu, wie gelähmt, sie zieht sich in heruntergekommene Räume zurück.
Selbsthass und Selbstbestimmung
Ihr von Versagens- und Schuldgefühlen zerfurchtes Innenleben ist so verfallen wie die Zimmer, in denen sie vor sich hin döst, und das urbane Umfeld, in dem der Roman verortet ist. Ihre Psyche, die langlebiger Rassismus und unerfüllbare Rollenerwartungen gebrochen haben, wird von Wahnvorstellungen erschüttert. Bleischwer drückt die politische Repression auf bereits bestehende Familienkonflikte, demütigende Diskriminierungserfahrungen und multiple Anfeindungen. Denn die Herrschenden regieren seit Jahrzehnten paranoid. Das schlägt sich in gewaltsamen Umgangsformen nieder, etwa in der korrumpierten Geschäftswelt und im ruinierten öffentlichen Raum (Niemi 2021).
Veränderungen seien nur durch eigenes Handeln möglich, meint die Autorin und ruft alle Mitbürger_innen dazu auf. Wer autobiografische Züge in den Werken von Tsitsi Dangarembga sucht (Dangarembga 2020), sollte berücksichtigen, dass sie nach einem erfolgreichen Schulabschluss zunächst in Cambridge Medizin studierte – in ihrer Heimat wurde damals der Unabhängigkeitskrieg ausgefochten. Anschließend begann sie in Harare ein Psychologiestudium.
Theaterarbeit und cineastisches Werk
Dort wirkte sie in der Theaterkompanie Zambuko mit, schrieb Theaterstücke und leitete Inszenierungen. Die vielseitige Künstlerin kam 1989 für ein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie nach Berlin, 1992 gründete sie ihre eigene Filmproduktionsgesellschaft Nyerai. Zu ihrem reichen cineastischen Werk zählen Neria (1993) und Everyone’s Child (1996). Für Neria, über eine couragierte junge Witwe, schrieb sie das Drehbuch. Everyone’s Child war Dangarembgas eigene Produktion, er handelt von AIDS-Waisen im ländlichen Simbabwe. Der Kurzfilm Kare Kare Zvako (A long time ago/Mothers day) wurde international ausgezeichnet, beispielsweise 2005 auf dem Zanzibar International Film Festival und auf dem Filmfestival in Milano. Ein Jahr später wurde Petera Maneta (Spell my name) beim Filmfestival in Sansibar preisgekrönt. Diese Kurzfilme thematisieren Gewalt gegen Mädchen und Frauen – ein gesellschaftliches Strukturproblem.
Tsitsi Dangarembga ist Geschäftsführerin der Vereinigung simbabwischer Filmemacherinnen und zählt zu den Gründerinnen des Frauenfilmfestivals in Harare. Als Gründungsmitglied des Institute for Creative Arts for Progress in Africa (ICAPA) fördert sie junge Künstlerinnen (siehe African Film Festival New York); zu den gemeinsamen cineastischen Produktionen zählen Filme, in denen Frauen über erlittene geschlechtsspezifische Gewalt berichten. Das Motto „Zimbabwean women speak out“ – also selbst das Wort ergreifen – ist in einer Gesellschaft unter einem repressiven Regime, das die eigenen Bürger_innen mit allen Mitteln mundtot machen will, eine starke Wortwahl. Junge Frauen erheben ihre Stimme; Tsitsi Dangarembga ist sich ihrer Vorbildfunktion bewusst.
„Wir sind, daher denken wir“
Reflexionen über die Macht von Worten durchzog auch die Dankesrede der Preisträgerin in Fankfurt (siehe TAZ). Darin rief sie zur grundlegenden Änderung etablierter Denkmuster auf (siehe Cronau 2021), für eine neue Aufklärung im Sinne: „Wir sind, daher denken wir“. Sie integrierte die Intervention der Vorsitzenden des Kulturausschusses der Stadtverordnetenversammlung Frankfurt/Main, Mirrianne Mahn, die spontan auf die Bühne kam und das Paradox thematisierte, dass eine Schwarze Frau den Friedenspreis erhält, während Schwarze Autorinnen ihre Teilnahme auf der Buchmesse abgesagt haben, weil sie sich nicht willkommen und sicher fühlten. Es gab zuvor Drohungen von gewaltbereiten Rechten und Debatten über die Präsenz rechter Verlage auf der Buchmesse sowie die Deutung der Meinungsfreiheit. Abschließend forderte die Laudatorin, Dr. Auma Obama, die deutsche Zuhörer_innenschaft auf, mehr afrikanische Literatur zu lesen und den eigenen Horizont zu erweitern. Beherzigen wir es!
Literatur
Bahri, Deepika (1994). Disembodying the Corpus: Postcolonial Pathology in Tsitsi Dangarembga's ‘Nervous Conditions’. Postmodern Culture, 5(1). doi.org/10.1353/pmc.1994.0046
Basu, Biman (1997). Trapped and Troping: Allegories of the Transnational Intellectual in Tsitsi Dangarembga's “Nervous Conditions”. ARIEL: A Review of International English Literature, 28(3), 7–24.
Chigwedere, Yuleth (2016). Being and Nothingness: Trauma, loss and alienation in Tsitsi Dangarembga's The Book of Not. Journal for Studies in Humanities and Social Sciences, 169–183. abgerufen am 04.11.2021 unter journals.unam.edu.na/index.php/JSHSS/article/view/1045.
Coetzee, Carli (2020). Tsitsi Dangarembga’s Tambudzai Trilogy and the Work of Mourning. Journal of African Cultural Studies, 32(4), 442–445. doi.org/10.1080/13696815.2020.1711714
Cronau, Sabine (2021). Tsitsi Daragembda: "Wir brauchen eine neue Aufklärung", Börsenblatt, 23. Okt. abgerufen am 04.11.2021 unter www.boersenblatt.net/news/boersenverein/tsitsi-dangarembga-wir-brauchen-eine-neue-aufklaerung-211149
Dangarembga, Tsitsi (2020). Writing as Witnessing: The Tambudzai and Nyasha Trilogy. Journal of African Cultural Studies, 32(4), 467–470. doi.org/10.1080/13696815.2019.1704700
Habila, Helon (2006). In Time of War. Rezension Tsitsi Dangarembda. The Book of Not, Banbury: Ayebia Publishing. abgerufen am 04.11.2021 unter www.theguardian.com/books/2006/nov/04/featuresreviews.guardianreview20
Literature Database on Gender in Sub-Saharan Africa, Literature regarding Zimbabwe. abgerufen 04.11.2021 unter www.gender-africa.org/country.php
Marx, Christoph (2017). Mugabe. Ein afrikanischer Tyrann. München: C.H. Beck.
Niemi, Minna Johanna (2021). Critical Representation of Neoliberal Capitalism and Uneven Development in Tsitsi Dangarembga’s This Mournable Body. Journal of Southern African Studies, 47(5), 869–888. doi.org/10.1080/03057070.2021.1959118
Roesler-Graichen, Michael (2021). Das Thema Armut, Geschlecht und Klasse ist universal. Interview mit Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga. abgerufen am 04.11.2021 unter www.boersenblatt.net/news/das-thema-armut-geschlecht-und-klasse-ist-universal-182971;
Schäfer, Rita (2012). Gender und autoritäre Herrschaft in Zimbabwe. Femina Politica 1/2012, S. 86-97.
Schäfer, Rita (2020). Die intensivierte Repression - Die Corona-Krise im Post-Konfliktland Simbabwe. IZ3W 379 (Juli/ August 2020).
Zitation: Rita Schäfer: Tsitsi Dangarembga – Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2021, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 16.11.2021, www.gender-blog.de/beitrag/tsitsi-dangarembga-preistraegerin/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20211116
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